Peter Kröger

Anfänge





Aller Anfang ist schwer, davon lebe ich.
Eben habe ich meine Kontoauszüge überprüft und festgestellt, dass Mauersperger schon vor gut einem Monat überwiesen hat. Die erbrachte Leistung war ihm eintausendvierhundertfünfzig Flocken wert, das ist viel Geld für insgesamt vielleicht vier Stunden Arbeit. In dieser Zeit habe ich drei Anfangsvarianten fertiggestellt, von denen Mauersperger eine genommen hat, nämlich die, die auch mir am besten gefällt. Eigentlich hätte ein einziger Anfang gereicht, denn Mauersperger und ich haben einen sehr ähnlichen Geschmack, und wenn sich gelegentlich Differenzen ergeben, muss ich meist nur kleine kosmetische Änderungen vornehmen.
Aber ich will weiterhin jedem Kunden drei Möglichkeiten an die Hand geben, um zu beginnen, was irgendwie begonnen werden muss. Wer zahlt, soll wählen können, und für mich ist der Aufwand gering. Er ist noch geringer geworden, seitdem ich eine Kartei der Anfänge angelegt habe, die Hinweise auf Stil, Länge und sonstige sprachliche Besonderheiten liefert und die Nummer eines Mustertextes benennt, auf den ich in einer separaten Registratur zurückgreifen kann. Das Geschäft blüht.
Aller Anfang ist schwer. Aber wenn man den Bogen raushat, bedeutet es das Ende der Armut und ein Leben, wie ich es mir wünsche, mit Ausschlafen, gutem Essen, Reisen und einem Glas vortrefflichen Bordeaux am Abend oder manchmal auch schon in den frühen Nachmittagsstunden. Auch das Leben mit Frauke wurde im Grunde erst durch meine finanzielle Unabhängigkeit möglich.
Allerdings hat Frauke schließlich Günther Mauersperger geheiratet. Zur Hochzeitsfeier bin ich nicht gegangen, obwohl ich eingeladen war. Aber dem guten Sebastian Herrschel,  der da war und der sonst bei Berliner Stadtrundfahrten mit einem Mikrofon in der Hand  flotte Sprüche klopft, habe ich auf seine Bitte hin eine Tischrede geschrieben, die er zu Ehren des Brautpaars gehalten hat. Natürlich habe ich nichts dafür berechnet, denn Herrschel ist mein Freund, Mauersperger ein guter Kunde, und mit Frauke verbinden mich die gemeinsam verbrachten Jahre.
Die Eheleute Mauersperger haben nie etwas von meiner Autorschaft erfahren. Herrschel hat alles brav abgelesen und sich ohne rot zu werden für die wohlgesetzten Worte beklatschen lassen. Diese Rede ist das einzige Produkt meiner schriftstellerischen Laufbahn, das über den bloßen Anfang hinausgeht und sogar einen passablen Schluss vorweisen kann, der in den Worten gipfelt: Die Liebenden bekennen sich vor aller Welt zu ihrer Liebe, wir wünschen ihnen Glück, Zuversicht und Weisheit auf allen Wegen, sowie jederzeit genug von der Kraft, die nötig ist, auch schweren Zeiten zu trotzen und einander zu halten. Auf den ersten Satz blicke ich sogar mit einem gewissen Stolz zurück.Zwei Menschen finden zueinander, heißt es da, sie lieben sich und so soll es sein.
Bei diesem einen Versuch mit Anfang und Ende soll es bleiben, und Herrschel hat natürlich dichtgehalten, auch in seinem Interesse. Hätte Frauke nämlich von dieser etwas bizarren Geschichte Wind bekommen, wäre der Ärger für den Redner ebenso groß gewesen wie für mich, denn Frauke ist humorlos, wenn es um ihre Belange geht und fühlt sich selbst dann böswillig getäuscht, wenn etwas nur zu ihrem Besten geschieht.
Und Frauke, das weiß ich, hätte die Geschichte an die große Glocke gehängt, selbst wenn es zu Mauerspergers Schaden gewesen wäre, weil sie die Dinge um sich herum zu emotional betrachtet und, wenn es sie packt, ohne nachzudenken um sich schlägt. Plötzlich hätten die falschen Leute Peter Calw gekannt, Menschen, die vorher nie meinen Namen gehört haben. Dann hätte ich ein echtes Problem gehabt.
