Michael Reißig

Der Engel des kleinen Tom

Der kleine Tom ist so furchtbar traurig. Im Kindergarten hat er keine Freunde. Keiner mag ihn, keiner möchte mit ihm spielen. Warum weiß er selbst nicht. Weil er tatsächlich viel kleiner ist als die anderen? Weil er viel zu ruhig ist, kaum mal ein Wort sagt, vielleicht auch weil er dünn wie ein gerade erst aus dem Boden gedrungener junger Grashalm ist?
Diego, dieser große Bengel hatte es oft schon auf ihn abgesehen. Manchmal riss er ihm das Spielzeug so einfach aus seinem warmen Händchen, manchmal puffte er ihn einfach mal zur Seite und schrie: „Hau ab, du doofe Ratte!“ und andere hatten nichts weiter im Sinn als darüber auch noch schallend zu lachen...

Doch heute, an diesem heißen Vormittag, scheint Diego besonders wütend. Ohne Vorwarnung schmettert der braungebrannte Junge mit den kurzen Locken sein Lieblingsspielzeug, ein grünes Polizeiauto, gegen seine nackten Unterschenkel.
Befangen von höllischer Angst stößt Tom einen wilden Schrei aus und fängt sofort an zu weinen, während die anderen erneut anfangen zu lachen.
Kindergärtnerin Dagmar schiebt Diego erbost zur Seite und schimpft wie ein Rohrspatz:
„Ich habe dir doch schon sooft gesagt, dass du Tom nicht ärgern sollst!“
Nun endlich verstummt dieses spöttische Gelächter...

Viele Tage und Wochen sind seitdem vergangen. Den Kindern in seiner Gruppe war immer noch nicht die Lust vergangen, ihn mächtig zu ärgern.
Doch an einem schönen Herbsttage schwebte plötzlich ein leuchtend gelber Engel mit riesengroßen Flügel durch das am weitesten geöffnete Fenster, hinein, in den mit wunderschönen bunten Sternchen geschmückten Raum, in denen die Kinder gerade vergnüglich toben und spielen, bis auf Tom, der ein wenig weg von den anderen steht und weint. Erst gestern hat Diego Tom so sehr gegen den Nacken geschlagen, dass er hilflos zu Boden gesunken ist. Am liebsten wäre er überhaupt nicht mehr in den Kindergarten gegangen, doch Mama und Papa haben unbedingt gewollt, dass Tom auch weiterhin in den Kindergarten geht.
Tom, aber auch all die anderen Kinder, die soeben noch freudig, wenn auch viel zu laut, gespielt haben erschrecken mächtig, als dieser entzückende Engel mit seinen großen, mit seinen gutherzig leuchtenden Augen auf Anhieb neben Tom landet.
Warum hat sich der Engel ausgerechnet zu dem kleinen Tom gesellt? Woher weiß er denn, dass es dem Kleinen so schlecht ergeht?
„Komm doch mit, mein lieber kleiner Tom! Ich nehm' dich mit! Flieg doch mit mir in den Himmel!
Da leben nur gute, artige Kinder, die genauso lieb sind wie du!“
„Ich will aber nicht in den Himmel!“, schimpft der total verängstigte Junge, während nun ein noch stärkeres Meer von Tränen den Weg aus seinen wunderschönen blauen Augen, deren Lider auffällig zucken, sich bahnt.
Keiner sagt etwas. Selbst Diegos frecher Mund bleibt stumm wie ein Fisch. Selbst dann nicht als Dagmar liebevoll zu dem Jungen sagt:
„Flieg doch mit ihm in den Himmel! Wir alle werden einmal in den Himmel kommen. Selbst Diego wird dir noch in den Himmel folgen!“
Im Raum ist unheimliche Stille eingezogen. Lediglich Toms hastige Atemzüge sind noch deutlich zu hören.
In diese Stille hinein, spannt der Engel entschlossen seine Flügel, umklammert Tom fest und schwebt mit ihm hinaus, in die endlosen Weiten, die weit über den Horizont hinaus gehen.
