Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 37

 

Angesichts dieser unerfreulichen Aussicht verzichteten die Gefährten auf die Einnahme eines Frühstücks und machten sich unter den ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens wieder auf den Weg. An die Erlebnisse der vergangenen Nacht erinnerten nur noch vereinzelte Nebelschwaden, die an besonders schattigen Stellen über dem Wasser schwebten. Die Bedrohung, die mit dem Nebel gekommen war, hatte sich in Luft aufgelöst. Es war, als hätte die Sonne alles Böse der Nacht ausgelöscht. Nur der Sumpf war noch immer so tückisch wie zuvor.

 

Wie schon am vergangenen Tag hatten sie auch diesmal ausgiebig Gelegenheit, diverse, sich als Sackgasse entpuppende Wasserwege in dem nicht enden wollenden Sumpfdelta zu erforschen. Entsprechend schlecht war die Stimmung, als sie am Mittag noch immer keinen Ausweg aus dem Labyrinth aus Wasserpflanzen gefunden hatten, zumal die sengende Mittagssonne unbarmherzig auf sie herab brannte. Die Luft war inzwischen so schwül, daß die Gefährten kaum noch Luft bekamen. Michael kam es vor, als befände er sich in einer gigantischen Sauna. Am meisten litt der Wühler. Hechelnd, alle viere von sich gestreckt, lag er in der Mitte des Floßes auf der Seite und schien jedes Interesse an seiner Umwelt verloren zu haben. Michael konnte es ihm nachfühlen. Die Gegend war wirklich der Vorhof zur Hölle.

Nach einer weiteren Stunde anstrengenden Stakens durch den vor Hitze starrenden Sumpf verschwanden nun nach und nach die sumpfigen Inseln aus Schilfgras und machten dafür einer weiten Wasserfläche Platz, deren Oberfläche völlig unbewegt war und nicht nur Michael ein ungutes Gefühl vermittelte. Das andere Ende dieses Sees verschwand im flirrenden Dunst, der in der Mittagshitze über dem Wasser lag.

Eine nicht zu erklärende Angst kroch plötzlich Michaels Rücken empor, als er auf die weite, unbewegte Wasserfläche hinaus blickte, in der sich die wenigen, in dem azurblauen Himmel wie hingetupften Wolken spiegelten. Das Ganze wirkte friedlich, aber sein Instinkt sagte ihm, daß dieser Eindruck täuschte. Irgend etwas war dort draußen und beobachtete sie, das konnte er spüren. Sie waren im Begriff, einen See inmitten des Sumpfgebietes zu überqueren, von dem niemand sagen konnte, wie breit er war, noch wie tief, geschweige denn, was sich in ihm verbarg. Leider gab es keine Alternative. Sie mußten diesen See überqueren. Entsprechend vorsichtig stakten sie auf die unbewegte Wasserfläche hinaus, bis das Wasser zu tief wurde und sie ihre behelfsmäßigen Paddel einsetzen mußten, um überhaupt noch vorwärts zu kommen. Zwar ließen sie nun den allgegenwärtigen Schilfgürtel hinter sich. Dafür mußten die Reisenden zu ihrem Leidwesen nun aber feststellen, daß das Floss alleine Mithilfe der Ruder deutlich schwerer von der Stelle zu bewegen war. Sie waren vom Regen in die Traufe gekommen, so daß diejenigen, die gerade mit Rudern beschäftigt waren, vor Anstrengung in der brütenden Hitze zu stöhnen anfingen.

Als Streitaxt den erschöpften Michael am Ruder ablöste, fiel dem plötzlich auf, daß einer der wenigen, vermoderten Baumstämme, die hier und dar im Wasser trieben, plötzlich langsam unter die Oberfläche versank. Überrascht sah er genauer hin und entdeckte dabei, daß es sich bei dem vermeintlichen Rest eines Baumes um einen schuppigen Schädel handelte. Gerade noch erhaschte er einen Blick auf ein paar monströse Zähne, bevor der Schädel vollständig unter Wasser versank. Das Herz sank ihm in die Knie. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, war dort gerade eine Art Krokodil abgetaucht, allerdings ein Exemplar von gigantischem Ausmaß. Alleine die monströsen Kiefer waren ihm deutlich länger als einmeterfünfzig erschienen. Was das für die gesamte Länge des Tieres bedeutete, versetzte Michael in nackte Panik.

"Achtung, im Wasser lauert ein Krokodil!", rief er daraufhin mit sich überschlagender Stimme den Gefährten zu, die ihn verständnislos ansahen.

"Ein was?", fragte Glyfara mit gekräuselter Stirn. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß vom Gesicht, während sie aufmerksam die Wasseroberfläche absuchte. Statt eine Antwort zu geben, wies Michael auf einen weiteren Schädel, der auf der anderen Seite des Floßes gerade abtauchte. Deutlich waren die großen, spitzen Zähne zu sehen, die seitlich aus den gewaltigen Kiefern herausragten und dem Tier ein furchteinflößendes Aussehen verliehen, bevor das schwarz wirkende Wasser über ihm zusammenschlug.

"Alle Wetter, was war das denn für ein Vieh?", grummelte Grimmbart beeindruckt, der sein Paddel sofort gegen die Axt eintauschte und auf die Stelle starrte, an der das Tier versunken war.