Denn Diskretion spielt in meinem Job eine wichtige, eine überaus wichtige Rolle, viele große Geister oder wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben Schwierigkeiten mit dem Anfang und ich helfe, wo ich kann.
Wolf Brodstetter, ein bedeutender und von mir persönlich sehr geschätzter Autor zeitkritischer Romane, schaffte nach eigenen Aussagen in sieben Jahren vier statt der angepeilten drei Bücher, seit ich ihm durch Mauerspergers Vermittlung mit Anschubformulierungen, wie ich es nenne, sogar kapitelweise unter die Arme greifen durfte.
Nicht alle meine Kunden sind so ehrlich wie Brodstetter. Es mag daran liegen, dass Brodstetter, Träger des Büchnerpreises, seit Jahren unter einer schweren Krebserkrankung leidet und zugleich ein Mensch ohne Allüren, Schrullen und Eitelkeiten ist, für einen Schriftsteller seines Ranges ein ebenso erstaunliches wie bewundernswertes Format, wie ich im Laufe der Zeit erfahren durfte.
Wer den Tod vor Augen hat, mein lieber Calw, verbittert, arbeitet besessen an der eigenen Verklärung und Beweihräucherung bäumt sich auf andere Weise auf oder zieht sich zurück, wer will darüber richten, aber auch eine verstärkte Neigung zur Nachsicht, zur Milde sich selbst und anderen gegenüber kann sich einstellen. Den Anderen lassen, wie er ist und sich ansonsten, so gut es geht, an die Wahrheit halten, warum nicht? Und in diesem Fall ist die Wahrheit: Sie machen solide Arbeit, mehr noch, Sie sind brillant, warum sollte ich das verschweigen? Aber wenn Sie lieber im Verborgenen arbeiten, was ich verstehen kann, werde ich mich selbstredend mit öffentlichen Lobpreisungen zurückhalten.
So spricht Brodstetter, und dafür achte und verehre ich ihn, den Menschlichsten unter den Großen in meinem Kundenkreis. Aber Öffentlichkeit kann ich bei meiner Arbeit wirklich nicht gebrauchen. Bei meinen ehemaligen Kollegen war die Sache einfach. Nur wenige der fünfzehntausend Berliner Taxifahrer, zu denen ich einst gehörte, kenne ich namentlich, und von denen, die ich kenne, wissen nur zwei, Roberto Fumagalli und Gernot Fischer, wie ich jetzt mein Geld verdiene. Aber sie werden mir keine Schwierigkeiten bereiten, denn sie kennen niemanden, der sich für meine Schreibdienste interessieren würde, mit Ausnahme meines Ex-Chefs Edwin Winter, der nicht weiß, warum ich gekündigt habe und der immer noch ihr Chef ist, aber dem erzählen sie nichts, weil Edwin das ist, was man einen Nervbolzen nennt. Außerdem ist er ein Klugscheißer, ein Schnüffler und Möchtegernliterat, der ewige Schlechtbezahler mit Kontrollmacke, der immer alles wissen muss und dann überlegt, wie er dieses Wissen zu Geld machen kann.
Wenn ich bedenke, wie alles begann, muss ich einräumen, dass der entscheidende Hinweis, mein Leben zu verändern, von Anita Braun kam. Denn Anita, die ich von der Taxi-Halte Sophie-Charlotte-Platz kenne und mit der ich manchmal über die Behandlung von Rückenleiden durch die chinesische Heilmedizin gesprochen habe, gab mir den guten Rat: Mach irgendetwas Anderes, Peter, hier fliegen dir nur reihenweise die Bandscheiben raus. Du musst auch ans Alter denken.
Sechs Wochen später habe ich den ersten Anfang für Leander Meißners Sittengemälde Nachbarschaftshilfe geschrieben, ein großer Erfolg, damals noch für zweihundert Euro. Meißner hatte ich bei einer Taxifahrt von einem Lokal in der Kreuzberger Großbeerenstraße zur Wohnung seiner damaligen Freundin in Berlin-Karow kennengelernt. Wir waren schnell auf eine gemeinsame Vorliebe für Theodor Storm, Philip Roth sowie Spaghetti aglio e olio gestoßen, hatten Telefonnummern ausgetauscht und uns einige Tage später in einem italienischen Restaurant in Charlottenburg getroffen, wo wir unter dem Einfluss von reichlich Alkohol eine punktuelle Zusammenarbeit für ein literarisches Styling vereinbarten, wie wir es damals nannten. So fing alles an, ein spannendes und aufregendes Projekt, auch wenn Meißner später meinen bescheidenen Beitrag zu seinem Buch bestritt und ich ihm nichts entgegenzusetzen hatte, da ich mein Honorar ohne Rechnung bar auf die Hand bekommen hatte und somit wie verabredet entlohnt worden war. Aber einige anerkennende, wenn auch nur unter vier Augen geäußerte Worte von Meißners Seite hätten mir ein Gefühl der Wertschätzung vermittelt, in diesem Fall nicht ganz unverdient, sogar Leo Fuchs war in der FAZ  voll des Lobes ob des pointierten und energiegeladenen Buchanfangs gewesen. Vielleicht hätte Meißner seine Meinung im Laufe der Zeit geändert, aber leider ist er bei einer Wanderung in den Zillertaler Alpen abgestürzt und erst eine Woche später in schwer zugänglichem Gelände tot aufgefunden worden. Für dieses jähe Ende gibt es bis heute keine überzeugende Erklärung, denn Meißner galt als erfahrener Kletterer.
Anita glaubt übrigens bis heute, dass ich Lebensversicherungen verkaufe, was bei genauerer Betrachtung keine ganz falsche Vorstellung ist, denn ich fühle mich oft als Handlungsreisender in Sachen Qualitätsmanagement und Überlebensstrategien. Fast alle meine kleinen Werke haben den großen Werken, aber auch mancher Rede oder Ansprache einen Schwung gegeben, der sich positiv auf die Les- und Hörbarkeit und die innere Balance der Texte ausgewirkt hat. Manchmal allerdings war auch Hopfen und Malz verloren und mein Anfang stürzte, wenn man so will, mit dem Hauptwerk in den Abgrund.
Daher achte ich auch mittlerweile verstärkt darauf, dass ich nur noch qualitativ hochwertige Texte mit meinen einleitenden Worten versehe. Ich traue mich kaum zu sagen, dass ich einmal sogar einen Auftrag der gefeierten Autorin Sylvia Kunstmann-Arp ablehnen musste. Ihr Manuskript war einfach grauenhaft und ich hatte auch nach mehrtägigem Nachdenken keine zündende Idee entwickeln können, die für beide Seiten annehmbar gewesen wäre. Kunstmann-Arps Roman Feldwege  wurde jedoch trotz meiner Ablehnung und einer vernichtenden Rezension von Leo Fuchs ein großer Erfolg, ein Beweis für den Umstand, dass die Wege der Literatur, der guten wie der schlechten, verschlungen sind, und zuweilen sogar die Kritik ihre Macht einbüßt, wenn ein Buch in die richtige Kerbe haut, in diesem Fall die ökologisch-terroristisch-planetarische, für die Kunstmann-Arp steht wie keine andere.
SKA, wie sie sich selbst gern nennt, hat mir nie wieder einen Auftrag erteilt, was ich zutiefst bedaure, da ich lange auf eine Wiedergutmachung aus war und mich in dieser Angelegenheit leider endgültig als gescheitert betrachten muss. Allerdings sind seit der Feldwege – Pleite alle Kunden bei jeder Auftragserteilung angehalten ein Formblatt ausfüllen, das ich mit meinem lieben alten Bekannten, dem Psychoanalytiker Ferdi Mewers erstellt habe, um böse Überraschungen zu vermeiden. Hier werden zunächst Erwartungen abgefragt und ein Exposé über den zu vervollständigenden Text erbeten, Tarife und Zeitfenster vorgestellt und nach Motivationslagen für die Inanspruchnahme  meiner Dienstleistung geforscht, soweit das auf einem Formblatt möglich ist. Jedenfalls, so Mewers, mache es einen gewaltigen Unterschied, ob man nicht kann, nicht möchte oder dem Besseren den Vortritt lassen will.
Keine Arbeit erledigt sich von selbst, besonders das Organisatorische ist mir sehr lästig. Da sich die examinierte Krankenschwester Frauke Schocken, wie sie früher hieß, vernünftigerweise nie mit Büro- und Sekretariatsarbeiten abgeben wollte, habe ich vor Jahren schon die dynamische Heidi Fleck angestellt, die beispielsweise die eingegangenen Formblätter ordnet, meine Termine verwaltet und mich am Telefon verleugnet, wenn ich schreibe, für kleinere Recherchen ins Schwimmbad gehe oder einen Biergarten an der Spree besuche.