In einer weiten total ausgetrockneten Steppe, in der nicht mal kleinwüchsige Bäumchen sich verirrt haben, dafür aber eine riesige Kapsel thront, die aussieht wie eine ungewöhnlich breite Tonne, auf der ein langes, schlankes Rohr mit einer aufgesetzten Spitze wie bei einem Bleistift sitzt, setzt der Engel mit majestätischen Schwüngen zur Landung an.
„Mein lieber Tom! Steig mit mir ein! Gleich beginnt unsere Reise in den Himmel. Mühsam und total unruhig zwängen sich die beiden in dieses merkwürdige eiserne Ding, das etwa so hoch ist wie ein Haus mit drei Fensterreihen.
Mühsam duckend zwängen sich die Himmelsreisenden, vorbei an einem schmalen Labyrinth von Drähten und unzähligen Apparaten, an denen unzählige Leuchtziffern blinken, bis sie schließlich an einem weich gepolsterten Sessel angelangt sind.
Geduldig schlüpft der Engel in einen roten Anzug, und stülpt dazu noch einen großen Helm über, auf dem sogar winzige gelbe Sternchen blinken.
Mit sorgenvollen Augen reicht er Tom einen dick gepolsterten Anzug und hilft ihm geduldig beim Schlüpfen in dieses seltsam aussehende Kleidungsstück.
„Wozu brauchen wir diesen Anzug und diesen Helm?“, fragt der ungeduldig zappelnde Tom mit großen Augen.
„Das schützt uns vor diesen schrecklichen Teufel und den anderen bösen Geistern.“
Der Engel streichelt liebevoll den Hinterkopf des Jungen, um ihn ein wenig zu beruhigen.
Dann tastet der Engelspilot nach mehreren Schalthebeln und kurz danach setzt ein gewaltiges Zischen ein, und das so laut, dass Tom prompt erschrickt. Gleichzeitig dringt ein heller Schein in das Sichtfeld seiner angstvoll flackernden Augen. Spontan fängt der Knirps an zu weinen.
Doch Zeit zum Nachdenken hat er nicht, denn in diesem Augenblick hebt sich dieses voller Geheimnisse steckende Ungetüm von der Erde ab und schießt mit unvorstellbarem Tempo gen Himmel.
Wie von selbst fangen die beiden an zu schweben. Tom fühlt sich so leicht wie eine Papageienfeder. Seine ungeheure Angst hat sich auf einen Schlag auf- und davongemacht. Tom gerät sogar richtig ins Schwärmen, erst recht als er vorbei an tausenden von Sternen, aber auch und an vielen anderen unbekannten Göttern des Himmels, die den beiden ein wohlwollend freundliches Lächeln schenken, schwebt. Toms Augen leuchten wie die vor ihm schmunzelnden Sterne...
Tagen und Wochen erlebt er das so, und mittlerweile hat sich Tom nicht nur auf diese sagenhafte Leichtigkeit im Raume eingestellt, sondern auch auf das ungewohnte Essen und Trinken aus Tuben, die deshalb vonnöten sind, da ansonsten alle festen Speisen wie Kartoffeln, Äpfel, Birnen und vieles andere mehr, in diesen außerirdischen Himmelsphären, in denen nichts nach unten fällt, so wie es auf unserer Erde schon immer geschehen, wild durcheinander wirbeln würden...

Völlig unverhofft ertönt ein heftiges Summen. In diesem Moment fangen alle Kontrolllämpchen auf einmal an zu blinken. Auch die vielen bunten Ministernchen, die auf dem Helm des Piloten kleben, blinken nun in den aller schönsten Farben.
Wird diese entsetzliche Angst, die Tom seit dem Eintritt seines Körpers in die Schwerelosigkeit verlor, nun doch wieder einholen?
