Christiane Mielck-Retzdorff

Vom Himmel hoch


 
Fortsetzung der Satire „Rudi ratlos“, die im Anschluss zum besseren Verständnis noch einmal abgedruckt ist.
 
 
 
Es war der vierte Advent und der strahlend blaue Himmel lud die halbe Gemeinde zu einem Bummel über den Weihnachtsmarkt ein. Es duftete nach Glühwein und gebrannten Mandeln. Von allen Seiten erklangen Weihnachtslieder so auch „Vom Himmel hoch da komm ich her“. Rudi war zufrieden und hatte sich für seinen großen Auftritt mächtig herausgeputzt. Sein schon leicht ergrautes Haar glänzte nun in ebenholzfarbenem Schwarz. Er trugt einen sauberen weißen Anzug und sogar weiße Turnschuhe. Welche aus Lack konnte er in dieser Farbe in dem begrenzten Angebot des örtlichen Ladens nicht finden.
 
Nur die dichte Enge der vielen Buden beunruhigte ihn ein wenig. Wenn er sein Leben auf einem der hölzernen Dächer aushauchte, würde der laute Knall vielleicht in dem Geschwirr aus Stimmen und Lachen untergehen. Außerdem würde niemand sehen können, wie sich sein Blut über dem weißen Anzug verteilte. Er wollte aber mit seinem Sprung von dem Dach des Verwaltungsgebäudes nicht nur sterben, sondern der Nachwelt das unvergeßliche Bild eines Kunstwerkes hinterlassen. Das Foto von seinem Leichnam sollte um die ganze Welt gehen. Er träumte von der Überschrift „ein gefallener Engel“ oder „männliches Schneewittchen, das niemand mehr erwecken kann“.
 
Trotz seiner außergewöhnlichen Erscheinung blieb Rudi unter den Besuchern des Weihnachtsmarktes weitgehend unbemerkt. Zwar tuschelten einige und andere kicherten, aber niemand hielt ihn auch nur eines Grußes für wert. Viele gaben ihm sogar die Schuld an der Massenschlägerei, wo so viel zu Bruch gegangen war und es zahlreiche blauen Augen und gebrochene Nasen gegeben hatte. Auch damals wollte Rudi sich von Dach stürzen, aber das machte für ihn dann wenig Sinn mehr, weil ja sowieso niemand hinschaute und alle mit sich selbst beschäftigt waren. Doch heute würde sein Plan aufgehen. Niemand würde sich so kurz vor dem friedlichen Weihnachtsfest prügeln wollen. Und auch der Pfarrer hatte ein wachsames Auge auf seine, reichlich dem Glühwein zusprechenden, Schäfchen.
 