Alles hat sich über die Jahre wunderbar entwickelt und eingespielt, doch gibt es in diesem für mich mittlerweile nicht mehr ganz neuen Leben und durch dieses Leben bedingt unangenehme Situationen und Erkenntnisse, die nicht zu unterschätzen sind, die ich aber nur zögernd zu benennen wage, da sie dem Außenstehenden geradezu zwangsläufig als Nichtigkeiten erscheinen müssen. Ein Beispiel: Ich bewege mich nur noch als Fahrgast mit dem Taxi und würde doch viel lieber selbst fahren, weil es mir immer zu langsam oder zu schnell geht oder mich die mangelnde Ortskenntnis des Fahrers in Rage versetzt. Viel schwerer aber wiegt die Einsicht, dass ich den großen weltbewegenden Roman, der mir seit meiner Kindheit vorschwebt, niemals schreiben werde. Nach spätestens drei, vier Seiten verfranse ich mich und meine Worte werden holprig. Nur bei meinem Hochzeitsschwank, wie ich ihn später getauft habe, war ich über fünfzehn Manuskriptseiten bis zur letzten Zeile gut, wie mir Herrschel mehrfach glaubhaft versichert hat, obwohl es sich nicht um mehr als breitgetretene Glückwünsche gehandelt hat, die ich allerdings mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln hingebungsvoll ausgeschmückt habe.
Ich bleibe ein Mann des Anfangs. Ein Anfangsminister, aber ich füge mich. Gernot Fischer grinste neulich kopfschüttelnd, als wir uns zufällig an seinem Stammplatz am Europacenter sahen und ich mich mit meinen Einkaufstüten zu ihm in den Wagen setzte, um über alte Zeiten und das allgemeine Befinden zu schwadronieren. Calw, musste ich mir anhören, du bist ein komischer Vogel. Dir geht’s erste Sahne, aber du nörgelst nur rum.
Dabei hatte ich nur in einem Anfall jovialer Tiefstapelei gesagt: Fischi, man muss auch Abstriche machen. Es ist eben auch Maloche und nicht nur eitle Selbstverwirklichung. Und Geld ist auch nicht alles. Fährst du mich nach Hause?
Gernot, der weiß, wie er fahren muss, war klar, dass ihm ein fürstliches Trinkgeld sicher war, und ich wusste, dass er es mir quittieren würde. Gewissermaßen bezahle ich ihn mit solchen Fahrten und zusätzlichen Gratifikationen für seine Ordnungsrufe, die mir im ersten Moment Schmerzen bereiten, aber langfristig meist eine heilende Wirkung entfalten.
Roberto Fumagalli hingegen hätte kein Geld genommen, das ist klar. Roberto hätte gefragt: Wohnst du noch am Bonhoeffer-Ufer? Bei dir weiß man nie, Peter. Komm, ich fahre dich. Schreibst du noch? Du schreibst doch noch, oder? Hier, nimm mal ein Stück Schokolade, das entspannt.
Aber Roberto hat keine Lieblingshalte und ist schwer zu finden. Davon abgesehen ist er im Moment gar nicht in Berlin, weil er seiner Tochter in Siena beim Hausbau hilft. Wir sehen uns im Oktober. Lass es dir gut gehen.
