Helmut Wurm

Sokrates und sollen Lehrer im Schulbereich wohnen?

    Ist es vertretbar, dass Lehrer auch von weither zur Schule kommen?
 
                                            Ein Streitgespräch
 
 
Der alte Schulleiter(sehr ärgerlich, schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch):
 
- Die Schule wird immer mehr formalisiert.
- Der Unterricht wird immer mehr schematisiert.
- Das Miteinander in der Schule wird immer mehr zu festen Zeitkontakten reduziert.
- Der Schulalltag wird immer mehr entpersönlicht
 
Ich werde noch auf dieser Tagung einen Antrag an das Ministerium stellen, dass die Lehrer  wieder im Einzugsbereich der Schule wohnen müssen; besonders soll das für die Mitglieder der Schulleitungen gelten, die direkt am Schulstandort zu wohnen haben - so wie ich.
 
Allgemeines ärgerliches Gemurmel im Gesprächskreis. Einer äußert die Bitte, das zu doch begründen.
 
Der alte Schulleiter: Echter menschlicher Kontakt, der darauf beruht, dass man sich kennt, dass die Lehrer die Familien der Schüler kennen, das Umfeld der Schüler kennen, den Eltern und Schülern auch außerhalb der Schule begegnen, das wird dadurch abgebaut, dass Lehrer und Mitglieder der Schulleitungen häufig außerhalb des Schuleinzugsbereichs wohnen, damit sie nach Dienstende ihr anonymes Privatleben leben können, ohne von Schülern und Eltern getroffen und beobachtet zu werden. Das verträgt sich aber nicht mit ernst gemeinter Pädagogik, Erziehung und Unterricht. Die ehemalige Residenzpflicht der Lehrer hatte schon ihren Sinn, die früheren Verantwortlichen für das Schulwesen hatten ein besseres Gefühl für die Pflichten verantwortungsbewusster Lehrer…
 
(Ein noch ärgerlicheres, noch heftigeres Gemurmel im Gesprächskreis hebt an)
 
Welche Situation liegt hier eigentlich vor, was ist geschehen?
 
Es findet ein Schulkongress statt, auf dem Referate gehalten werden, u.a. zu den Themen:
- Einheitliche Regelmuster der künftigen Schulsysteme und ihrer Funktionen
- Einheitlicher effektiver Unterricht mit Arbeitsmaterialien und neuen Medien
- Schule als Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten für Lehrende und Lernende
- Das Anrecht der Schüler auf Anonymität in der Nicht-Schulzeit
 
Auch Sokrates hat sich unter die Zuhörer gemischt und hat besonders aufmerksam die Referate verfolgt. Bei den oben genannten 4 Referaten ist er sehr nachdenklich geworden.
 
Am Rande dieses Schul-Kongresses, zu dem Vertreter der Lehrerverbände, der Schulauf-sicht, sogar der Ministerien, der Eltern und auch der Schüler zusammen gekommen sind, hat sich in einer Pause zwischen den Vorträgen in einem Nebenraum ein Gesprächskreis um den alten, offensichtlich unzufrieden-besorgten alten Schulleiter gebildet. Und dieser hat den obigen Satz in die Diskussion geworfen, dass Lehrer wieder im Schuleinzugsbereich wohnen sollen, dass also die frühere Residenzpflicht wieder eingeführt werden soll.   
 
Sokrates: Auch ich bin nachdenklich geworden. In den Vorträgen wurden schematische Unterrichtsmuster und Lösungsmuster für dieses und jenes angeboten, die einer Individual-Pädagogik konträr entgegenstehen. Das war schon ein Problem zu meiner Zeit im antiken Athen. Da gab es die Standard-Philosophen, die angeblich richtige Muster für dieses und jenes versprachen… Ich aber suchte das persönliche Gespräch und gab den persönlichen Rat. Das konnte ich deswegen, weil ich außerhalb der Schulen auf dem Markt, im Alltag also, die Menschen angesprochen habe und mich von ihnen ansprechen ließ… Auch ein guter Lehrer heute muss die Schüler in ihrer Freizeit, in ihrer Alltagswelt erleben. Dazu muss er im Einzugsbereich der Schule wohnen.
 