Flinken Schrittes und voller Vorfreude eilte Rudi die Stufen hinauf zum Dach. Diesmal genoß er aber nicht die Aussicht, sondern machte sich gleich daran, von oben einen geeigneten Platz zwischen den Buden auszumachen. Das war gar nicht so einfach, und er schritt aufmerksam spähend die Dachkante entlang. Dabei war er so konzentriert, dass er nicht wahrnahm, dass ein Kind laut rief:
„Schau mal, Mama, ein Engel!“
Doch die Frau ermahnte ihren wild am Ärmel zupfenden Sohn, endlich brav zu sein, sonst gäbe es keine Geschenke von Weihnachtsmann.
Während Rudi so auf und ab ging, hörte er plötzlich ein leises Schluchzen. Ungehalten über die Störung sah er sich um. In der Mitte des Daches hockte eine Frau, eingehüllt in einen dicken Wintermantel. Rudi wurde bewußt, dass er begann in seinem Anzug zu frieren. Ein Kältetod oben auf dem Verwaltungsgebäude war nun das Letzte, was er wollte. Er mußte sich beeilen. Aber was suchte die fremde Person hier?
„Verlassen sie sofort das Dach“, forderte er die Weinende in harschem Ton auf.
Sie schaute ihn aus verheulten Augen an und schüttelte dann energisch den Kopf.
„Lassen sie mich allein“, schrie die Frau Rudi an.
„Sie dürfen nicht hier sein“, schrie Rudi zurück. „Das ist ein offizielles Gebäude, zu dem nur Verwaltungsangestellte Zutritt haben:“
„Wieso, meinen sie wohl, habe ich einen Schlüssel“, entgegnete sie entrüstet. „Sie haben hier nichts zu suchen. Ich kenne sie auch gar nicht.“
Rudi vergaß nie seine gute Erziehung und stellte sich höflich als der örtliche Leiter des Archivs vor.
„Und ich bin Susi und arbeite seit 5 Jahren in der Schreibstube.“
Allgemeine Ratlosigkeit machte sich breit angesichts der Tatsache, dass die beiden Kollegen waren.
„Und was machen sie hier“, fragte Rudi schließlich.
Wieder begann die Frau zu weinen.
„ Es ist Weihnachtszeit, und ich bin ganz allein. Niemand nimmt Notiz von mir. Dabei bin ich immer hilfsbreit und niemandem eine Last.“
Rudi fröstelte.
„Das kenne ich, aber nun gehen sie mal schnell runter zum Weihnachtsmarkt. Da treffen sie bestimmt Bekannte. Ich habe nämlich noch etwas vor.“
„Bestimmt sind sie zu einer Adventsfeier eingeladen“, jammerte die Frau. „ Nur mich will keiner um sich haben.“
„Nun seinen sie mal nicht wehleidig. Wer will denn schon eine so traurige Frau zu sich einladen. Sein sie fröhlich und nett, dann haben sie auch Gesellschaft.“
Langsam wurde Rudi ungeduldig und sein Körper begann vor Kälte zu zittern.
„Können sie mich nicht mitnehmen zu ihrer Verabredung?“ fragte Susi zaghaft.
„Dort, wo ich hingehe, will ich niemanden mitnehmen.“
Plötzlich schien es der Frau zu dämmern.
„Sind sie nicht der Mann, der auf dem Dach stand und dadurch eine Massenschlägerei verursacht hat?“
„Und wenn es so wäre, was geht es sie an.“
„Dann wollen sie sich vielleicht heute vom Dach stürzen. Das trifft sich gut. Wir können ja gemeinsam springen.“
„Sind sie verrückt. Sie sind ja nicht einmal passend gekleidet.“
„Doch“, erwiderte die Frau strahlend und lüftete ihren Mantel. Darunter kam ein sehr hübsches weißes Kleid zum Vorschein. Und nun bemerkte Rudi auch, das unter ihrer Wollmütze ebenholzfarbene, schwarze Haare hervorblitzten. Sein Zittern vor Kälte wurde stärker.
„Sie hätten ruhig einen Mantel überziehen können“, bemerkte die Frau mitfühlend. „Den kann man ja vor dem Sprung ablegen.“
„Dafür ist es nun zu spät“, stellte Rudi wütend fest.
Die Frau stand auf.
„Vielleicht sollten wir erstmal einen Glühwein trinken, damit sie sich aufwärmen können.“
Rudi war so eisig kalt, dass er meinte, auch seine Gedanken wären bereits eingefroren. Beinahe willenlos ließ er sich von der Frau an die Hand nehmen. Und eh er sich versah, stand er unter einem Gasheizungsstrahler mit einem Glühwein in der Hand. Mit Genuß nahm er wahr, wie die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. Susi kuschelte sich an ihn und ein behagliches Gefühl umfing Rudis Herz.
Plötzlich hörte er einen Jungen sagen: „Guck mal, Mama, da ist der Engel, den ich auf dem Dach gesehen habe.“ Und der Knabe zeigte auf Susi.
 
 
Rudi ratlos
 
 
Von hier oben hatte Rudi eine weiten Blick über die Landschaft hinter der kleinen Gemeinde. Dort lagen die grünen Weiden in das Sonnenlicht eines erstaunlich warmen Herbsttages getaucht, während sich die Blätter der Bäume langsam gelb und rot färbten. Eigentlich eine schöne Ansicht, aber viel wichtiger war Rudi, was sich sechs Stockwerke unter seinen Zehenspitzen abspielte. Er hatte vorher vermutet, dass der Marktplatz an diesem Sonntag belebt sein würde. Alle wollten auf den Außenplätzen der Cafes und Biergärten den vielleicht letzten sommerlichen Tag genießen. Der Pfarrer belohnte seine sonntägliche Pflichterfüllung mit einem Schoppen Wein. Andere ehrenwerte Bürger hatten dem Bier schon reichlich zugesprochen. Die Damen hatten sich herausgeputzt und löffelten ein mit Likör verfeinertes Eis. Und einige gelangweite Kinder bauten Türme aus Pappuntersetzern.
 
Zwei unbeschäftigte Buben schauten als erste gen Himmel, wo ein Bussard kreiste und entdecken Rudi an der Kante des Flachdaches des häßlichen Rathausneubaus. Stumm sahen sie zu ihm hinauf. Natürlich kannten sie ihn, den ledigen Mittvierziger, der das Archiv der Gemeinde betreute. Immerhin war der Mann hier aufgewachsen. Die beiden tuschelten, wollten aber ihre Entdeckung für sich behalten. Sie ahnten, warum der Mann auf dem Dach stand und warteten gespannt auf das weitere Geschehen. Doch Rudi war das eindeutig zu wenig Aufmerksamkeit. Wenigstens einmal sollten alle diese Menschen zu ihm aufblicken. Er hatte Zeit. Doch irgendwann verloren die Buben die Geduld. Laut sagte der eine von ihnen:
„Wann springt er denn endlich?“
Keiner der am Tisch munter plaudernden Leute hörte jedoch seine Worte. Dafür schimpfte der Zweite: „Halt die Klappe!“
Dieser unflätige Satz ließ dessen Mutter aufhorchen.
„So spricht man nicht mit anderen Menschen“, ermahnte sie ihn streng. Aber dann folgte sie seinem Blick gen Himmel und sah nun auch Rudi an dem Rande des Daches stehen.
„Da oben“, schrie die Frau panisch. Nun schauten immer mehr Leute zu Rudi hinauf, und er lächelte zufrieden.
„Das ist ja der Rudi. Was macht der denn da?“
„Vielleicht die Aussicht genießen.“
„Blödsinn, der will runter springen.“
„Woher willst du denn das wissen. Die kennst ihn doch kaum.“
Mittlerweile hatte sich die Menge zu einer Menschentraube zusammengefunden und starrte aufgeregt nach oben. Die Kellner standen recht ratlos mit ihren gefüllten Tabletts herum, weil die Tische sich geleert hatten. Von der Mitte des Marktplatzes hatte man eindeutig eine besseren Sicht.
„Wann springt er denn nun endlich“, nörgelte der eine Junge ungeduldig.
„Wir müssen die Freiwillige Feuerwehr informieren.“
„Die haben doch heute ihr Grillfest.“
Schon rannte eine Frau los und riß unter den entsetzten Blicken der Kellner die Decken von einigen verwaisten Tischen, wobei Kaffeetassen Bierseidel und Teller umherflogen. Begeistert rief sie dabei aus: „Wir müssen ein Sprungtuch zusammenknoten.“
„Du alberne Spinatwachtel, das hält doch nie.“
„Du nennst meine Frau nicht alberne Spinatwachtel“, ereiferte sich der Ehegatte und plazierte einen gekonnten Faustschlag in dem Gesicht des Unverschämten. Dieser wankte fiel aber nicht um, sondern rächte sich ebenfalls mit seiner Faust. Ein anderer wollte schlichten, wurde aber von einem unaufmerksamen Seitenhieb getroffen. Das rief seinen Bruder auf den Plan, der nun seinerseits mit Gewalt in das Geschehen eingriff. Während dessen versuchte ein Kellner die Tischdecken zurückzuerobern, wurde aber durch den Schlag mit einem Bierseidel auf den Kopf außer Gefecht gesetzt. Das konnten seine Kollegen nicht dulden. Verzweifelt versucht der Pfarrer durch salbungsvolle Worte die friedliche Ordnung wieder herzustellen. Ein heftiger Tritt gegen sein Schienenbein, dessen Verursacher er im Getümmel nicht ausmachen konnte, ließ ihn sein Heil in der Flucht suchen, während um ihn herum die Fäuste flogen und erste Blutstropfen fielen.
 
Ober auf dem Dach stand noch immer Rudi und betrachtete voller Enttäuschung des heftige Treiben. Mütter, die sich in die Keilerei nicht einmischen wollten, brachten ihre Kinder in Sicherheit. Manch Mobiliar der Cafes brach unter der Last umstürzender Gäste zusammen, während anderes als Waffe oder Wurfgeschoß diente. Keiner interessierte sich mehr für die selbstmörderischen Absichten des armen Mannes hoch oben. So hatte sich Rudi seinen Abgang nicht vorgestellt. Vermutlich würde gar keiner bemerken, wenn er sich hinabstürzen und zwischen den Raufenden zerschellen würde. Aber es sollte doch sein großer Auftritt werden. Wieso nahm nie jemand von ihm Notiz? Ziemlich niedergedrückt stieg Rudi vom Dach und trat den Heimweg an. Er mußte seinen Plan auf einen anderen Tag verschieben. Vielleicht beim Weihnachtsmarkt. Da singen sie doch immer: Vom Himmel hoch da kommt ich her.
 
 
 
Inspiriert durch die Schlagzeile „Massenschlägerei bei Selbstmordversuch“ bezogen auf ein Ereignis in Lörrach.
  
 
     

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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