Es scheint so zu sein. Er fühlt, dass sein ganzer Körper ganz allmählich wieder schwerer wird, obwohl er immer noch, wenn auch etwas beschwerlicher - wie von einer Geisterhand gesteuert - durch den Raum segelt
„Brauchst keine Angst zu haben. Bald sind wir am Ziel unserer Wünsche angelangt. Wir müssen jetzt unbedingt vor zu unserem Sessel uns bewegen, da wir bald nicht mehr schweben können.“
„Und warum können wir bald nicht mehr schweben?“
„Das ist nun mal so, wenn man auf einen anderen Stern sich begeben möchte, der immer näher rückt. Dieser hat eine Anziehungskraft, die so ähnlich wie die auf unserer Erde ist. Deshalb schwebt auch nichts auf auf diesem hellen Stern der Liebe und des Glückes, auf dem wir bald landen werden“...
In unmittelbarer Nähe des Sessels klammern sich die beiden an einem der vielen Kabelschächte fest, solange bis sie wieder festen Boden unter den Füßen haben werden..
Beide werden schwerer und schwer und als ein gleißender Schein durch das Fenster bricht, sacken Tom und sein gefiederter Geselle wie wie von selbst in die beiden flauschigen Sesseln.
In diesem Moment bricht der tapfere Junge, der sich plötzlich wieder so schwer wie ein bis zum Rand gefüllter Sandsack fühlt, in bittere Tränen aus, die wehmütig aus seinen gütigen blauen Augen kullern.
Wie gern wäre er noch an diesen tausenden Sternen vorbeigerauscht, doch es sollte nicht sein. Besorgt fragt sich der kleine Tom, wie es auf diesem Stern, der so anders sein könnte als unsere alte Erde, wohl sein könnte.
Tom schreckt plötzlich auf. Er glaubt, eine Stimme gehört zu haben, eine Stimme, die ihm so vertraut vorkommt.
Diese Stimme ist in seine Ohren mit den Worten: „Mach dir nur nicht so viel Sorgen! Dein Engel ist stets bei dir!“, gedrungen. Tom kennt diese Stimme, denn es handelt sich um Mamas sanfte warmherzige Stimme.
„Doch Mama ist doch nicht hier, die ist doch zuhause, auf unserer Erde!“ denkt Tom im Verborgenen.
„Mama, wo bist du!“fleht der weinerliche Knirps.
Doch der Engel antwortet nicht, er konzentriert sich, während die beiden kräftig durchgeschüttelt werden und es schrecklich zischt, voll auf die Landung.
Plötzlich wird es ganz still und Toms zarte Augen fangen ein Strahlen ein, das Strahlen des blauen Himmels, aber auch das Strahlen des nahegelegenen Ozeans. Er scheint zufrieden und glücklich...
Als die beiden - die sich erst wieder an die Schwerkraft, die unserer Erde sehr ähnelt, gewöhnen müssen - schweren Schrittes aus dem Raumschiff klettern, umsäumen viele Menschen, die so anders aussehen wie die Menschen auf unserer Erde, die beiden. Sie reißen jubelnd die Arme gen Himmel und manche tönen unverdrossen „Heywiko, Hewiko!“, was nichts anderes heißt als Herzlich Willkommen, was Tom natürlich nicht versteht, sein Weggefährte schon, da er schon oft auf diesem Stern zugegen war, um neue Freundschaften zu schließen.
Die Sprache auf diesem Stern ist so herrlich einfach. So müssen sich die Kinder, für die es selbstverständlich ist, genau zur rechten Zeit in der Schule zu sein, nur die Bedeutung von Punkten, Strichen, eckigen und runden Klammern, die, um diese zu unterscheiden, verschieden groß und stark sind, einprägen. In jedem dieser Zeichen steckt ein ganzes Wort. So fällt es dem Neuankömmling nicht allzu schwer, diese neue Sprache zu erlernen und sein beflügelter Freund, der dieser Sprache schon seit Langem bemächtigt ist, hilft ihm mit all seinen Kräften, so wie es sich für einen wahren Engel gehört...
Einige Wochen sind vergangen.