"Keine Ahnung. Aber die Viecher sehen groß genug aus, um ein ganzes Boot zu verschlingen. Sie erinnern mich an Salzwasserkrokodile. Solche Viecher greifen kleine Boote an und verschlingen sie mitsamt der Besatzung. Nur sind die im Verhältnis zu diesen Prachtexemplaren gerade zu winzig, und ich fürchte, diese Monster haben uns gerade auf die Speisekarte gesetzt", klärte Michael die Gefährten auf, während er nervös die trügerisch ruhige Wasserfläche absuchte.

"Schlecht", kommentierte der Wühler, der bei dem Anblick des versinkenden Schädels wieder munter geworden war und nun die Zähne fletschte. Glyfara tätschelte ihm beruhigend den Kopf.

"Woher weißt du so viel über das Verhalten dieser Viecher?", fragte Streitaxt mißtrauisch, dem die Vorstellung, mitsamt ihres schwimmenden Unterstandes gefressen zu werden, nicht gerade behagte.

"Aus dem Fernsehen", erwiderte Michael, dessen Stimme vor Nervosität zitterte, wie die Schwinge eins Kolibris auf Nektarsuche. In diesem Moment geriet das Floss plötzlich ins Schwanken, als es von unten einen kräftigen Stoß bekam.

"Was soll das?", fluchte Glyfara verärgert, während sie darum bemüht war, nicht den Halt zu verlieren. Hätte in diesem Moment auch nur einer der Gefährten in der Nähe des Flossrandes gestanden, wäre er mit Sicherheit über Bord gegangen.

"Keine Ahnung, vielleicht testen sie uns", vermutete Michael, der sorgfältig die Wasseroberfläche auf einen Hinweis für einen bevorstehenden Angriff musterte. Doch die blieb noch immer trügerisch ruhig.

"Das sind Jäger. Bewegungen reizen sie zum Angriff", erläuterte Michael in Erinnerung an seine letzte Biologieprüfung, "und unser Floss hat sich bis eben noch bewegt. Damit sind wir potentielle Beute für sie. Jetzt prüfen sie, ob wir auch eßbar sind. Achtung, macht jetzt bloß keine Bewegung!", warnte Michael, als plötzlich etwas Großes seitlich am Floss vorbei glitt. Deutlich war der muskulöse, gezackte Rücken des Tieres zu erkennen. Ob es das Gleiche war, das ihnen den heftigen Stoß versetzt hatte, konnte er nicht sagen. Zumindest war es groß genug dafür. Die kraftvollen Bewegungen des gut fünfzehn Meter langen Tieres brachten selbst das massive Floss zum Schaukeln.

"Bei der ewigen Axt, es ist länger als unser fahrbarer Untersatz", staunte Streitaxt, als das Ungeheuer an ihnen vorbei glitt.

"Mal sehen, ob es auch so stabil ist", knurrte Grüneich, der die Tötzwanzig von der Schulter nahm und durchlud. Michael winkte ab.

"Das ist sinnlos. Deine Bolzen würden an der dicken Panzerung nur wirkungslos abprallen. Du hast nur eine Chance, wenn der Bolzen entweder durch ein Auge oder durch das Gaumendach direkt ins Gehirn eindringt, alles andere kannst du vergessen, falls mich meine Erinnerung nicht täuscht und diese Biester über die gleiche Anatomie verfügen, wie die Krokos bei uns zu Hause."

"Wie gut, daß ich so ausgezeichnet zielen kann", murmelte Glyfara, die mit ihrem Bogen bewaffnet Aufstellung in der Mitte des Floßes nahm, während Grüneich enttäuscht seine Tötzwanzig betrachtete. Fassungslos überlegte er, ob dies wirklich das erste Mal sein sollte, daß ein Widersacher seiner geliebten Waffe widerstehen konnte. Das was nicht gerade beruhigend.

Auch dem Rest der Gefährten war alles andere als wohl zumute, als sie sich strategisch auf dem Boot verteilten, sorgfältig darum bemüht, dem Rand des Floßes nicht zu nahe zu kommen. Dann warteten sie, während ihnen der Schweiß über die Gesichter lief. Doch die Minuten dehnten sich dahin, ohne daß etwas passierte. Lediglich ein leichtes Kräuseln des Wassers verriet gelegentlich, daß ihre Gegner noch immer anwesend waren, sie umkreisten, taxierten.

"Warum greifen sie nicht an?", fragte Glyfara nervös.

"Vielleicht wissen sie nicht, was sie machen sollen. Kommt wahrscheinlich nicht häufig vor, daß eine derart große Mahlzeit durch ihr Revier schwimmt. Das verwirrt sie", vermutete Michael.

"Irgendwann müssen sie ja mal wieder auftauchen, und dann erledigen wir sie", brummte Grüneich, der einfach nicht glauben wollte, daß seine geliebte Tötzwanzig nutzlos sein sollte und nun auf die Wasseroberfläche zielte. Irgendeiner der Bolzen würde schon sein Ziel finden. Er mußte eben nur bis zum letzten Moment warten, überlegte er.

"Irgendwann schon, aber das kann dauern. Die Biester können wahrscheinlich stundenlang unter Wasser bleiben", gab Michael zu Bedenken und sorgte mit dieser Vermutung dafür, daß sich die Laune der Gefährten weiter verschlechterte. Doch auf einmal wurde Grimmbart auf der rechten Seite des Floßes auf etwas aufmerksam.

"Ich glaube, jetzt tut sich etwas. Haltet euch lieber fest", warnte er. Tatsächlich kräuselte sich das Wasser nun in einiger Entfernung heftig, als wenn etwas sehr Großes mit Zielrichtung auf das Floss unter Wasser Geschwindigkeit aufnehmen würde, eine kleine Bugwelle vor sich herschiebend.

