Helmut Wurm

Sokrates und die Neue-Medien-Stadt mit der Neue-Medien-Schule

 

Es gibt eine Stadt, die hat sich der medialen Zukunft verschrieben und den Auswirkungen der neuen Medien auf die Menschen und besonders auf die heranwachsende Generation. Diese Stadt ist von Wissenschaftlern gegründet worden, wird von Wissenschaftlern betreut und die Ergebnisse werden von diesen analysiert und festgehalten. In der Mitte der Stadt gibt es kein Einkaufszentrum und keinen Marktplatz, sondern ein Schulgelände, weil es das wichtigste Forschungsanliegen ist, wie die langfristigen Wirkungen der neuen Medien auf  die Schüler und das Schulwesen sind. Und am hinteren Stadtrand liegt auch eine große psychiatrische Klinik, die gut gefüllt ist, denn das hat sich bereits herausgestellt, dass die Menschen in dieser Stadt und die Jugendlichen in dieser Schulanlage immer häufiger der betreuenden Hilfe bedürfen und dass einigen schon überhaupt nicht mehr geholfen werden kann.
 
Diese Stadt wurde mit freiwilligen Familien und Jugendlichen besiedelt, die sich verpflichten mussten, mindestens 20 Jahre dort zu wohnen, damit die langfristigen Prägungen durch die modernen Medien deutlich werden.
 
Normale Menschen dürfen diese Stadt vorerst noch nicht besuchen, weil sie  sonst sehr erschrecken würden und die Bewohner in ihrer Überzeugung erschüttern könnten. Nur ausgewählten Wissenschaftlern ist der Zugang gestattet. Und Sokrates ist ein solcher ausgewählter Wissenschaftler und hat sich für einen Besuch mit Führung angemeldet.
 
Der Tag des Besuches ist gekommen und Sokrates wartet am Stadtrand auf seinen Führer.
Beide schlendert durch die Straßen auf das Zentrum mit dem Schulgelände zu. Sokrates beginnt zu staunen, dann sich zu wundern, dann wird er bedrückt und schließlich beginnt es ihm zu grausen. Der Führer antwortet auf seine Fragen gleichgültig und abgebrüht.
 
In dieser Stadt gibt es auf den ersten Blick wie in anderen Städten Werbung, Autos, Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen, Geschäfte und den üblichen Lärm, den der technische Straßen-verkehr so macht.
 
Aber die Menschen sind anders und es gibt weniger Menschenstimmen, obwohl auf den Gehsteigen ziemlich viele Menschen unterwegs sind und an den Haltestellen der Busse dichte Menschentrauben auf die Verkehrsmittel warten. Die Menschen haben fast alle kleine Minigeräte aller Arten in der Hand, touchen, klicken, drücken Knöpfe, lesen Botschaften und betrachten Bilder und Filme. Sie stehen oder gehen dabei nebeneinander, unterhalten sich aber kaum miteinander. Wenn sich Menschen unterhalten, dann mit kleinen Geräten, die ihnen auf der Brust hängen. Diese Menschen haben dann zusätzlich ein Minimikrofon im Ohr, das offensichtlich per Funk die Antworten des Gerätes direkt ins Ohr leitet. Es sieht etwas befremdend aus, wie sich Menschen mit einem Gerät unterhalten, hinter dem irgend ein Programm oder eine andere Person an einem anderen Ort zu vermuten sind.      
 
Der Stadtführer:  Die Kommunikation erfolgt bei uns weitgehend mit elektronischen Geräten. Die gesprochene Sprache ist auf das Notwendigste und Dringendste reduziert. Wenn man sich trifft, wenn Eltern ihre Kinder irgendwo abholen, erfolgt nur eine kurze Handbewegung als Gruß, dann wird das Bedienen der elektronischen Geräte fortgesetzt. Diese e-Geräte fördern die Kürze, so dass die reduzierte gesprochene Sprache auf kurze Sprachbrocken geschrumpft ist.
 
Sokrates fällt auf, dass es zwar Schaufenster gibt wie in jeder Stadt, aber keine Ladentüren und Geschäftsräume, nur Webseiten und Mail-Adressen. Dafür finden sich alle paar hundert Meter Bestell-Center, in denen die Menschen Waren zu bestellen scheinen, die sich vorher auf ihren Displays angesehen haben.
 
Der Führer:  Jedes Geschäft hat seine Webseite, in der alle seine Angebote betrachtet werden können. Wenn etwas gefällt oder geeignet ist, kauft man es per Mausklick. Kleine wendige Lieferwagen fahren dann diese gekauften Waren an die Wohnadressen. Bezahlt wird per elektronischer Kreditkarte. Supermärkte gibt es hier nicht mehr, nur noch größere und kleinere Warencenter, so ähnlich wie früher vielleicht Amazon.  
 