Tom gewöhnt sich erstaunlich schnell an sein neues Leben. Er gewinnt bereits in den ersten Tagen viele Freunde auf diesem Stern, der so anders ist, der in der Sprache dieses Stammes Libigo heißt, was nichts anderes heißt als Stern der Liebe. Die natürliche Wärme in den Herzen dieser Menschen - die viel kleiner gewachsen sind als die Menschen auf unserer Erde, deren Gesichter kugelrund auf ihren schmalen Körpern sitzen, die viel breitere Nasenflügel haben, deren Augen allesamt seitlich aus ihren Gesichtern strahlen, was ihnen die großartige Chance eröffnete, nach allen Richtungen zur selben Zeit schauen zu können - hat Tom bereits vom ersten Tage seines Aufenthaltes an gespürt.
Jeder hilft wo er kann. Ein jeder steht für den anderen ein. Jene Spötter und Neider, die nur darauf bedacht sind, andere Menschen nach Strich und Faden zu ärgern, sucht man vergebens auf diesem traumhaften Stern der Liebe.
All seine Bewohner ernähren sich ausschließlich von Baumfrüchten, von Pflanzen und von Heilkräutern, die zwar anders geformt sind als die auf der Erde, die aber genauso lecker schmecken. Die Ernte bringen alle gemeinsam ein. Drückeberger, die gibt es nicht. Und wenn ein Arbeiter mal nicht so flott auf den Beinen ist, weil stechende Schmerzen ihn plagen, fängt niemand an zu meckern oder gar zu stänkern.
Den Krach von stinkenden, lärmenden Autos vermisst Tom auch nicht. Eine mit Sonnenkollektoren angetriebene Bahn, die über einer glitzernden Schiene schwebt, windet sich durch diese traumwandlerisch schöne Landschaft , in der es so herrlich süßlicher Duft liegt. Kürzere Strecken können mit Bussen, die in unvorstellbar kurzen Abständen fahren, die ebenfalls angetrieben von der wundervollen Kraft der Sonne, bewältigt werden.
Auch sein neues Zuhause entzückt Tom sehr. Er glaubt fest daran, dass es ihn in eine Welt der Wunder verschlagen hat, in eine Welt, die er bisher in seinem eigenen Erleben nur in den schönsten Träumen durchwanderte. Zuvor hatte ihm Mama meistens das eine oder andere Märchen vorgelesen, so wie Aladin und die Wunderlampe und viele andere Märchen aus der Feder von berühmten Schriftstellern.
Auch von seinem Wohnumfeld ist der Sprössling hellauf begeistert Zahllose Familien, Bewohner verschiedener Generationen, angefangen von den kleinsten Babys bis hin zu den in die Jahre gekommenen Menschen leben in einer riesigen Glaskugel mit zehn Stockwerken gemeinsam unter einem Dach. Keiner achtet darauf, was der andere anhat, wie der andere aussieht oder was für einen Job der andere macht. So sind es zwar viele Familien, die unter dieser märchenhaft glitzernden Kugel leben, in Wahrheit kann man aber von einer einzigen großen Familie sprechen, in der alle Menschen ein Herz und eine Seele sind. Und wenn doch mal die Meinungen auseinandergehen, was natürlich ab und zu mal vorkommt, hält sich immer der eine oder der andere Engel bereit, der stets Gott um Hilfe bittet...
Fast jeden Tag spielt Tom mit seinen Freunden Versteck und andere tolle Sachen. Natürlich stürzt er sich auch täglich mit Xinia, Toschi, Toxa und wie die anderen Mädchen und Jungen noch so heißen, in die angenehmen Fluten dieses schier endlosen Ozeans. Dabei gleiten seine leuchtenden Augen wie von selbst zu den Schiffen, deren Mäste mit schmucken bunten Leinentüchern bestückten sind, und auch jene romantische Stunde, bei der die Sonne, die noch viel schöner und noch viel goldiger scheint als die Sonne, die unsere Erde einst das Leben schenkte. Dieses findet Tom so wundervoll, so bezaubernd, dass er nicht mal mehr an Mama und Papa denkt. Wie sehr würden sie Tom vermissen?