Und das tue ich, zweifellos. Aber ich stelle mir manchmal die Frage, ob es immer so weiter geht, Auftrag, Anfang, Geld, neuer Auftrag, Anfang, Geld und ob das, was ich mache, überhaupt eine kreative Tätigkeit ist, eine echte Herausforderung für Geist und Phantasie oder eigentlich immer die gleiche Leier, das gleiche Schrauben, Montieren und Vorschalten, ohne einen echten Ertrag im persönlichen Bereich. Damit möchte ich keiner ermüdenden Selbstfindungsdiskussion das Wort reden, weil ich zu wissen glaube, dass es nichts Eindeutiges in uns allen zu finden gibt; ein angebliches Selbst ohne sichere Koordinaten ist ohnehin kaum zu orten oder so übelriechend, dass es, ungeachtet eines therapeutischen Stirnrunzelns, das ich von Mewers kenne,  besser gleich wieder in der Versenkung verschwindet. Ich bin zweifellos ein Glückspilz, aber ich frage trotzdem: Wäre ich nicht heute noch mit Frauke zusammen, wenn ich mich entschiedener, entschlossener und ehrgeiziger gezeigt hätte, als es darum ging, eine Strategie für einen beruflichen Aufstieg, eine Karriere im großen Maßstab zu entwickeln, schöpferisch, eigenständig, vorwärtsstrebend? Aber was hätte ich tun sollen? Was hätte ich tun können?  Achtzehn Jahre war ich das, was man einen ehrbaren Taxifahrer nennt, mit kleinen Unebenheiten in der Lebensführung und einem gesunden Maß Unverfrorenheit bei der Arbeit und habe mir über ein berufliches Fortkommen keine Gedanken gemacht. Aber der allmähliche Erfolg bei dieser ungewöhnlichen Form der Kleinschriftstellerei hat den Blick auf mein Leben verändert. Wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass Fischi die Wahrheit gesagt hat. Ich bin ein Nöler. Dabei sollte ich wissen, dass schon ein Nöleranfang, ein ich-bin-arm-dran-Geseire, mir nicht besonders gut gelingt. Glücklicherweise wird so etwas selten verlangt. Ich will wirklich keinen falschen Eindruck erwecken. Ich glaube, ich sagte schon, dass es mir gut geht. Und das ist kein leichtsinniges Gerede. Und doch stimme ich leicht einen Klageton an, der mir missfällt .
Vielleicht kann Ellen Conradts mit etwas Lebenshilfe aufwarten. Heute Abend treffe ich sie zu einem Arbeitsessen. Wir werden den Anfang zu ihrer Novelle Karla zwischen den Stühlen besprechen. Ellen weiß sehr gut, warum etwas passiert. Nur die Frage nach dem Was und dem Wie bereiten ihr Schwierigkeiten. Das aber ist die Welt des Anfangs, wie ich ihn verstehe. Dummerweise verlangt Ellen diesmal zehn Seiten als Minimum, und es ist nahezu undenkbar für mich, etwas Verbindliches, Wegweisendes dieses Umfangs  abzuliefern. Aber ich habe versucht, verschiedene Versatzstücke meiner Anfangskartei zu einem passablen Ganzen zu verbinden. Wenn Ellen, die ich sehr mag, erstmal eine halbe Flasche Barolo intus hat, wird sie mir hoffentlich auf den Leim gehen. Ich weiß schon, wie es laufen wird: Ellen wird sagen lies vor, sie wird mir regelmäßig nachschenken, mich anschauen und lächeln, nach meinem viel zu kurzen Vortrag wird sie die Tagliatelle dello chef  bestellen, und dann wird sie hoffentlich sagen: Peter, genauso soll es klingen, schade, dass ich nur alle zwei, drei Jahre ein Buch schaffe. Dann wird sie mich auffordern, ihre Tagliatelle zu probieren und über meine Spaghetti aglio e olio mit ihren gewöhnungsbedürftigen Ausdünstungen herziehen. Und dann wird sie wieder auf ihr Lieblingsthema zu sprechen kommen.Ich habe mir überlegt, wir sollten mal ein größeres Projekt verabreden. Stell dir einfach ganz viele Anfänge vor, einer nach dem anderen in Reihe geschaltet, das hilft. Wenn dir die Puste ausgeht, beginnst du einfach immer wieder aufs Neue, und ich mache daraus einen Cocktail à la Conradts. Du bestimmst den Plot, wenn es einen gibt, und ich mache deine Baustelle zu einem Haus. Natürlich teilen wir die Beute.
Und ich werde natürlich sagen.
Aber mir fällt auf, dass ich eigentlich eine ganz andere Geschichte erzählen wollte, und zwar wollte ich über das Wetter reden, über einen kühlen Juni, wie er leider hierzulande nicht selten ist und mir auch dieses Jahr wieder die Laune verdorben hätte, wenn mir nicht Marcus Spitzers tragischer Unfalltod, die Wartezeit bis zum brütend heißen, hochsommerlichen Juli (solche Monate liebe ich) verkürzt hätte, indirekt, versteht sich, auf verschlungenen Wegen, denn ich habe Marcus Spitzer nie gesehen, die Dinge hängen manchmal auf ungeahnte Weise zusammen.