Eine junge Lehrerin(selbstbewusst und spitz): Pah! Wir leben in einer modernen Zeit und auch wir Lehrer haben ein Recht auf Abstand von der Schule und auf Anonymität nach dem anstrengenden Dienst. Ich fahre lieber täglich 50 km zur Schule, damit ich in meiner Freizeit unbeobachtet von den Schülern machen kann, was ich will. Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wo ich wohne… Ich erscheine pünktlich zum Dienst und das reicht!... Meine Freunde brauchen keine Schüler und keine Eltern kennen zu lernen.
 
(Zustimmendes Bemerkungen von verschiedenen Seiten)
 
Der alte Schulleiter:Die Schule soll nicht nur Lehren, sondern auch Erziehen. Die Schüler sind aber nicht uniforme, sondern unterschiedliche Persönlichkeiten in unterschiedlichen Umwelten. Auf diese Individualitäten muss sich jeder Lehrer einstellen und dazu muss er zusätzliche Erfahrungsmöglichkeiten haben, als sie der jeweilige Unterricht bietet. Diese Einblicke kann er nur dann gewinnen, wenn er im Einzugsbereich der Schule wohnt und den Schülern und Eltern außerhalb der Schulzeit begegnet. Dafür muss er selber das Risiko eingehen, einen Teil seiner eigenen Anonymität aufzugeben.    
 
Ein Lehrer(aggressiv-grob): Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die zunehmend um anonyme Freiräume kämpft. Dieses Recht auf Anonymität haben auch die Lehrer. Wollen Sie wieder den Überwachungs-Schulstaat oder sogar eine sich gegenseitig kontrol-lierende Gesellschaft? Dagegen werde ich heftigen Widerstand leisten.
 
(Zustimmende Rufe von verschiedenen Seiten)
 
Der alte Schulleiter: Es geht nicht um Kontrolle, um Überwachung, sondern um Kennen-lernen der Schülerpersönlichkeiten und ihrer Lebensumwelten über die Schulwelt hinaus. Das nützt einer verantwortungsbewussten individuellen Bildung und Erziehung.
 
Ein neu eingestellter Sozialarbeiter(selbstüberzeugt): Die moderne psychologische Wissenschaft hat  Erkennungsmuster erarbeitet, wie man schon aus kurzen Beobachtungen und Gesprächen mit Schülern auf die individuellen Schülerpersönlichkeiten und die akuten jeweiligen Probleme schließen kann. Wir benötigen also keine weiteren Begegnungen und Beobachtungen außerhalb der Schule und Schulzeit mehr. Wenn Probleme irgendwelcher Art  bei und mit Schülern auftreten, führe ich ein Gespräch, frage die Lehrer nach deren Beobachtungen in der Schule und dann gehe ich nach den neuen Lösungs- und Therapie-Mustern vor. Man muss nicht mehr die Anonymität der Lehrer opfern, um auffällige Schüler beurteilen und therapieren zu können.
 
(Zustimmende Rufe wie: Der persönliche Lehrer ist nicht mehr zeitgemäß… Dem immer freundlichen, aalglatten Lehrer mit erprobten Schablonen für alles gehört die Zukunft… Weshalb werden denn solche Muster für alles und jeden erarbeitet?... Residenzpflicht bedeutet Rückschritt… )    
 
Ein Elternteil:Wenn ich an meine eigene Schulzeit und jetzt an meine Kinder in der Schule denke, dann haben diejenigen Lehrer am besten gelehrt, gefördert, geholfen, erzogen, geprägt, gebildet… die stets den Schüler als individuelle Persönlichkeit gesehen und behandelt haben.
 