Ab und an hat er zwar schon ein wenig an sie gedacht, Tränen des Heimwehs haben sich allerdings noch nicht aus seinen Augen gewunden. Diego und einige andere Kinder aus seiner Gruppe, die ihn wegen seiner auffallenden Schüchternheit am liebsten zum Teufel gejagt hätten, hat der vor lauter Stolz nur so strotzende Bub aus seinem Gedächtnis gestrichen, was sein Engel mit dieser Himmelstour erreichen wollte. Sein Plan ist aufgegangen!...
An einem schönen sonnigen Tage zückt Toms Glücksbringer nach einem Gegenstand, der aussieht wie eine Pistole, an deren starkem Rohr gelbe Leuchtpunkte und Leuchtziffern prangen.
Der Engel drückt auf einen roten Knopf und plötzlich schießt ein bunter Strahl hinauf bis in den Himmel. Wenige Minuten später zuckt ein ebenso starker gebündelter Strahl mit voller Wucht in dieses geheimnisvolle Rohr wie ein Bumerang zurück.
„Was ist das?“ fragt Tom, dessen Augen nur noch durch einen schmalen Schlitz blinzeln.
„Dieses sind die Signale Gottes, die deinem Wohl gewidmet sind. Ich verspreche dir von Herzen,
dass Gott nur Gutes für dich tut!“...
Tom ist wieder so aufgedrückt, dass es ihm nachts verdammt schwerfällt, seine Augen zu schließen. Was möge er wohl nur geahnt haben? Möglicherweise denkt Tom, er müsse schleunigst zurück auf diese Erde, die er nun so sehr hasst, wie er Diego und die anderen Jungs aus dem Kindergarten einst hasste...
Mit einem Male lebt das Vergangene in seinem Kopf wieder auf.
„Verdammt! Wenn Diego und die anderen Dummköpfe wieder anfangen mich zu ärgern!“ rauscht es pausenlos durch seinen Kopf. Und wieder glaubt Tom unbekannte Stimmen von außen zu hören.
Sind das vielleicht sogar Stimmen von noch entfernteren Welten?..

Es ist so wie es sein muss. Natürlich muss Tom wieder zurück in seine alte Heimat, zurück zu seinen Eltern, die ihn zuhause sehnsuchtsvoll erwarten. Der Engel spart nicht mit tröstenden Worten, die den aufgekratzten Jungen beruhigen sollen.
„Ich verspreche dir von Herzen, dass es nach unserer Rückkehr auf die Erde nicht so sein wird, wie es vorher einmal war. Ich reiche dir die Hand. Dieses ist mein Ehrenwort, auf das du dich verlassen kannst!“ Liebevoll streckt der Engel seine Hand entgegen. Tom spürt sofort die angenehm-wohlige Wärme seiner Haut.

In Toms Gemüt sickert allmählich Ruhe ein. Vielleicht hat sein Bauch ihm sogar zugeflüstert, dass es Engel wieder gut mit ihm meinen. Und so hat sich Tom mit der Rückkehr auf die Erde schweren Herzens abgefunden, obwohl er seine Freunde so schrecklich vermissen wird, und diese ihn ebenso vermissen werden...

Nach einer angenehmen Heimreise, kreuz und quer durch die Weiten des Weltalls, vorbei an tausenden von Sternen, sind die beiden Himmelsstürmer wieder gesund auf dieser vertrauten alten Erde angekommen. Doch es ist kein Sommer mehr wie auf dem Stern der Liebe, auf dem im ganzen Jahr nur Sommer ist. Über Nacht hat der Winter Einzug gehalten. Das Weihnachtsfest steht unmittelbar vor der Tür. Bäume, Felder und Wiesen tragen ein wunderschönes weißes Kleid, das unter der goldigen Wintersonne fast so hell glitzert wie diese funkelnde Sterne, die er selbst schon aus nächster Nähe bewundert hat.
Noch überraschter ist Tom allerdings, als der Engel zu ihm sagt, dass Mama und Papa seit kurzem in einem schmucken Häuschen wohnen, dass gerade noch rechtzeitig vor dem Feste fertig geworden ist. Das Haus steht am Rande des Weihnachtswaldes. Die Giebel sind in Form von einladenden Pfefferkuchenherzen geschwungen. Innen ist es so richtig gemütlich. Im Wohnzimmer lodert und knistert das Feuer aus dem Kamin, während es draußen bitterkalt ist. Bizarre Blumen aus Eis und andere lebhafte Gestalten tummeln sich lustvoll an den Scheiben der Fenster. Ein frischer, angenehmer Duft nach der mit Lametta, kleinen Zapfen, Glaskugeln, lächelnden Schokoladenbärchen und süßen Weihnachtsmännern bestückten Weihnachtsbaum, erfüllt den Raum.
Als Tom an die Tür klopft, diese sich um einen breiten Spalt öffnet, fallen dem Kleinen Mama und Papa zur Begrüßung sofort um den Hals.
„Wie schön, dass du wieder bei uns bist! Hörst du aus der Ferne die Glocken klingen.
Es ist nämlich bald soweit. Bald kommt der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten, sagt Mama mit einer Stimme, die genauso hell wie die einer läutenden Glocke klingt.
Papa hilft seinem kleinen Helden beim Schlüpfen aus seiner dick gepolsterten Jacke.
Plötzlich mischt sich in den Klang der fernen Kirchenglocken ein anderer zarter Klang, der noch viel heller klingt.
„Das ist der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann!“, jubelt Tom mehrfach. Papa öffnet ihm das Fenster und beugt sich aus diesem so weit hinau, dass der federleichte Schnee ihm frohlockend ins Gesicht bläst. Schnee hatte Tom schon immer sehr gemocht, diesmal, nach der Reise in den ewigen Sommer dieses zauberhaften Sternes, ganz besonders...
Das Rauschen der Schlittenkufen dringt schon leise in sein Ohr, erst recht das Keuchen und Schnaufen der beiden Rentiere, die diesen langen, Kräfte raubenden, Schlitten geduldig ziehen.
Der Junge zieht sich zurück, um nicht vorzeitig vom Weihnachtsmann entdeckt zu werden. Sein Herz beginnt so laut wie das Herz eines nach Beute lauernden Tigers in seiner Brust zu schlagen. Erst recht als der Weihnachtsmann seine Rute gegen die stämmige Holztür schlägt.
Papa öffnet. Tom schmiegt sich erwartungsfroh, aber ängstlich zitternd an Mamas Hüfte.
Mit schweren Geschenken im Sack biegt er sich stark nach vorn und legt den Sack unmittelbar am weit auseinandergezogenen Tisch ab. Doch der Herr vom Walde ist nicht allein gekommen. An den Fersen des kräftigen Weißbärtigen hat sich Toms ehemaliger Begleiter mit den schmucken Flügeln geheftet. Und hinter ihm tritt wie aus dem Nichts ein anderer, ein gespenstischer Schatten hervor, den der Bub allerdings noch nicht bemerkt hat, da seine Augen ausschließlich auf den Weihnachtsmann gerichtet sind.
„Ich bin der Weihnachtsmann! Hast du denn auch immer gefolgt?“ Ja, antwortet Tom zaghaft. Der gütige Engel nickt zustimmend seinen Kopf. In diesem Augenblick durchfährt ein heftiger Schreck Toms Glieder. Dieser merkwürdige Schatten hat sich nämlich als eine düstere Gestalt in Form eines Jungen entpuppt, mit dem er an diesem Weihnachtsabend überhaupt nicht gerechnet hat. Der Verschreckte kann es kaum fassen, aber es ist halt so wie es nun mal ist.
„Ausgerechnet dieser Diego! Muss das sein?“, flucht Tom im Verborgenen.
„Weshalb erschrickst du so? Wir tun dir doch nichts!“, krächzt der Herr der Geschenke.
Toms Wangen haben sich gerötet. Sie sind fast schon so rot wie die Wangen des Mannes mit dem weißen Bart.
„Hallo Tom! Du brauchst vor mir wirklich keine Angst mehr zu haben. Ich verspreche dir, ich werde ganz bestimmt immer artig zu dir sein!
„Das will ich auch hoffen!“, entgegnet ihm der Weihnachtsmann, der Diego tief in die Augen schaut.