"Komm zu Papa", brummte Grüneich, der in grimmiger Erwartung seine Tötzwanzig tätschelte. Aber die Gefahr drohte aus einer ganz anderen Richtung. Während sich alle auf die näher kommende Bugwelle konzentrierten, erhielt das Floss plötzlich ohne Vorwarnung einen gewaltigen Schlag von unten, der es gut einen Meter aus dem Wasser katapultierte und die Gefährten zu Fall brachte. Alle klammerten sich verzweifelt irgendwo fest und es kam einem Wunder gleich, daß keiner über Bord ging, als das Floss zurück auf die Oberfläche des Sees krachte. Dafür tauchte nun in perfekter Choreographie das zweite Ungeheuer auf und schoß wie ein Torpedo aus dem Wasser, geradewegs auf Grüneich zu, der noch leicht benommen auf dem Flossboden lag. Der weit aufgerissene Rachen mit den gut dreißig Zentimeter langen Zähnen fuhr wie ein Hammer auf den Amboß auf das Floss herunter und schüttelte die Gefährten erneut durch. Grüneich gelang es im letzten Moment, sich zur Seite zu wälzen und so den zuschnappenden Kiefern zu entgehen, die statt seiner nunmehr den Proviantsack erwischten, bevor sich der Angreifer ins Wasser zurückzog.

"Das war verdammt knapp!", fluchte Glyfara, die keine Chance gehabt hatte, ihren Bogen einzusetzen.

"Zu knapp für meinen Geschmack", stimmte Grimmbart zu.

"Und jetzt hat sich das Vieh auch noch unseren letzten Proviant geschnappt", stellte Streitaxt fest.

"Besser ihn als uns", brummte Grüneich.

"Ich fürchte bloß, daß denen das nicht reichen wird", sagte Michael düster.

"Gefräßig", brummte der Wühler anklagend.

"Wir müssen uns etwas einfallen lassen, sonst sind wir erledigt", brachte Glyfara hektisch hervor.

"Ja, und das möglichst schnell, denn der Tanz geht von vorne los", knurrte Grimmbart, der erneut das verräterische Kräuseln im Wasser entdeckt hatte.

"Alle in die Mitte, und haltet euch gut fest", befahl Grüneich, dann war eines der Ungeheuer auch schon heran. Diesmal erfolgte der Angriff von hinten. Als der Jäger wie ein Drachen aus der Unterwelt aus dem Wasser in die Höhe schoß registrierten die Gefährten entsetzt, daß dieses Tier deutlich größer war, als sein Vorgänger. Wahrscheinlich handelte es sich um das männliche Tier.

Der riesige Kopf samt Vorderleib krachte auf das Floss herunter und drückte so den hinteren Teil unter Wasser, während der vordere zugleich aus dem Wasser gehoben wurde. Auf diese Weise verwandelte sich das Floss in eine schlüpfrige Rutschbahn, an deren Ende ein düsterer Tunnel mit unterarmlangen Zähnen auf die Gefährten wartete. Ein heiseres Fauchen erklang aus dem geöffneten Schlund, als die Bestie versuchte an die Gefährten heranzukommen, die sich verzweifelt Mithilfe von Äxten, Zähnen und Fingern an den schlüpfrigen Boden krallten. Doch dem Wüten der Bestie hatten sie wenig entgegen zu setzen.

Als erster verlor Grüneich den Halt, die Tötzwanzig noch immer in der Hand haltend. Kopfüber rutschte er auf den geöffneten Schlund zu, die Tötzwanzig im Anschlag. Mit grimmiger Entschlossenheit betätigte er im letzten Augenblick den Auslöser, worauf binnen des Bruchteils einer Sekunde zwanzig stählerne Bolzen mit brachialer Gewalt das Gaumendach des Monsters durchschlugen und sein Gehirn in einen blutigen Brei verwandelten. Die Kiefer der tödlich verwundeten Echse klappten reflexhaft aufeinander und schlossen sich wie ein Schraubstock um dem Lauf der Tötzwanzig, während sie zugleich rückwärts von dem Floss katapultiert wurde. Grüneich, der seine geliebte Waffe nicht loslassen wollte, wurde daraufhin ebenfalls vom Boot befördert. Er schlug im selben Moment wie das Floss aufs Wasser auf.

"Grüneich!", brüllte Michael aus Leibeskräften, während er sich benommen von dem Schock des Angriffs aufrappelte und die brodelnde Wasseroberfläche beobachtete, wo die Bestie ihr Leben aushauchte.

"Da, er lebt", rief Grimmbart.

In der Tat tauchte der kahle Kopf des Trolls aus dem schäumenden Wasser auf, das sich allmählich rot färbte. Mit kräftigen Schwimmbewegungen hielt er auf das Floss zu. Michael geriet bei diesem Anblick in nackte Panik, wußte er doch, daß die Bewegungen des Trolls sofort die Aufmerksamkeit des anderen Jägers wecken würde.

"Stopp", brüllte er verzweifelt, als er das bekannte, verräterische Kräuseln der Wasseroberfläche bemerkte. Der verbliebene Jäger war wieder aufgetaucht. "Beweg dich ja nicht, er ist direkt hinter dir!" Sofort fror Grüneich jede Bewegung ein, während er zum ersten Mal in seinem Leben echte Angst verspürte. Mit stummen Entsetzen verfolgen die Gefährten, wie das riesige Tier unter dem Troll hinweg auf die Stelle zuglitt, wo sein toter Artgenosse nun mit dem Bauch nach oben in dem rötlich gefärbten Wasser trieb. Offenkundig wollte er zunächst erkunden, was mit seinem Gefährten passiert war.

