Florence Siwak

Rache tut gut

 
Der Anruf aus dem Krankenhaus kam, als Tina gerade ihre hochhackigen Pumps in die Ecke gefeuert hatte.
„Ja, ich komme vorbei. Ja, heute noch“ murmelte sie und stellte die Cognacflasche bedauernd wieder auf die Anrichte zurück.
Der Verlagstermin war gut gelaufen und ihr Einkommen für die nächsten Monate war erst mal gesichert. Seit sie die Krimis bedauernd in
den Hintergrund geschoben hatte und sich auf sogenannte “Erfahrungsberichte“ beschränkte, wurde sie sogar von ihrem Agenten ernst
genommen und der Vorschuss war die Qual der highheels durchaus wert.
Aber der Besuch im Krankenhaus sollte der Höhepunkt werden! Höhepunkt eines verkorksten 40-jährigen Lebens!
Wie lange hatte sie darauf gewartet – auf diesen Moment!
Eiskalt wollte sie ihm ihren Plan ins Gesicht schleudern. Eiskalt und von oben herab, so wie er mit seiner Familie gesprochen hatte –
vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war, das sich aus Angst in die Hose machte, weil sie wusste, ihr Großvater würde
strafend auf sie losgehen. Er war wie Gott für seine Familie. Nein – nicht  w i e  Gott, er war Gott!
 
Und nun? Klein und verschrumpelt lag er vor ihr in dem kurzen Krankenhausbett.
„Nicht zu lange, strengen Sie Ihren Opa nicht zu sehr an“ hatte die Krankenschwester mit gnadenloser Munterkeit über die Schulter gerufen.
 
Dieser „Opa“ hatte damals bestimmt bedauert, dass die Familie so klein war; sein Herrschaftsbereich war dadurch eingeschränkt, vor allem,
als sich ihr älterer Bruder ihm „entzogen“ hatte. Er war überfahren worden, als er wieder einmal weggelaufen war. Sie konnte es nicht fassen,
dass Lars sie nie wieder in die Arme nehmen und trösten würde. Und auch heute noch wachte sie oft mit einem Lächeln auf, bereit, mit ihm zu
scherzen, Geheimnisse zu teilen.
Da war keiner mehr!
Ihre Mutter? Die hatte ihrem Vater keinen Genuss bereitet.
„Zu wenig Widerstand“ hatte er einmal spöttisch gemeint zu seiner Frau.
„Zu wenig Widerstand ist unbefriedigend!“
Im Amt war sein Tätigkeitsfeld zwar etwas größer – ein gutes Dutzend Leute hatten den Boden zu küssen, den er betrat – zu weit konnte er es aber
nicht treiben, was er genau wusste, er hatte seine Wutanfälle – meistens jedenfalls – unter Kontrolle.
 
Sie blieb am Fußende stehen und musterte ihn.
Zuletzt hatte sie ihn vor zwei Wochen gesehen, als sie ihm einige Toilettenartikel ins Krankenhaus gebracht hatte. Er hatte ihre Telefonnummer
in der Aufnahme als Kontakt angegeben; sie war ja auch die einzige, die von der recht kleinen Familie noch übrig war. Er war eben Gott –
er hatte sie alle überlebt. Bis auf sie!
‚Keine besonders widerstandsfähige Familie‘, dachte sie spöttisch.
Nach dem Tod ihres Bruders hatte sich auch bald ihre Mutter aus dem ‚Staub gemacht‘ und sie allein mit ihren Großeltern zurück gelassen,
mutterseelenallein sozusagen! Nicht, dass sie ihr eine große Hilfe gewesen war, aber immerhin war noch jemand da gewesen.
Ihr Vater? An ihn hatte sie nur eine vage Erinnerung.
Nach seinem frühen Krebstod zog die kleine Familie bei den Großeltern ein; war ja auch bequem. Und ihr Großvater hatte sich so gefreut!
Klar doch, dachte sie. Endlich hatte er wieder Material zum Verformen. Heute wusste sie das, aber damals schien ihr die Gegenwart fürchterlich.
Und die Zukunft? So weit weg, unerreichbar fast. So als ob sie nie kommen würde – die wunderbare Zukunft ohne Kerkermeister.
 
Für ein Kind zählt doch Zeit so viel länger.
 
„Weißt du noch, Großvater, wie du gelacht hast – an meinem 6. Geburtstag? Es war aber auch zu lustig!“
Er wollte etwas erwidern und grunzte.
„Pst“ flüsterte sie und legte ihren Zeigefinger auf seine aufgesprungenen, bläulichen Lippen.
„Still, nicht aufmucken, Großvater, sie könnten dich hören…!“ Sie zeigte auf die Tür und seine Augen folgten ihrem Finger wie hypnotisiert.
„Das Ei war wirklich verdorben! Ich wäre fast gestorben. Aber lustig war es schon, als ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe und Oma
mir nicht helfen durfte, den Mist aufzuwischen. Und was hast du dem Arzt gesagt?“ Sie schnippte mit den Fingern. „Ach ja, ich hätte wieder
mal heimlich gegessen; was Verdorbenes. Ich böses Mädchen…“
 
Tina wischte sich mit der Hand über die Augen. Verdammt, jetzt heulte sie doch noch.
 
„Damals wünschte ich mir so manches Mal, ich wäre gestorben. Lars war der einzige, der wusste, wie es in mir aussah.
Oma hat nur geweint und mir den Kopf gestreichelt. ‚Es ist nur zu deinem besten‘ sagte sie damals. ‚Du wirst sehen, irgendwann…‘
Und Mama?“
Tina hatte einen Schluckauf bekommen.
„Mama? Die hat sich in ihre Arbeit geflüchtet und kam jeden Tag später, weil sie von uns nur verheulte Gesichter gesehen hat.“
Sie runzelte die Stirn. Die beiden Frauen, die doch neben ihrem Bruder, die wichtigsten in ihrem Leben sein sollten, waren wie Schatten für sie.
Gerade jetzt – am Krankenbett – waren ihr gerade wieder die Gesichter entglitten. Sie schaffte es nicht, sich zu erinnern. Immer wieder schob sich das
Gesicht „Gottes“ dazwischen. Wie er damals war. Jünger, kraftvoller, wütend.
 
Es gruselte sie noch heute, an ihrer eigenen Speisekammertür vorbei zu gehen. Zuhause hatte sie sich meist in der Kammer in „Gottes“ Wohnung versteckt.
Er hatte sie natürlich gefunden – immer – und an den Haaren hervor gezerrt. Sie durfte sie nicht abschneiden; sie waren lang und dicht. Dann -
jedes Mal dasselbe Ritual.
 
Er hielt sie fest mit seinen sehnigen Händen und schleuderte ihr ihre Missetaten ins Gesicht. Nein, nicht ins Gesicht. Er flüsterte nur –
die Wohnung war hellhörig und die Nachbarn neugierig; das Fernsehprogramm lief noch nicht den ganzen Tag – und sein Gesicht, sein Mund
kam ihr immer näher. Sie konnte seine langen gelblichen gerillten Zähne ganz deutlich erkennen. An diesem Anblick konnte sie sich orientieren.
Wenn seine Speicheltropfen sie trafen, ließ er sie meist los.
Noch einmal kurz durchgeschüttelt – wie ein Martini konnte sie heute spöttisch denken – und dann ließ er sie frei. Frei! Für die kurze Zeit, die er
brauchte, um seine Wut wieder hochzuschaukeln.
 
Später hatte sie sich damit getröstet, dass diese schlimmen Jahre Bonuspunkte waren für ihr „Fegefeuer-Konto“ im Jenseits.
 
Bis sie zehn war, hatte Lars, ihr älterer Bruder, viel auf sich gezogen, sehr viel. Oft hatte er abends den Großvater gereizt, damit er seine Portion
Prügel verteilen konnte und sie ungeschoren ließ. Dann aber – kurz vor seinem 13. Geburtstag – lief er eines Nachmittags weinend vor Zorn aus
dem Haus und kam nicht mehr zurück.
„Überfahren“ hatte ihr ihre Mutter mitgeteilt, voller Selbstmitleid.
Tina erinnerte sich noch an seinen 12. Geburtstag. Ein Freund ihres Großvaters aus dem Schützenverein, einer seiner Bewunderer, war auf
einen kleinen Umtrunk vorbei gekommen und hatte Lars kumpelhaft – wie er dachte – gratuliert.
„Genieß deine Kindheit, mein Junge. Was nachkommt, taugt nichts mehr“ hatte er weinerlich geschnüffelt. „Ich wünsche Dir, dass du nie 13 wirst…“
‚Naja‘ dachte sie bitter‚ d e r Wunsch ist ja nun in Erfüllung gegangen!‘
 
Tina schauderte und strich sich über ihre zentimeterkurzen Haare. Sie würde sie sich wachsen lassen – wenn alles vorbei war.
Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie kühl den Körper in dem Krankenhausbett betrachtete. So groß, wie sie ihn in Erinnerung hatte, war
er gar nicht mehr. Nicht größer als sie jedenfalls. Er war nur ein Körper, sie hatte sich abgewöhnt, an ihn als ihren Großvater, als einen Menschen zu denken.
Auch an Gott dachte sie nicht mehr.
Seine geäderten mageren Hände mit den gebogenen klauenartigen Nägeln, strichen über die Decke und zupften fiebrig daran. Milchige Augen, die nur noch
entfernt an den Raubvogelblick voll Zorn erinnerten, mit dem er ihr – und nicht nur ihr –die Hölle bereitet hatte , erfassten sie kaum.
Wollte er sich vielleicht entziehen, vor ihrer Rache flüchten?
Doch – er hatte sie erkannt! Seine Augen taumelten nicht mehr in dem ausgemergelten Schädel; sie hatten sie erfasst.
„Tina“ krächzte diese schreckliche Stimme – nun ganz klein, fast flehend.
Tina zog den Stuhl neben das Bett, nahm seine linke Hand zwischen ihre beiden, beugte sich zu ihm hinunter und sprach leise, fast zärtlich zu ihm.
Sie erzählte ihm von ihrem Vertrag über ihr neues Buch.
„Mein Leben – weißt du. Meines und das von Lars und meiner Mutter, der Oma und auch deines. Eine Biographie soll ich schreiben.“
Röcheln entrang sich seiner Kehle.
„Pst, nicht so laut, Großvater. Die Türen sind doch so dünn. Und die Schwestern sind so neugierig. Wir wollen doch keinen stören. Weißt du doch.
War doch bei uns zu Hause auch immer so!“
‚Tolles remake‘ dachte sie. ‚nur, dass ich diesmal die Hauptrolle spiele.‘
Seine Augen irrten an ihr vorbei.
Er schien sich nicht wiederzuerkennen. Erinnerte er sich nicht mehr daran? dachte sie entsetzt. Hat er sich schon zurückgezogen. War sie zu spät?
Nein, seine Pupillen hatten sich geweitet, als ob ein Vorhang zur Seite gezogen wurde. Er hatte zurück gefunden; erkannte sich wieder und auch sie!
 
„Nein,“ krächzte er und seine Hände krallten sich um ihre. „Nein, nicht. Bitte!“
„Ist doch schön, Großvater“ flüsterte sie mit seidenweicher Stimme. „So vergisst man unsere Familie nicht. Und – wäre es nicht nett, wenn ich deinen
Freunden, die noch leben und ihren Kindern auch ein Exemplar schenken würde?“
Sie klatschte freudig erregt in die Hände, als ob ihr dieser Einfall erst jetzt gekommen wäre.
„Ja, das mache ich. Die Autoren bekommen ja immer einige Freiexemplare und die verteile ich dann. O – wie ich mich freue.“
Sie sprach so überzeugend und voller Überschwang über dieses Buch, das nie geschrieben würde, dass sie fast glaubte, was sie ihm da erzählte.
„So“ drückte sie abschließend seine Hände. Das war’s schon. Du hast ja alles, was du brauchst. Ich gehe dann mal.“
Sie verließ hastig den Raum, spürte seine Blicke im Rücken, hörte seine dünne Stimme und wartete auf die Befriedigung, die Befreiung.
Vergeblich. Leere spürte sie. Bald niemand mehr da, den sie hassen konnte.
Niemand zum Lieben, keine Haare zum Kämmen und keine Biographie zum Schreiben.
 
Fallbeispiele aus der Kinderpsychologie waren es, die ihr den Lebensunterhalt für die nächsten Monate sichern würde, keine Biographie.
Sie würde sich wohl auch schämen, die Erlebnisse niederzuschreiben, die Familie, sich selbst, bloßzustellen.
Sie setzte sich in der Besucherecke ans Fenster und blickte in den grauen Nachmittag hinaus. Heute früh lag noch Sonnenschein über der Stadt.
‚Schicksalswette‘ dachte sie. ‚Ich warte 10 Minuten und gehe wieder rein. Vielleicht entscheide ich mich ja dafür, ihn ruhig sterben zu lassen. Mal sehen.‘
 
Nach 10 Minuten stemmte sie sich müde hoch und ging die paar Schritte zu seiner Zimmertür.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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