Weiß dieser Geselle mit der rauchigen Stimme womöglich sogar, welch schwere Leiden Diego diesem ruhigen, stets gutmütigen, Tom zugefügt hat?...
Geduldig packt der Weihnachtsmann die Geschenke aus und der Engel hilft ihm dabei. Die eine Hälfte bekommt Tom, die andere Hälfte Diego.
Tom springt vor lauter Freude fast bis an die Decke als eine Spielzeug-Eisenbahn aus Plaste plötzlich zum Vorschein kommt. Diego freut sich ebenso tierisch, und zwar über einen kleinen Hubschrauber mit Fernsteuerung. Dazu legt der Weihnachtsmann noch ein paar Lebkuchenherzen, Tafeln von Schokolade, Mohrenköpfe und andere süße Naschereien auf die bunten Gabenteller.
Beide scheinen sich zu freuen wie noch nie in ihrem Leben. Beide strahlen um die Wette und auch Mama und Papa freuen sich ehrlichen Herzens mit und setzen ebenfalls ein hübsches Lächeln auf. Dieses herzliche Lächeln scheint sogar schon bei den beiden Sprösslingen den Anschein erweckt zu haben, dass zur selben Zeit ein ganzer Berg von Steinen, als sichtbares Zeichen der Erleichterung, aus den Herzen von Mama und Papa geplumpst ist.
Müde, aber dennoch überglücklich, stapft der Weihnachtsmann im Bunde mit dem Engel des kleinen Tom aus der Wohnstube, um in seinen großen Schlitten zu steigen, denn andere Kinder der Umgebung warten noch sehnsüchtig auf seine Gaben, die bei denen, die nicht artig gewesen sind, erkennbar kleiner ausfallen werden...
Eines hat der Engel den beiden Buben allerdings noch verschwiegen. Mit diesem eigenartigen Ding, das einer Pistole sehr ähnelte, hatte er Signale vom Stern der Liebe aus, an noch einen anderen Stern gerichtet. Dieser Stern trägt zu Recht den Namen Stern der Hoffnung, weil von diesem Stern aus Signale auf die Erde weiter gesendet werden, und zwar an jene Menschen, die leider nur das Böse in ihren Sinnen haben. Ein ganzes Bündel dieser Strahlen hatte Diego wie ein Stich am Nacken getroffen, weshalb er erschrocken in sich zusammensackte und daraufhin sofort zu Boden fiel. Das erste Mal rollten nach vielen Jahren wieder Tränen aus seinen großen, furchteinflößenden Augen. Warnung genug für alle Kinder dieser Stätte, die endlich artig geworden sind, die Dagmars mahnende Worte nun nicht mehr in den Wind schlagen...
Tom und Diego haben an diesem denkwürdigen Weihnachtsabend natürlich auch den Hubschrauber ausprobiert, der mit Engelsgeduld so geschickt durch die Wohnstube gesurrt ist, dass er gleich mal ein auf dem festlich gedeckten Tisch stehendes Weinglas mitgenommen und in Scherben gerissen hat. Mama und Papa sind zwar von diesem etwas eigenartigen Volltreffer nicht ganz so begeistert wie die beiden Spielkameraden, die lauthals angefangen haben zu lachen, gewesen. Ein kurzes schallendes Lachen haben die beiden dennoch über ihre Lippen gebracht.


Diego und Tom sind mittlerweile die dicksten Freunde geworden, und das nach all den schrecklichen Jahren der Zwietracht und des Hasses. Dem Engel, der, mit Gottes Hilfe, im entscheidenden Augenblick die Schreie des hilflosen Jungen erhört hatte, sei Dank. Gott, unser allmächtiger Vater im Himmel, hat Diegos Sünden gestraft und am Ende hat er ihm dennoch vergeben, um ihn den steilen Weg in ein gerechtes, sinnerfülltes Leben nicht zu verschließen.
Mögen Tom und Diego stets füreinander da sein, um später einmal in Gottes Himmelreich zu folgen, wo das ewige Leben, befreit von jeglichen Sorgen, seinen Anfang nimmt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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