"Beeil dich, er ist im Augenblick abgelenkt", rief Grimmbart, doch Michael widersprach.

"Zu riskant, bleib wo du bist, wir müssen uns etwas anderes ausdenken", sagte er. Grüneich sah das ähnlich. Zwar befand sich die ohnehin nur fragliche Sicherheit des Floßes in greifbarer Nähe, trotzdem wagte der Troll nicht, die letzten Meter hinter sich zu bringen. Auch er hatte gesehen, wie schnell diese Biester waren. Inzwischen hatte Michael an seinen Kampfstab ein kurzes Seil gebunden und hielt diesen nun wie eine Angel über die Wasseroberfläche, wobei er den Stab vorsichtig hin und her schwang, um eine Pendelbewegung des Seils zu erreichen. Der Troll, der inzwischen reglos auf dem Rücken trieb, begriff, was Michael vorhatte. Langsam hob eine Hand aus dem Wasser, worauf Michael das Seil zu ihm hinüber schnellen ließ. Sie hatten Glück. Grüneich erwischte es gleich beim ersten Mal.

"Wir ziehen dich jetzt langsam rüber", sagte Michael, worauf der Troll zustimmend nickte. Mithilfe Grimmbarts holte Michael nun seinen Fang Zentimeter für Zentimeter ein, immer darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit des Jägers zu wecken. Mit Galgenhumor wurde ihm dabei klar, daß er aus der Sicht ihres Gegners eine Angel ausgeworfen hatte, mit einem besonders fetten Wurm daran.

"Beeilt euch", zischte Glyfara nervös, die den Jäger im Auge behalten hatte, um die Gefährten rechtzeitig zu warnen. "Das Vieh ist wieder untergetaucht."

Tatsächlich war der Jäger, der seinen Artgenossen eben noch umrundet und irritiert angestupst hatte, plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Das war alarmierend.

"Glyfara, bleib am Bug. Streitaxt, du übernimmst die Heckpartie. Wühler, du bewachst den linken Flügel und wir behalten diese Seite im Auge. Der Tanz geht anscheinend noch weiter", befahl Grimmbart mit angespannter Stimme. Sofort bezogen die Gefährten Stellung, während Michael und Grimmbart endlich den Troll längsseits holten. Allerdings erhielten sie keine Gelegenheit mehr, ihn an Bord zu hieven.

"Oh, oh", hörten sie nur noch den Wühler brummen, der als erster den riesigen Schatten aus der Tiefe des Sees aufsteigen sah. Dann erhielt das Floss auch schon einen gewaltigen Schlag, der es weit aus dem Wasser heraus katapultierte. Der Klang brechenden Holzes eiferte mit den Schreien der Gefährten um die Wette. Überrascht von dem brutalen Angriff, flog der Wühler im hohen Bogen vom Floss und ging mit einem entsetzten Quietschen etliche Meter weiter im Wasser unter. Auch Michael und Glyfara wurden beinahe über Bord gespült, als das Floss mit einem gewaltigen Platschen der Schwerkraft gehorchte und zurück ins Wasser fiel. Lediglich die Zwerge hatten den Angriff einigermaßen unbeschadet überstanden, in dem sie blitzschnell ihre Äxte ins Holz getrieben und sich daran festgeklammert hatte. Nun suchten sie mit wilden Blick das schäumende Wasser nach dem untergetauchten Feind ab, während Grüneich die Situation nutzte und zurück an Bord kletterte. In diesem Moment tauchte der Wühler hilflos paddelnd in dem aufgewühlten Wasser auf.

"Hilfe", quietschte er in Todesangst, während er Wasser tretend versuchte, das Boot zu erreichen.

"Das schafft er nie", rief Michael. Panik spiegelte sich in seinen Augen, als er plötzlich auf der anderen Seite des Floßes das verräterische Kräuseln bemerkte. Ihr Gegner glitt geradewegs unter ihrem Floss hindurch auf den Wühler zu. Er wollte jetzt endlich Beute machen.

Inzwischen hatte auch Glyfara die Gefahr erkannt. Zur Überraschung der Gefährten sprintete sie quer über das rutschige Floss auf die Stelle zu, wo der Jäger mit Kurs auf den Wühler auftauchte. Entsetzt mußten die Gefährten mit ansehen, wie die wendige Elbin mit einem gewaltigen Satz vom Floss sprang und elegant gleich hinter dem Kopf auf dem Rücken des Jägers landete, wo sie sich sofort rittlings niederließ und ihr Schwert zückte.

"Das ist Wahnsinn", entfuhr es Grüneich beim Anblick des wohl ungewöhnlichsten Ritts, den er in seinem Leben gesehen hatte.

"Sie opfert sich für uns", brummte Streitaxt beeindruckt.

Derweil versuchte der Jäger den ungewohnten Ballast auf seinem Rücken abzuschütteln, doch so weit er den Kiefer auch aufriß, er konnte die unliebsame Reiterin nicht erreichen. Ähnlich erging es Glyfara, die feststellen mußte, daß es nahezu unmöglich war, sich gleichzeitig auf dem bockenden Tier zu halten und ihm das Schwert ins Auge zu rammen. Allmählich fragte sie sich, ob dies wohl ihr letztes Abenteuer werden würde.