All das, von dem ich gleich sprechen werde, führte sogar dazu, dass Frau Fleck mich mehrmals aufgeregt auf meinem Mobiltelefon anrief, und von nervtötenden Reportern berichtete, die sich nach dem Ehepaar Mauersperger erkundigten, dem ich, wie es hieß, angeblich freundschaftlich verbunden gewesen sein solle. Bislang war ich  von der Fleck außerhalb der vereinbarten Zeiten nur dann kontaktiert worden, wenn zum Beispiel Mauersperger selbst um einen baldigen Rückruf bat. Das ist in der Zeit meiner Selbständigkeit nur einmal vorgekommen, weil ich einen Anfang versehentlich vertauscht und verschickt hatte und Mauersperger den für Brodstetter bestimmten Text in seinem Briefkasten vorfand, einen sehr persönlichen Text über einen missglückten Akt im Freien bei strömendem Regen zwischen einem lüsternen Greis aus Travemünde und seiner philippinischen Haushälterin, ein Unglück das Ganze, sowohl meine Fehlleistung als auch der beschriebene Akt für die beiden vom Leben gezeichneten Hauptfiguren in Brodstetters Werk.  Frauke und Mauersperger waren da gerade erst frisch liiert gewesen.
Ich schweife ab. Also das Wetter und Marcus Spitz. Aber bleiben wir zunächst beim Wetter und beim Juni und beim Sommeranfang in Berlin. Für einen einleitenden, nichtkonfrontativen Text, wie es in meiner Kartei heißt, eignet sich das Wetter nämlich in ganz hervorragender Weise. Es ist der Schlüssel zu allem, und ich bediene mich hier einfach des Stilmittels der geringen Übertreibung. Ohne Wetterkapriolen kein funktionierendes Taxigewerbe, also kein Kennenlernen von Frauke Schocken, die ich wegen eines Gewitters zur Arbeit ins Klinikum Westend fuhr, vor nunmehr acht Jahren, selbst Mewers habe ich im strömenden Regen an einer Bushaltestelle im mondänen Ortsteil Wannsee kennengelernt und Sebastian Herrschel erregte meine Aufmerksamkeit vor fünfundzwanzig Jahren, noch vor meiner Zeit als Taxifahrer dadurch, dass er während eines organisierten Segeltörns für Anfänger vergeblich versucht hatte, gegen den Wind zu kotzen. Aber, und darauf will ich hinaus, es gäbe ohne einen Hinweis auf das Wetter deutlich weniger kunstvoll gedrechselte Anfänge, selbst bei Kunstmann-Arp wehte nach meiner Absage durch die ersten Seiten ein selbstverfertigter Herbststurm, die Sonne lugte für kurze Momente hinter den Wolken hervor, während die goldgelben Blätter der Straßenbäume lustig durch die Luft gewirbelt wurden und so weiter. Kunstmann-Arp hat instinktiv das Richtige getan, als sie das Wetter zum Auftakt in ihre Feldwege hereinnahm, um für den Fortgang der Geschichte die passende Atmosphäre zu schaffen, die eigentlich ich liefern sollte, mit einleitenden Worten über die Liebe, ich, dem nichts Besseres einfiel als dankend abzulehnen, weil ich die Feldwege als zu schlecht und unter meiner Würde empfand. Ihr neustes Buch Herbst ohne Himmel, vor einem Monaten erschienen, ist wieder ganz die alte SKA, witzig, ironisch und mit einer dicken Portion Wetter, das nach einer noch vorsichtigen, fast ängstlichen Verwendung in den Feldwegen jetzt aus beinahe jedem Kapitel tropft, wenn man so sagen kann. Was ohne mein Zutun, mehr noch, durch meine Weigerung, aus der Not geboren wurde, entpuppt sich als Schlüssel für die literarische Wertschöpfung von Kunstmann-Arp. Wer hätte das gedacht, heißt es auf der ersten Seite im Herbst ohne Himmel, sie liebte die Sonne und den Regen, aber den Regen liebte sie  mehr, und dabei blieb es. Und mich hat sie nie wieder angerufen, weil das Wetter sie rettete, wie die Migräne die Prinzessin.
