Irene Beddies

Ein ganz besonderer Weihnachtsbaumschmuck



 
In jenem Jahr fiel der Heiligabend auf einen Sonntag.
 
Wir waren am Freitagabend noch mit der letzten Fähre auf der Insel angekommen und in unserer Ferienwohnung gleich in die Betten gefallen. Am Samstag verschliefen wir etwas und mussten uns eilen, die nötigen Vorräte einzukaufen, denn die Läden schlossen schon um 12 Uhr mittags.
Nach einem hastigen Essen bei Mc. Donald konnten wir in unserem gemieteten Heim, einem kleinen Wohn-Kinderzimmer, einem Schlafzimmer und einer einigermaßen geräumigen Wohnküche, endlich auspacken und es uns gemütlich machen. Wir schleppten die Vorräte ins Haus und öffneten Koffer und Taschen, um alles in die Schränke zu räumen.
Mama nahm einen der Pappkartons, die den Weihnachtsbaumschmuck enthielten, aus dem großen Koffer, öffnete ihn und wurde blass. Ich sah sie fragend an. Sie bedeutete mir, ich solle ihr in die Wohnküche folgen. Dort zeigte sie mir das Malheur: statt  den Karton mit den Weihnachtskugeln einzupacken, hatte sie den Osterkarton mitgenommen! Was sollten wir nun tun?  Alle Läden waren zu! Die Kleinen durften auf keinen Fall enttäuscht werden.

Mama stellte den Karton erst einmal auf den Küchenschrank, wo ihn  meine kleinen Schwestern, die Zwillinge Bettina und Annika, nicht erreichen konnten. Dann rief sie Papa herein, erzählte von dem Missgeschick.
„Geh doch bitte mit den Kleinen an den Strand, Erwin. Lass sie  allerhand Dinge, die ihnen hübsch vorkommen, sammeln. Um die Kleinen bei der Stange zu halten, versprechen wir ihnen eine Belohnung für die schönsten Dinge“.
Papa versprach, solange es ging, fortzubleiben. Bettina und Annika nahmen ihre Sandeimer, und los stiefelten sie. Ich sollte nicht mit, ich durfte Mama helfen.
 
„Warum werden die anderen weggeschickt?“
Mama erklärte mir auf meine neugierige Frage: „Wir müssen jetzt Weihnachtsschmuck selber machen. Ich habe da so meine Ideen.“
„Wie sollen wir ihn den machen, wir können doch keine Kugeln basteln“, wandte ich ein.
„Das wollen wir auch nicht. Als der Krieg zu Ende war und Oma und Opa mit mir und Tante Berta geflohen waren, hatten wir zu Weihnachten auch keinen Schmuck. Am Tannenbaum hingen dann Engel, die Oma aus Pappe ausgeschnitten und bemalt hatte…“
„Ich kann keine Engel malen, Mama“, unterbrach ich sie.
„Wir wollen auch keine malen, ich kann das ja auch nicht so richtig gut. Wir schneiden runde Scheiben, Sterne und Quadrate aus dem Pappkarton. Einige Teile können wir mit der Alufolie bekleben, die von unseren Butterbroten übrig geblieben ist. Wenn die Kleinen wiederkommen, suchen wir hübsche Muscheln aus und kleben sie auf die Pappscheiben. Hol doch schon mal die Klebe aus dem Kinderzimmer.“
Mit Hilfe eines Eierbechers bekamen wir richtig runde Scheiben. Quadrate ließen sich auch leicht ausschneiden. Die Sterne machten uns mehr Mühe.
In all die Stückchen aus Pappe stachen wir ein Loch und fädelten einen Faden aus dem Nähetui hindurch. Die Quadrate beklebten wir mit Alufolie. Die fertigen Scheiben legten wir in einen tiefen Teller und versteckten ihn.
 