Diese Lehrer waren nicht stets nur freundlich und aalglatt, sondern hatten oft Ecken und Kanten und haben Unangenehmes gesagt, was aber richtig und nötig war. Die heutigen Tendenzen nach einer immer freundlichen, aalglatten Lehrerschaft mit fertigen Schablonen fürs Lehren, Lernen, Beraten und Therapieren in einer Wohlfühl-Schulatmosphäre halte ich langfristig für die weniger erfolgreichen Tendenzen. Ich meine deshalb auch, dass Lehrer am Schulstandort bzw. im Schuleinzugsbereich wohnen sollten…
 
(Einige Eltern stimmen zu)
 
Ein Schüler(ziemlich patzig): Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich in meiner Freizeit regelmäßig Lehrer treffe, die mich eventuell noch kritisch analysieren, mit welchem Mädchen im Arm ich gerade unterwegs bin oder ob ich gerade rauche oder Bier trinke… Es reicht, wenn ich die Lehrer in der Unterrichtszeit sehe…
 
Irgendein/-eine Kultusminister/-in(an den alten Schulleiter gewandt): Um diese alberne Diskussion zu beenden möchte ich bemerken: Wenn Sie einen solchen unsinnigen, unzeitgemäßen und nicht-notwendigen Antrag stellen, wird der sofort in den Papierkorb geworfen. Sie sind mir als ein störender Schulleiter schon wiederholt bekannt geworden. Solche rückschrittlichen, unrealistischen und überanspruchsvollen Lehrer sollten in unserer Zeit keine Schulleiter mehr werden.
 
Ich möchte kurz begründen, weshalb ich diesen Antrag sofort in den Papierkorb werfe:
 
- Wir leben in einer modernen Gesellschaft und auch Lehrer haben ein Anrecht darauf modern zu sein. Und dazu gehört der Anspruch auf möglichst viel private Anonymität. Die ist am besten gewährleistet, wenn Lehrer eben nicht im Schuleinzugsbereich wohnen.
 
- Statistisch gesehen halten diejenigen Lehrer gesundheitlich am längsten durch, die nach ihrem täglichen Dienst den Lebensraum total wechseln und nichts mehr von Schule und Schülern sehen und hören. Das bewirkt eine nützliche Entspannung. So spart der Staat an Krankengeldern.
 
- Wir bekämen gar nicht genügend Lehramtsstudenten und Lehrer in unserem Land, wenn eine solche reaktionäre Forderung nach Residenzpflicht, also nach Wohnen im Schulein-zugsbereich, reaktiviert würde. Wir müssen uns nach dem Massengeschmack und nicht nach hohen pädagogischen Idealen richten.
 
- Und schließlich würde meine Partei dagegen Sturm laufen, denn wir sind deshalb gewählt worden, weil wir die Mehrheitswünsche berücksichtigt haben. Welche Partei kann denn eine Wahl heute noch einigermaßen erfolgreich hinter sich bringen, wenn sie sich nicht nach den Mehrheitswünschen richtet. Wir leben in einer Wähler-Demokratie und das heißt, dass die Mehrheitswünsche und nicht immer das Richtige entscheiden…    
 
(Es klingelt, es wird zum nächten Referat aufgerufen, der Gesprächskreis löst sich auf)
 
Der alte Schulleiter(im Hinausgehen, zwischen den Zähnen): Es ist zum Kotzen… Anspruchsvoll-Unbequemes hat in unserem Staatswesen kaum eine Chance… Es dominiert immer der Massengeschmack, auch im Schulwesen…Da kann man den Glauben an eine freiheitliche Demokratie verlieren…
 
Sokrates:Du weißt, dass ich diesen Glauben noch nie gehabt habe. Denn ich war stets die personifizierte Anspruchsvolle-Unbequemlichkeit. U.a. deswegen bin ich ja damals in Athen in solche Schwierigkeiten gekommen….
(Beide gehen in den großen Vortragssaal)
 
 
(Verfasst von discipulus Socratis, der ebenfalls als Gast bei der Tagung dabei war)
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helmut Wurm).
Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Helmut Wurm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zeit ist ewig neu von Siegfried Kopf



Themenbezogen und nachsinnend werden in lyrischer Form viele Facetten des Lebens behandelt und mit farbigen Illustrationen visuell dargestellt. Begeben sie sich mit außergewöhnlichen Texten und Bildern auf eine Reise durch die Zeit, das Leben und die Liebe ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Schule" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helmut Wurm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sokrates und der besorgte FDP-Vorstand von Helmut Wurm (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Wir sind ihm nicht egal! von Heidemarie Rottermanner (Schule)
TINI von Christine Wolny (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen