Leila Schneider

Die Flügel des Pegasus



Bedrückende Stille herrscht im kleinen Raum des Pfarrhauses. Dann, ein weinerlicher Seufzer. Eine attraktive Dame Anfang fünfzig putzt sich ihre Nase. Ihre sonst so fröhlichen braunen Augen sind rot vom vielen Weinen. Nein, es findet kein Begräbnis statt, sondern eine Hochzeit. Viola, die jüngste Tochter der traurigen Frau heiratet heute.
Es dauert nur noch eine Viertelstunde bis die kirchliche Trauung vollzogen wird. Trotzdem sucht die Mutter ein schier aussichtsloses Gespräch mit der jungen Braut.
„Kind, willst du es dir nicht nochmals überlegen? Noch ist es nicht zu spät. Noch kannst du die Hochzeit absagen und die Gäste nach Hause schicken.“
Violas blaue Augen blicken kühl. Nachdenklich schaut sie aus dem kleinen Fenster des grauen Zimmers. Doch sie bewundert nicht die sommerliche Wiese und den entfernt liegenden Waldrand. Ihr Blick schweift ins Leere.
„Grosse Güte, Viola, nun sag doch endlich was!“
Unsanft wird die junge Frau von ihrer Mutter an den Schultern gerüttelt. „Wie kannst du nur so gleichgültig dastehen? In gut fünfzehn Minuten willst du einem Teufel in Menschengestalt dein Jawort zu geben.“
„Ja ja Mama, ich weiss, dass du Antonio nicht akzeptierst“, spricht Viola mit ruhiger tiefer Stimme, währenddem sie sich von ihrer Mutter abdreht, und langsamen Schrittes auf eine dreissig Zentimeter hohe Porzellanfigur zusteuert. Sanft gleiten ihre zarten Finger über den Rücken dieses geflügelten Pferdes.
„Erkennst du den Pegasus, Mama?“
„Natürlich kenne ich den! Ich habe ihn dir ja vor einigen Jahren geschenkt. Du hast ihn immer bewundert und geliebt bis zu dem Tage an, als du Antonio kennen lerntest. Er fiel dir während dem putzen aus der Hand, und sein rechter Flügel war abgebrochen und heikel wie du bist hast du ihn aus deiner Vitrine verbannt.“
„Ja, Mama, das war wirklich nicht richtig von mir. In den letzten vier Monaten stand er im Abstellzimmer. Aber nun habe ich seinen Flügel angeklebt, siehst du? Er sieht doch aus wie neu. Und mein schöner Pegasus soll doch in seiner vollen Pracht Zeuge eines grossen Sieges in meinem Leben sein!“
„Was? Ich höre wohl nicht recht! Du bezeichnest die Heirat mir diesem Halunken als einen grossen Sieg? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“
Viola antwortet nicht.
Nun mag ihre Mutter nicht mehr schweigen. Voll Wut und Verzweiflung macht sie allen ihren Bedenken endlich Luft.
„Dieses ekelhafte Mannsbild ist doch dreissig Jahre älter als du; dieser Hals, diese Hände runzlig wie ein zerknittertes altes stinkendes Hemd, diese schwarzen fettigen Haare, dieser ungepflegte Schnurrbart. Es wäre ja noch erträglich, wenn es nur das allein wäre, aber nein, Tina ist noch da, dieses dürre Klappergestell. Sie ist seine Geliebte, er zeigt das in aller Öffentlichkeit und du duldest es. Du lässt sogar zu, dass sie eure Trauzeugin ist.“
„Beruhige dich doch Mama.“ Zärtlich umfassen Violas Hände die Schultern ihrer aufgebrachten Mutter.
„Ich soll mich beruhigen? Mein kleines Mädchen heiratet einen Pascha samt Harem. Ich kann das nicht ertragen.“
Tränen kullern aus den grossen braunen Augen der Mama.