Gernot sagte mir einmal, lange bevor ich Anfänge für Geld schrieb: Was wären wir ohne das Wetter, Calw, sag selbst, Sonne, Regen, Schnee, heiß, kalt, Wetter eben, irgendwann morgens steht man auf, es sei denn, man ist Nachtfahrer, dann geht das Leben am Nachmittag erst los, aber immer lockt das Wetter, nein, so nicht, aber immer gibt das Wetter die Richtung vor, oder ist das jetzt blöd gesagt oder falsch gedacht, oder geht die Droschke mit mir durch, du hast doch Abitur, Calw, das Wetter ist das A und 0, immer beginnt alles mit einem Blick aus dem Fenster und einem Seufzer: Tag, schließ mich in deine Arme. Das Wetter ist unser Umsatz und unser Befinden. Amen. So gescheit redet Fischi daher und schon manches Mal habe ich überlegt, ihn zu meinem Assistenten zu machen und der Fleck als kreatives Pendant zur Seite zu stellen, aber ich weiß, Fischi würde verkrampfen, er würde auf der Strecke bleiben, scheitern an der Konzeption von gefühlten Tiefdruckgebieten, Hitzeperioden und grandiosen Sonnenaufgängen, die allesamt die Aufgabe hätten, eine Geschichte einzuleiten und selbst schon Teil dieser Geschichte zu sein. Bei anderen Anfängen ist es das Gleiche, denn es geht doch in irgendeiner Weise ausgesprochen oder unausgesprochen immer um Atmosphärisches. Das Gute und Schlechte, das Schöne und Hässliche, das Verborgene und Offensichtliche, das Laute und Leise, in jedem Lüftchen muss es stecken und von jedem Lüftchen muss es durchweht werden, sogar für die berühmte falsche Fährte gilt das, und Fischi mit den gezinkten Quittungen würde unglücklich werden und wieder Taxe fahren, bevor Roberto aus Siena vom Hausbau zurück wäre.
Aber es ist einerlei, denke ich, Frauke und Mauersperger sind vor einigen Wochen bei regennasser Fahrbahn mit ihrem weißen, PS-starken Coupé auf schnurgerader Straße hinter einem langsam fahrenden landwirtschaftlichen Nutzfahrzeug  ins Schleudern geraten und gegen eine brandenburgische Eiche geprallt, einen Alleebaum, der schon seit einhundertsechzig Jahren neben anderen hübsch aufgereihten brandenburgischen Eichen an dieser Landstraße im Kreis Teltow-Fläming  in der Nähe der Ortschaft Mahlow steht, wie mir Stadtführer Herrschel, sichtlich geschockt und verwirrt,  gleich am Unfallabend berichtet hat. Mauersperger verstarb noch an der Unfallstelle, Frauke auf dem Weg ins Krankenhaus.
Schuld an diesem Inferno war allerdings in Wirklichkeit nicht die regennasse Fahrbahn, also die widrige Witterung, wie man glauben könnte, sondern die von mir Stunden zuvor durchgeführte Manipulation der Bremsanlage, wie ich, nicht ohne inneres Entsetzen, bekennen muss. Besonders nachdenklich stimmt mich die Tatsache, dass ich mich bei dieser technisch komplizierten Arbeit zu nächtlicher Stunde wie bei der Abfassung eines neuen Anfangs für einen Mauersperger-Roman fühlte.
Ohne diese Maßnahme hätten Frauke und Mauersperger ihre Fahrt nach Berlin fortsetzen können und Mauersperger hätte wie geplant seinen Vortrag Was bewegt den Schriftsteller im  Audimax der Freien Universität zu Berlin mit Frauke als geneigter Zuhörerin halten können. Dieser Vortrag musste nun kurzfristig abgesagt werden, nachdem über eine ganze Weile nicht klar war, was es mit Mauerspergers Nichterscheinen auf sich hatte. Die Frage, was den Schriftsteller bewegt, wurde an diesem Abend nicht mehr beantwortet werden, auf jeden Fall nicht von Günther Mauersperger, der wie seine Gattin längst tot war.
Der entgegenkommende neunzehnjährige Marcus Spitz aus Neubrandenburg, den ich jetzt noch kurz erwähnen möchte, deutete das wilde Gestikulieren des Nutzfahrzeugführers falsch, konnte nicht rechtzeitig ausweichen, fuhr mit voller Wucht in die ungesicherte Unfallstelle, überschlug sich mit seinem roten Kleinwagen und verbrannte an Ort und Stelle vor dem Eintreffen von Feuerwehr, Polizei und Notarzt. Frauke habe, eingeklemmt zwischen Fahrersitz und Lenkrad, so Herrschel unter Tränen, noch mit dem Arzt gesprochen und nach Mauersperger gefragt, der tot neben ihr saß und zu schlafen schien, äußerlich fast unverletzt, nur mit einer kleinen Platzwunde über der linken Augenbraue. Diese Details seien ihm, Herrschel, von Waldemar Schocken, Fraukes Vater, mitgeteilt worden, also zweieinhalb Stunden nachdem Frauke ihren inneren Verletzungen erlegen war. Irgendwelche investigative Journalisten, ich deutete es schon an, muss die ehemalige Verbindung zwischen Frauke und mir, und vielleicht sogar die Kooperation mit Mauersperger zu Ohren gekommen sein, weshalb die arme Uschi Fleck mit Nachfragen bombardiert wurde, die sie zu mir ins Schwimmbad weiterleitete, wo ich nach getaner Arbeit zur Entspannung weilte.