"Wir müssen etwas unternehmen", fuhr Michael die Gefährten an, die starr vor Staunen den dramatischen Zweikampf verfolgten. Selbst der Wühler hatte aufgehört zu quietschen.

"Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun?", fragte Grimmbart. "Wir haben ja noch nicht einmal mehr die Tötzwanzig von diesem haarlosen Unhold."

"Paß auf, was du von dir gibst, du haarige Miniaturausgabe", knurrte Grüneich, doch die Streithähne wurden sofort von Michael unterbrochen.

"Verdammt, seht euch das an", entfuhr es Michael, als er registrierte, wie der Jäger mit Glyfara auf dem Rücken abtauchte. Der Kampfschrei der Elbin hallte als letzter Ausdruck ihrer kämpferischen Entschlossenheit trotzig über den See, dann schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen, und die Gefährten mußten sich der Tatsache stellen, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der Jäger auch sie holen würde.

 

Glyfara hatte Todesangst. Ihr war klar, daß sie unter Wasser keine Chance hatte, denn dies war das Element des Jägers. Verzweifelt klammerte sie sich an die Rückenzacken des Jägers, der mit heftigen Bewegungen versuchte, sie abzuschütteln, jedoch ohne Erfolg. Verärgert stoppte er schließlich seine rasante Unterwasserfahrt und ließ sich auf den Grund nieder um zu warten, bis seinem lästigen Passagier die Luft ausgehen würde. Dann würde er zuschlagen. Glyfara war inzwischen zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen und umklammerte entschlossener denn je ihren Schwertknauf. Sie mußte die Sache jetzt zu Ende führen, selbst wenn sie bei dem Versuch sterben würde, denn eine zweite Chance würde sie nicht bekommen. Sie schluckte ihre aufkommende Panik hinunter und beugte sich langsam vor, während sie zugleich mit dem Schwert so weit es ging ausholte. Dann stieß sie mit der ihr letzten noch verbleibenden Kraft zu.

 

Auf der Wasseroberfläche hatten die Gefährten zwischenzeitlich den Wühler aus dem Wasser gefischt und suchten nun verzweifelt die Oberfläche nach einem Lebenszeichen ihrer Gefährtin ab. Michael schätzte, daß noch keine zwei Minuten vergangen waren, seit der Jäger abgetaucht war. Noch gab es also Hoffnung, daß die Elbin lebte, doch mit jeder Sekunde, die verstrich sank die Wahrscheinlichkeit dramatisch. In diesem Moment explodierte das Wasser förmlich, als keine fünfzig Meter entfernt plötzlich der Jäger wie ein Torpedo aus dem Wasser schoß und mit einem lauten Klatschen ins Wasser zurückfiel. Dort, wo sich sein Kopf befand, färbte sich das Wasser schnell rot. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die erschrockenen Gefährten das Schwert entdeckten, das bis zum Heft im rechten Auge des Jägers steckte. Das Blut stammte demnach nicht von der Elbin, aber wo steckte sie?

Plötzlich entdeckte Grüneich einen weißblonden Haarschopf, der unweit des toten Jägers aus dem Wasser auftauchte.

"Sie lebt", jubelte Michael beim Anblick der Elbin, die sichtlich Mühe hatte, sich über Wasser zu halten. Die Freudenrufe brachen abrupt ab, als die Elbin plötzlich wieder unter Wasser versank. Ohne weiter nachzudenken hechtete Michael ins Wasser und kraulte auf den Punkt zu, wo er Glyfara zum letzten Mal bemerkt hatte. Der tote Jäger ragte wie ein Boot vor ihm aus dem Wasser auf und wirkte selbst in diesem Zustand noch Furcht einflößend. Doch Michael verdrängte jeden Gedanken an ihn. Als er die Stelle erreichte, an der Glyfara versunken war, tauchte zu seiner Freude ihr Kopf für einen kurzen Moment wieder aus den Fluten auf. Sofort griff Michael energisch zu, während er zugleich beruhigend auf sie einredete. Doch die Elbin war selbst zu schwach zum Antworten.

"Das wird allmählich zur Routine", scherzte Michael, während er Glyfara im Rettungsgriff zurück zum Floss beförderte, wo sie hilfreiche Arme sofort aus dem Wasser zogen. Erschöpft folgte Michael ihr aufs Floss.

"Ich habe mich wohl ein wenig überschätzt", versuchte Glyfara scherzhaft, mit zitternder Stimme der Situation den Ernst zu nehmen. "Jedenfalls danke ich dir für deine Hilfe."

Michael nickte nur müde. Sein Blick glitt über die beiden toten Tiere.

"Die machen uns jedenfalls keine Schwierigkeiten mehr", brummte Streitaxt.

"Erledigt", knurrte der Wühler erfreut.

"Ja, und mit ihnen ein intaktes Ökosystem", murmelte Michael. Unwillig schüttelte er etwa aufkommende Zweifel an dem, was sie hier angerichtet hatten ab. Immerhin hatte ihr Leben auf dem Spiel gestanden. Eine Aufforderung Grüneichs, ihm beim Flottmachen des Floßes zu helfen, riß ihn aus seinen Gedanken und erinnerte ihn daran, daß sie sich noch immer auf einem Terrain befanden, das für sie weitere unliebsame Überraschungen bereithalten konnte. Also erhob er sich stöhnend und machte sich gemeinsam mit den Gefährten an die Überprüfung des Floßes. Zur allgemeinen Verwunderung hatte das Floss die Auseinandersetzung relativ unbeschadet überstanden. Michael mußte anerkennen, daß der Troll offenkundig tatsächlich etwas vom Flossbau verstand. Lediglich zwei der Stecken, mit denen sie das Floss durch flacheres Wasser gestakt hatten, waren ihnen abhanden gekommen. Nach dieser erfreulichen Bilanz nahm das Floss unter der Führung Grüneichs wieder Fahrt auf, nicht allerdings ohne daß der Troll zuvor dem ersten der getöteten Tiere die Tötzwanzig wieder entwendete, die noch immer zwischen den Kiefern des Ungetüms steckte. Michael hatte den Troll noch nie so glücklich gesehen wie in dem Moment, als er seine Waffe wieder in den Händen hielt. Zum allgemeinen Erstaunen verkündete er den Gefährten stolz, daß sie trotz ihres leicht mitgenommenen Äußeren immer noch voll funktionsfähig wäre. Michael war ein wenig unschlüssig, ob dies nun eine gute oder schlechte Nachricht war.

 

Während das Floss sich nun langsam aber stetig der gegenüberliegenden Seite des Sees näherte, wo dieser wieder in die schon leidlich bekannte Sumpflandschaft überging, überlegte nicht nur Michael, was sie noch alles in diesem Wald erwarten würde. Doch zum Grübeln blieb kaum Zeit, da die Gefährten auch hier mühsam etliche Male wieder umdrehen und neue schiffbare Passagen durch das grüne Dickicht ausprobieren mußten.

Im Laufe des Nachmittags sank der Wasserspiegel jedoch stetig, und nach und nach tauchten auch vereinzelt Bäume auf, die im Wasser standen. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie sich dem Ende des Sumpfes näherten.

Gegen Abend war der Wasserspiegel schließlich so weit zurück gegangen, daß sie das Floß nicht mehr von der Stelle bewegen konnten. Doch vom Waldrand, der noch ein gutes Stück entfernt lag, trennten sie immer noch eine gute Wegstrecke Sumpf. Widerwillig begaben sich die Gefährten daher in das brackige Wasser und legten nun das letzte Stück Weg zu Fuß zurück. Mit jedem Schritt versanken sie dabei bis zum Knöchel in dem fauligen Schlamm, der den Boden des Sumpfes bedeckte, und jeder Schritt kostete mehr Kraft als der vorangegangene. Michael wagte gar nicht erst seine Befürchtung, in dieser schlammigen Brühe könnten Blutegel und sonstige Kreaturen beheimatet sein, in Worte zu kleiden. Allein die Möglichkeit, daß der Troll dies bestätigen könnte, reichte ihm bereits vollauf.

Dankbar atmete er daher auf, als sie nach einigen hundert Schritten, die allen wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen waren, den ersten gigantischen Baum erreichten, dessen glitschige Wurzeln wie eine kleine Insel aus dem brackigen Wasser aufragten. Vorsichtig balancierten sie über die mannsdicken, uralten Wurzeln, bevor sie wieder in den Sumpf eintauchten und sich zum nächsten Baum durchschlugen. Auf diese Weise verging eine gute Stunde, bevor der Morast nach und nach zurückwich und trockenerem Boden Platz machte. So war es nicht verwunderlich, daß nicht nur Michael erleichtert war, als sie im schwindenden Licht des Tages endgültig den Sumpf hinter sich ließen und wieder in den Wald eintauchten.

"Ich bin erledigt!"

Mit einem Seufzen ließ sich Grimmbart auf dem Waldboden nieder und massierte sich die schmerzenden, von Schlamm verschmierten Beine. Als Zwerg hatten er und Streitaxt es auf dem letzten Wegstück am schwersten gehabt. Während Grüneich sich mit seiner Keule und der umgehängten Armbrust wie ein schwer bewaffneter Zerstörer seinen Weg durch den Sumpf gebahnt hatte, hatten die Zwerge Mühe gehabt, den Kopf über Wasser zu halten. Kein Wunder, daß sie fertig sind, dachte Michael. Doch Grüneich hatte da wenig Mitleid.

"Ausruhen könnt ihr euch später. Wir sollten erst einmal zusehen, daß wir noch ein Stück von diesem Sumpf wegkommen, bevor wir unser Lager aufschlagen", gemahnte er in Erinnerung an die Schrecken, die hinter ihnen lagen. Unwillig setzten sich die Gefährten daraufhin wieder in Bewegung, nicht jedoch ohne sich vorher zu vergewissern, daß sie keine unliebsamen Mitbringsel aus dem Sumpf dabei hatten.

Dann folgten sie Grüneich im Gänsemarsch durch den finsteren Wald, was sich zum allgemeinen Leidwesen als nicht minder anstrengend erwies, als das Vorankommen durch den Sumpf. Erleichtert atmeten die Gefährten daher auf, als der Troll nach geraumer Zeit schließlich entschied, unter einer besonders ausladenden Eiche das Lager für die Nacht aufzuschlagen. Schnell wurden gleich mehrere Feuer angezündet, denn die Erinnerung an die vergangene Nacht war noch frisch und man wollte gewappnet sein für den Fall, daß der unheimliche Nebel erneut auftauchen sollte. Wachen wurden aufgestellt, die aufmerksam den tiefschwarzen Wald jenseits des flackernden Feuerscheins beobachteten und ein Vorrat an Fackeln bereit gelegt, doch wider Erwarten verlief die Nacht ruhig, wenn man einmal davon absah, daß die Gefährten schlecht schliefen und Michael unter Alpträumen litt. Entsprechend gerädert erwachte er. Zu seinem Verdruß konnte er sich an den Inhalt seines Traumes nicht mehr erinnern. Alles, was ihm noch einfiel, war lediglich, daß der Wandler und die Valogs darin eine unerfreuliche Rolle gespielt hatten. Michael hoffte nur, daß dies keine böse Vorahnung gewesen war. Zumindest hatten sie in dieser Nacht keine abscheulichen Kreaturen überfallen, was angesichts der Erlebnisse der letzten Tage eine deutliche Verbesserung war.

Mit Schaudern dachte er an die Valogs zurück und hoffte inständig, daß die Flucht über den Sumpf ihre Spur verwischt hatte. Wieder wanderten seine Gedanken zurück zu seinem Traum. Mit Unbehagen überlegte er, wie wahrscheinlich eine Allianz zwischen den Valogs und dem Wandler war, falls dieser überhaupt noch am Leben war. Vielleicht wollte der Traum ihn vor etwas warnen. Einen Augenblick erwog er, darüber mit Glyfara zu sprechen. Doch die Aussicht, von ihr nicht ernst genommen zu werden, hielt ihn schließlich davon ab. Im Übrigen erweckten weder Glyfara noch die anderen Gefährten den Eindruck, als wenn sie im Augenblick düstere Prophezeiungen vertragen könnten. Die Stimmung war ohnehin eindeutig auf dem Nullpunkt angelangt.

Also machte er sich ebenso so schweigsam wie seine Gefährten zum Abmarsch bereit und folgte dem einsilbigen Troll dann erneut in die grüne Hölle des Düsterwalds, der sich alle Mühe gab, ihnen das Vorankommen schwer zu machen. Zu allem Überfluß fing es im Laufe des Vormittags auch noch an zu regnen, so daß sich der Waldboden in einen Morast verwandelte, der jeden Schritt zur Qual werden ließ.

Doch obwohl das Wetter ihnen das letzte abverlangte, führte Grüneich sie unerbittlich Kilometer um Kilometer durch das dichte Unterholz. Unterwegs hatte Michael mehrmals das Gefühl, beobachtet zu werden, und gelegentlich ließ das Geräusch von brechenden, trockenen Ästen die Gefährten erschrocken herumfahren, ohne daß sie jedoch erkennen konnten, wer die Geräusche verursacht hatte.

Gegen Mittag stießen sie erstmals wieder auf Spuren, die denen der Valogs verdächtig ähnelten und von Grüneich und Glyfara gründlich untersucht wurden.

"Sie sind schon zwei oder drei Tage alt", erklärte Grüneich, während er mit routiniertem Griff die Tötzwanzig von der Schulter nahm und durchlud. "Es könnten Ghule gewesen sein, oder ein weiteres Rudel Valogs. Das ist bei dem Zustand der Spur schwer zu sagen. Wir müssen ab jetzt eben noch vorsichtiger sein und die Wachen heute Nacht verdoppeln. Ich möchte nicht auf der letzten Etappe noch als Beute enden. Sehen wir also besser zu, daß wir weiterkommen."

Mit der Tötzwanzig im Anschlag übernahm Grüneich wieder die Führung. Der Anblick des schwer bewaffneten Trolls ließ die Erinnerung der Gefährten an ihre Begegnung mit den teuflischen Kreaturen wieder aufleben und sorgte dafür, daß sie in jedem Schatten eine Bedrohung sahen.

Als schließlich die Dämmerung hereinbrach und Grüneich eine kleine Senke für die Nacht als Lagerplatz aussuchte, waren alle heil froh, daß sich ihre Befürchtungen nicht bewahrheitet hatten. Schnell trugen die Gefährten Steine für den Feuerring und trockenes Holz herbei und waren dankbar, als Grimmbart über dem flackernden Feuer einen Tee aus ein paar Blättern zubereitete, die er noch in seinem Proviantvorrat entdeckt hatte. Als Michael schließlich einen heißen Becher Tee in den Händen hielt und seine schmerzenden Muskeln am Lagerfeuer wärmte, informierte Grüneich, der seine Tötzwanzig in Griffweite liegen hatte, sie über das, was noch vor ihnen lag.

"Wenn alles gut geht, werden wir in zwei Tagen den Wächterwall erreichen", teilte er ihnen zwischen zwei Schlucken Tee mit, worauf die Gefährten erleichtert seufzten. Dies war die erste gute Nachricht seit Tagen.

"Wird auch Zeit, daß ich endlich mal wieder ein vernünftiges Bett sehe", knurrte Grimmbart, dem das Liegen auf dem feuchten Waldboden inzwischen zuwider war. Doch die Erheiterung, die diese Bemerkung bei den Gefährten auslöste, wurde von Grüneich sogleich gebremst.

"Da wäre ich nicht so sicher. Vergeßt nicht, daß König Merwolin von Moorland zum Krieg rüstet. Jenseits des Waldes geraten wir immerhin in das Gebiet der Tahliner, die seit langem auf eine Gelegenheit warten, sich von der Abhängigkeit Felsenturms zu lösen. Schließlich kassiert Felsenturm für den Transport ihrer Waren über den Fluß nicht zu knapp von den Tahlinern, denen das schon lange ein Dorn im Auge ist. Viele wären daher glücklich, wenn der Wegezoll wegfallen würde. Vielleicht sehen sie deshalb in dem drohenden Krieg ihre Chance, sich Felsenturms zu entledigen und sind deshalb eine Allianz mit Moorland eingegangen, was für uns gefährlich werden könnte."

"Wieso?", fragte Michael irritiert. Streitaxt machte eine entsprechende Handbewegung über der Kehle.

"Weil man uns für Spione halten könnte."

"Das ist doch Unsinn", wandte Michael ein. "Mit Sicherheit können wir das erklären, sollten wir derart lächerlich verdächtigt werden."

"Das Problem daran ist nur, daß es sich mit durchschnittener Kehle schlecht argumentieren läßt", brummte Grüneich düster.

Darauf gab es nicht mehr viel zu erwidern. Als sich die Gefährten an diesem Abend zur Ruhe begaben, fragte sich nicht nur Michael besorgt, was sie jenseits des Düsterwalds erwarten würde.

 

Als die Nacht schließlich dem Herandämmern des neuen Tags wich und die Gefährten sich zu einem kargen Frühstück zusammenfanden, gingen Michael die Worte Grüneichs noch immer nicht aus dem Kopf. Es erschien ihm geradezu grotesk, daß sie, nach dem sie bisher alle Abenteuer gemeistert hatten, nun Gefahr laufen sollten, wohl möglich einem Trupp irregeleiteter Tahliner zum Opfer zu fallen.

"Es wäre gesünder für sie, einen Bogen um uns zu machen", knurrte Grimmbart und tätschelte demonstrativ das Schneideblatt seiner Axt, nachdem Michael ihn auf seine Befürchtungen hin angesprochen hatte. Michael bewunderte die Gelassenheit des Zwerges und wünschte, er könnte ebenso zuversichtlich mit drohenden Gefahren umgehen. Doch leider war er kein Söldner, dem das Kämpfen und die Gefahr Spaß bereiteten, und so folgte er grübelnd den Gefährten durch den Wald, wobei er nicht müde wurde, sich ständig nach etwaigen Gefahren umzusehen.

Die Nacht war zwar erfreulicher Weise ruhig verlaufen, und den Wachen war nichts Verdächtiges aufgefallen, trotzdem konnte sich das jeden Moment ändern, wie Michael noch lebhaft in Erinnerung hatte. Aber nicht nur zu seiner Freude, schien der Düsterwald im Augenblick das Interesse an ihnen verloren zu haben. Jedenfalls ereignete sich nichts Ungewöhnliches, nur das Gefühl, beobachtet zu werden, hielt sich hartnäckig. Zwar lauerten auch hier unzählige Gefahren, die für jeden Unbedachten tödlich wären, aber die Gefährten meisterten sie aufgrund ihrer inzwischen erworbenen Erfahrungen der letzten Tage in fast schon routinierter Form.

So verging der Tag und der darauf folgende, und allmählich registrierte Michael, daß der Wald stetig lichter wurde. Immer wieder umgingen sie jetzt kleine Lichtungen und erspähten gelegentlich in dem lichter werdenden Blätterdach sogar den azurblauen Himmel.

Bei diesen Gelegenheiten wurde Michael erst so richtig bewußt, wie sehr ihm dieser Anblick gefehlt hatte. Schließlich tauchte vor ihnen ein Bollwerk aus dornigen Pflanzen auf, das Michael nur allzu vertraut vorkam. Sie hatten den Wächterwall und damit tatsächlich das Ende des Düsterwalds erreicht. Allerdings konnte Michael keinen Durchlaß entdecken.

"Und wie sollen wir da durch kommen?", fragte er.

"Wir werden dem Wall einfach solange folgen, bis wir einen Durchlaß finden", beschied Grüneich trocken.

"Warum verschaffen wir uns nicht einfach gewaltsam Zutritt?", wollte Grimmbart wissen, wobei er demonstrativ seine Axt befingerte.

"Hast du schon vergessen, wozu dieser Wall fähig ist?", rügte Glyfara den grimmigen Zwerg.

"Bösartig", brummte der Wühler.

"Abgesehen davon gibt es Wege hindurch, man muß sie nur finden. Also laßt uns aufbrechen und keine Zeit mit unnötigen Diskussionen verschwenden", brummte der Troll und wandte sich um zum Gehen.

"Als wenn man mit diesem Klotz diskutieren könnte", knurrte Grimmbart und schloß sich den Gefährten an, die aufmerksam das dichte Pflanzenwerk betrachtend, dem Troll den Wächterwall entlang folgten, aber es sollte später Nachmittag werden, bevor Grüneich tatsächlich eine Lücke in der Pflanzenwand entdeckte, die breit genug aussah, um einen Versuch zu starten. Zum Glück stand die Sonne noch hoch genug, und so gab der Troll schnell noch letzte Anweisungen, bevor sie sich im Gänsemarsch in die schmale Lücke, die den hoch aufragenden Dornenwall teilte, hinein wagten. Beunruhigt registrierte Michael, der das Schlußlicht bildete, daß der Wall auf dieser Seite nicht nur abweisender und dichter wirkte, sondern offenbar auch wesentlich breiter war, als sein Pendant auf der anderen Seite des Waldes. Fast kam es ihm vor, als habe er einen grünen Schlund vor sich, dessen Ende sich im immergrünen Dämmerlicht des Waldes verlor. Michael schauderte, dann gab er sich innerlich einen Ruck und folgte den Gefährten, ohne sich noch einmal umzusehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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