Der laute Klang der Kirchenglocken unterbricht das Gespräch der beiden Frauen. Schon tritt Violas Schwester Sandrine in das Pfarrhaus und nimmt sich der schluchzenden Mutter an. Die Braut wartet ab, bis alle Gäste in der Kirche verschwunden sind. Dann wendet sie sich geschwind an ihren weissen Pegasus. Liebevoll drückt sie das Fabelwesen an ihr Herz und schreitet durch das offene Kirchenportal. Orgelmusik erklingt, alle Blicke sind auf sie gerichtet. Auf der rechten Seite erblickt Viola alle ihr vertrauten Gesichter, auf der linken viele Frauen. Antonios so genannter Freundeskreis. Am Altar steht der hagere Bräutigam, neben ihm die dürre Tina. Doch wie sie dastehen: Hand in Hand. „Was für ein trauter Anblick“, denkt die Braut abschätzig. Noch einmal schaut sie in das leidende Gesicht ihrer schönen Mutter. Sie glaubt in vollem ernst, sie würde ihr achtzehnjähriges Mädchen an diesen Mann verlieren. Doch, Viola mag jung sein, doch sie ist nicht dumm. Sie weiss schon lange, dass Antonio sie betrügt, und dass er glaubt, als seine Frau würde sie nun seine Haussklavin sein. Deshalb ist das, was nun geschieht ganz alleine Violas Entscheidung.
Ein verschmitztes Lachen erhellt ihr hübsches Gesicht. Vor den Augen der vielen entsetzten Gäste zieht sie das Brautkleid aus. Nun steht sie da in weissen Hot-Pans und einem weissen Top, sexy und mädchenhaft, wie es sich für eine Frau in ihrem Alter gehört. Herzlich umarmt sie ihre Mutter, drückt ihr den Pegasus in die Hand und flüstert ihr ins Ohr: „Schau gut auf meinen Glücksbringer bis ich wieder da bin“. Ein stolzer Blick auf den geschockten Bräutigam und ein weisses Blatt Papier lässt sie in der Kirche zurück. Dann rennt sie hinaus, ins Sonnenlicht, in die Freiheit, ins Glück. Jeder kann den aufheulenden Motor ihres Sportwagens hören, denn die Orgel schweigt schon lange.
Antonio hebt den weissen Zettel vom Boden auf und liest finsteren Blickes folgende Zeilen:

Wenn die Wolken am Himmel strahlend leuchten,
wenn der Horizont wie Feuer brennt.
Wenn die Schatten dem Licht der Sonne weichen,
wenn der Verstand nur einen Gedanken noch kennt.
Es ist vorüber, ich bin frei, Wille und Freiheit sind wieder mein.
Ich kenne deinen Charakter, ich bin aufgewacht.
Nun seh‘ ich dich stehen im Schwarz der Nacht.

Immer mehr zerknittert Antonio das Papier in seiner Hand. Nur mit mühsamer Anstrengung liest er weiter. Er hasst Violas Gedichte, er hat sie schon immer gehasst, aus einem einzigen Grund; er kann es nicht ertragen, dass sie Texte schreibt zu welchen er nie in der Lage wäre. Trotzdem liest er, zwar zitternd vor Wut, aber dennoch, auch den letzten Abschnitt.

Bis hierher und nicht weiter, dein Spiel ist ausgespielt.
Ich bin endlich gescheiter, und du kriegst, was du verdienst.
Schau in ruhig an, den Pegasus, es ging mir genau wie ihm.
Sein Flügel war gebrochen, doch nun ist er wie damals schön.

Du kamst hierher, in diese Kirche, um mein Jawort zu hör‘ n,
nun empfange meinen Schwur, ich werd‘ niemals dir gehör’n.

Zornig zerreisst Antonio das Papier. Inzwischen ist Tina herbeigeeilt um ihren Freund zu trösten. „Du armer Schatz! Mein Gott, wie kann dieses Gör dir das bloss antun?“
„Geh weg du dumme Gans“, brutal stösst der Bräutigam seine Geliebte von sich weg.
Ohne weiteres Wort verlässt er die Kirche.
Noch blicken alle Gäste geschockt in die Welt.
Plötzlich durchbricht ein lautes Schluchzen die Stille. Es ist Violas Mama.
„Ein Wunder, ein echtes Wunder ist geschehen.“
Sie weint, doch nicht aus Traurigkeit. Diesmal sind es Freudentränen, welche über ihre Wangen kullern. Glücklich drückt sie Violas Pegasus an ihr Herz.






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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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