Es dämmerte bereits, da kamen die Strandläufer nach Hause und zeigten stolz ihre Schätze. Annika hatte feine rosafarbene Muscheln gesammelt, kleine honigfarbene Steinchen, winzige Schneckenhäuschen, die sie von dem Pfahl einer Buhne abgestreift hatte. Bettina hatte größere Sachen in ihrem Eimerchen: Austernschalen, Perlmutt von Miesmuscheln, kleine bizarre Hölzchen und von einem Schiffstau eine Strähne eisblauer Fäden. Papa holte aus seiner Jackentasche noch die Rückenschale eines Taschenkrebses, einige  kleine Möwenfedern und abgeschliffene braune  und grüne Scherben von Flaschen.
„Und wer kriegt die Belohnung?“, fragte Annika anklagend.
„Ihr habt so schöne Sachen mitgebracht, da kann ich mich gar nicht entscheiden“, sagte Mama, „ihr habt beide den ersten Preis gewonnen.“ Sie drückte jedem Kind einen Schokoladenweihnachtsmann in die Hand. Glücklich zogen die Zwillinge ab ins Kinderzimmer.
„Geh du mit ihnen <Schwarzer Peter> spielen“, bat Mama Papa. „Elise und ich haben noch viel zu tun. Und lass ja nicht eine von beiden hier in die Küche. Wenn ihr was braucht, musst du es holen, Erwin.“
 
Jetzt ging die Arbeit erst richtig los. Wir sortierten und wuschen die Gegenstände. Die kleinen Schnecken rochen unangenehm. Wir stellten fest, dass sie noch lebten. Da wir auf sie aber nicht verzichten wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als sie zu kochen und mit einer Häkelnadel anschließend auszupulen.
Nun beklebten wir die Pappscheiben mit Muscheln, Schneckenhäusern, den Glasscherben, Federn und Steinchen. Die Quadrate bekamen noch quer über alles einige Fäden des blauen Taus. Wir betrachteten unser Werk. Schade: glitzern taten die Schmuckstücke nicht alle.  
„Was können wir tun, damit etwas Glanz an die Teile kommt, an denen kein Silberpapier klebt?“, fragte Mama etwas ratlos. Wir zündeten eine Kerze an und prüften, ob der Kerzenschein einen besseren Glitzereffekt hervorrufen könnte. Aber nein, das funktionierte nicht.
Da sahen wir auf dem Küchentisch Sandkörner aufblitzen. Das war die Erleuchtung. Ich lief schnell nach draußen an die Mülltonne und holte in einer Tasse Sand, den ich unter der Tonne schon vorher entdeckt hatte. Wir wuschen ihn und klebten immer einige gröbere Körnchen zwischen die Muscheln, Schnecken und Glasscherben. Und tatsächlich, er glitzerte ein wenig.
 
Am nächsten Vormittag brachte unser Wirt den versprochenen Baum. Aber, o Schreck! Es war kein kleines Tannenbäumchen, sondern eine kurze, aber ausladende Kiefer! Wohin damit? Ins Kinderzimmer passte sie nicht. Der Wirt aber hatte schon seine eigene Idee und stellte sie  einfach auf den Kühlschrank in der Ecke. „So. Da stört der Baum nicht, kein Kind kann ihn umrennen. Da ist er sicher“, meinte er und verschwand wieder.
 
Und wirklich, da stand die Kiefer ganz wunderbar. Als die Kleinen Mittagsschlaf hielten, half Papa uns, die Kerzenhalter zwischen den langen Nadeln der Kiefer so anzubringen, dass kein Feuer entstehen konnte. Dann behängten wir den Baum mit unserem selbst gefertigten Schmuck.
Und als am Spätnachmittag das Glöckchen bimmelte und wir in die Küche kamen, strahlte uns der fremdartige Weihnachtsbaum an. Mit offenem Mund bestaunten Annika und Bettina die Schmuckstücke, bevor  sie ihre kurzen Gedichte aufsagten.
 
Als wir am ersten Feiertag alle gemütlich bei Stollen und Kakao um den Tisch saßen, klopfte es energisch an der Tür.
„Der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann!“, riefen die Zwillinge wie aus einem Munde. Es war nicht der Weihnachtsmann, es war der Hauswirt.
„Frohe Weihnachten!“ Er stellte eine Flasche Rum auf den Tisch. „Ich wollt sehen, ob sie mit dem Weihnachtsbaum zufrieden sind. Ich konnt ja keine Tanne mehr bekommen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Mama, „Sie sehen ja, er sieht ganz prächtig aus und passt so richtig zu einer Inselweihnacht.“
 
 
 
© I. Beddies



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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