Vielleicht sollte ich zum Sophie-Charlotte-Platz gehen und mich mit Anita Braun über Rückenleiden unterhalten oder mit Ferdi  Mewers nach Budapest fahren, wie wir es schon gleich am ersten Tag unseres Kennenlernens vor ewiger Zeit im Restaurant Moorlake bei einem vorzüglichen Zanderfilet beschlossen. Aber die Braun arbeitet jetzt in einem Wollgeschäft am Savignyplatz und Mewers, der mir in krisenhaften Momenten immer ein guter Ratgeber gewesen ist, kehrte vor einem Jahr nicht von einer Südamerikareise zurück, vor der ich ihn ausdrücklich gewarnt hatte. Seitdem  gilt er als vermisst, in dieser Gegend der Welt keine Seltenheit. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben.
Dass Reisen auch im kleinen Rahmen keine ungefährliche Sache ist, wurde übrigens wieder letzten Samstag deutlich, als der stressgeplagte Taxiunternehmer und Schnüffler Edwin Winter während eines Wochenendausflugs in der Nordsee bei Husum ertrunken ist, was den ahnungslosen Roberto überraschen wird, wenn er nach Berlin zurückkehrt und keinen Chef mehr vorfindet. An dieser Stelle möchte ich jedoch ausdrücklich betonen, dass ich mit Winters Tod nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun habe.
Marcus Spitz, um es kurz zu machen, war ein Vetter von Ellen Conradts, die mich bei einer zufälligen Begegnung in Brodstetters  Landhaus an der Elbe bei Boizenburg auf diesen Umstand hinwies und deren Trauerarbeit ich unterstützend und mitfühlend begleitete, wodurch wir uns näher kamen. So schließt sich der Kreis. Seitdem treffen wir uns regelmäßig in Berlin, wo die Conradts  praktischerweise mehr oder weniger bei mir um die Ecke wohnt, und heute treffen wir uns wieder zu einem Arbeitsessen, und unter Umständen schlafen wir dann wieder zusammen, wie wir es bislang immer gemacht haben, von Ellen regelmäßig  mit den  Worten eingeleitet:  Herr Calw, ich habe Lust auf Sie. Was meinen Sie, mögen Sie sich vorstellen, mich nach Hause zu begleiten und den Abend noch ein wenig zu verlängern? Wir könnten meinem Heim noch etwas Leben einhauchen.
Und voraussichtlich sage ich wieder Gern, liebe Frau Conradts, denn der Akt mit Ellen ist, wie ich seit unserer ersten Zusammenkunft weiß, ein ganz besonderes Vergnügen. Oder wir plaudern einfach nur, was keine Schwierigkeiten bereitet, denn Ellen war früher, erst wollte ich es nicht glauben, Taxifahrerin in Hamburg, sodass wir uns nicht die ganze Zeit über eingeschobene Nebensätze oder die hässliche Fratze des doppelten Genitivs unterhalten müssen, sondern zum Beispiel darüber, wie es war, als jemand einstieg und irgendwohin wollte, denn so beginnen Taxigeschichten eigentlich immer.
Egal, wie es kommt, bei Ellen ist es immer kurzweilig, und danach fahre ich mit einer Taxe, die ich lässig heranwinke, zum Bonhoefferufer und denke über meine Arbeit nach, die Gefahren, die sie mit sich bringt und über ein Ende, das nicht kommen will, jede Nacht, wenn ich von Frauke träume.
Der Morgen graut und jemand spricht im Radio darüber, wie alles begann, als Heidi Fleck überraschend anruft. Zu spät. Das Klopfen und Rufen an der Tür hört nicht auf und aller Anfang ist schwer.

 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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