Sokrates fällt auf, dass in den meisten Autos niemand am Steuer sitzt, dass an Stelle des Fahrersitzes ein großer Gerätekasten steht und Menschen nur als Mitfahrer im Fahrzeug sitzen. Das betrifft auch die vielen kleinen Lieferwagen, die nur statt Mitfahrern Waren im Innerraum geladen haben.
 
Der Stadtführer:  Wir haben hier Autos, die selbstständig fahren, parken, die richtige Adresse finden und Unfälle voraussehen. Mit Hilfe von Sensoren und Photozellen wissen sie, auf welcher Straßenspur sie fahren, ob ein anderes Fahrzeug vor oder hinter ihnen ist und wie schnell es fährt, sie parken selbstständig in Parklücken ein und finden die jeweilige Zieladresse mit dem eingebauten Navigator. Das erspart Nervenkraft.
 
Ich würde ihnen jetzt gerne einen unserer modernen Betriebe zeigen. Auf dem Weg zum Schulgelände kommen wir an einer interessanten Anlage vorbei. Es ist gerade Frühstücks-pause, da stören wir nicht.
 
Der Führer macht einen kleinen Umweg und beide stehen vor einem vollautomatischen modernen Betriebsgelände. Man sieht zwar auch hier Menschen, aber sie sitzen weitgehend an Bildschirmen, Steuerungen und Reglern. Die Hände macht sich keiner mehr schmutzig. Gerade haben sich einige Mitarbeiter im Essraum eingefunden, um Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Aber es ist dort fast so ruhig, als wenn er leer wäre. Alle sitzen essend an ihren Tischen und bedienen zugleich kleine Mediengeräte, klicken, blättern, touchen, lesen oder hören mit Ohrmikrofonen oder Kopfhörern Nachrichten, Sprechsendungen oder Musik.  
 
Der Stadtführer: Unter der Belegschaft beginnt sich leider eine gewisse Gesprächsarmut zu entwickeln, die den Zusammenhalt der Gruppe mindert. Jeder nutzt die Pausen, um eMails oder SMSs zu empfangen, zu senden oder Bilder und Videos zu betrachten. Wir wissen darum, aber vorläufig können wir noch nicht genau abschätzten, wie groß der soziologische und wirtschaftliche Schaden dadurch ist. Die Produktivität hat zumindest noch nicht abgenommen. Deswegen wird auch noch nichts unternommen. Aber hin und wieder ist schon der eine oder andere in einer Gespräche-Lernen-Therapie gewesen, damit er die mündliche Kommunikation nicht ganz verlernt.
 
Aber so ganz gesprächsfern leben wir hier nicht. Die Hausfrauen holen zu Hause teilweise nach, was auf der Straße und im Betrieb geschrumpft ist. Unsere modernen Küchen sind nämlich mit Großbildschirmen, Videokameras, Mikrofonen und Mini-Adressen-Schaltpulten ausgerüstet. Jede Hausfrau kann sich damit mit Bekannten, Freundinnen usw. verbinden. Man sieht sich dann gegenseitig bei der Hausarbeit, spricht mit dem anderen und hört den anderen. Man kann sich auch mit unseren Hausfrauen-Beratungscentren verbinden lassen, die dann Rezepte durchgeben und die Zubereitung der Speisen am Bildschirm beratend verfolgen und kommentieren können.
 
Es ist anfangs zugegeben etwas ungewohnt, eine Hausfrau alleine in der Küche arbeitend und sich dabei laut unterhaltend zu erleben… Ich möchte Ihnen gerne so eine typische moderne Zukunftsküche zeigen.
 
Sokrates( hat einen bedrückten Gesichtsausdruck angenommen):  Ach lieber nicht. Was ich hier gesehen habe, das reicht bereits als Eindruck… Das sind hier ja keine Menschen wie früher, das ist ja kein natürliches Miteinander mehr…
 
Der Stadtführer (für sich murmelnd): Der Mann ist etwas altmodisch oder zu sensibel…
(dann laut): Dann gehen wir am besten jetzt zum Schulgelände, denn ich merke, dass Sie hauptsächlich dorthin möchten.
 
Sie gehen zum Schulgelände, es ist das Zentrum dieser modernen Teststadt über die langfristigen Auswirkungen der modernen Medien. Es ist bewusst "Gelände" genannt, denn es ist sehr weitläufig und anders als die derzeitigen Schulkomplexe gestaltet. Überall in dem Gelände gibt es kleinere und größere Sitzecken mit Tischen, die alle Stromanschluss und Internetanschluss haben. Regelmäßig verteilt im Gelände stehen kleinere Masten mit lokalen WLAN-Sendern. Auf diesem Gelände stehen mehrere Gebäude mit größeren und kleineren Räumen, in denen entweder Tische mit Strom- und Internetanschluss und PCs an jedem Platz stehen oder in denen lange Reihen von schallgeschützten Kabinen aufgestellt sind, die ebenfalls im Inneren Strom- und Internetanschlüsse haben. Zusätzlich hängen an den Decken wieder WLAN-Sender. In allen diesen Räumen befindet sich an einer Wandseite eine große Anzeigetafel, ähnlich der in Flugplätzen, auf denen Anweisungen zu lesen sind.
 
Nur ein mittelgroßer Raum hat keine Strom- und Internetanschlüsse und keine Kabinen, sondern nur Tische und Stühle frontal zu einem Lehrerpult. Dieser Raum ist nach außen schallabgeschirmt. Er erinnert an traditionellen Frontalunterricht.
 
Die Schüler sieht man in diesem Schulgelände teils an den freien Tischen im Gelände, teils in den einzelnen Räumen sitzen, einzeln oder in unterschiedlich großen Gruppen. Sie sind alle mit kleinen elektronischen Geräten, Laptops oder PCs beschäftigt, auf denen sie klicken, touchen, betrachten… Die meisten Schüler haben ein Mini-Mikrofon im Ohr oder einen Kopfhörer auf dem Kopf, der, wenn er nicht gerade gebraucht wird, einfach locker nach hinten geschoben wird. Man sieht nur wenig Bewegungen bei diesen Schülern, nur einige laufen hin und her.
 
Und es ist sehr ruhig, denn überall stehen rote Verbotsschilder mit den durchgestrichenen Worten "laut sprechen" und "lärmen". Andere grüne Hinweisschilder mit der Aufschrift "Zum Sprech-Gelände" zeigen nach hinten zu einem von Hecken umgrenzten Abschnitt.  Auch in den Räumen ist es ruhig, denn dort stehen ebenfalls rote Sprech-Verbotsschilder. Und grüne Hinweisschilder verweisen entweder auf bestimmte, grün gestrichene Kabinen oder auf den mit grünen Türen versehenen "Sprech-Saal".
 
Am Rande der Anlage steht ein nur relativ kleines Sportgelände mit Halle und Sportplatz und man sieht dort relativ wenige Schüler Sport treiben. 
 
Lehrer entdeckt man in der offenen Anlage relativ wenige. Einige Aufsichtspersonen gehen in der Außenanlage umher oder sehen in die Räume, ob dort alles nach den modernen pädagogischen Vorstellungen ruhig abläuft. Die meisten Lehrer sind im "Lehrer-Tower" in der Mitte der Anlage anzutreffen, der wie ein echter Tower auf Flugplätzen das Gelände überragt. Hier sind sie mit Beobachten, Kontrollieren, aus der Ferne Begleiten, Planen, Schreiben, Programmieren, Botschaften senden, elektronischem Korrigieren, Ansagen usw. beschäftigt. Jeder Lehrer hat mehrere Geräte umhängen, um von verschiedenen Seiten erreichbar zu sein, und hat eine größere Schaltanlage vor sich, um an verschiedenen Stellen gleichzeitig in den eingeloggten Schul-Netzwerken aktiv sein zu können.
 
Der Stadtführer: Wir sind nur eine kleine Versuchsstadt und haben deswegen nur eine geringe Schülerzahl, aber unsere moderne Konzeption verlangt ein größeres Gelände, um allen individuellen Ansprüchen und Lernstadien mit den modernen Medien gerecht werden zu können. Auch das ist hier nur ein Versuch, aber wir sind der festen Überzeugung, dass es spätestens in der nächsten Generation so in allen Schule aussehen wird. 
 
Von der Disziplin her benötigen wir kein großes Schulgelände, denn hier sind die Schüler ständig weitgehend ruhig beschäftigt mit der Bedienung ihrer Geräte und mit den Dialogen über die Geräte und sogar mit den Geräten. Wenn Schüler unruhig werden, das betrifft vor allem die Jungen, dürfen sie entweder auf dem Sportgelände ihre überschüssige Energie abbauen oder sich Boxkämpfe auf Videos ansehen, die die Schule sogar bewusst anbietet. Denn verhindern kann eine Schule solche Videos nicht, aber sie versucht, solchen Brutal-Konsum zu kanalisieren. Die meisten Jungen bevorzugen diese Erlebnis-Form des mentalen Energie-Abbaues und die Beruhigungs-Erfolge sind bemerkenswert.  
 
Wenn bei Mädchen die ersten pubertären Liebesgefühle und Sehnsüchte das Lernen und Verhalten belasten, haben wir dafür eine Auswahl von sehr gefühlvollen Liebesfilmen zur Verfügung, teilweise mit edelpornografischen Abschnitten, die von der Schulleitung dafür frei gegeben worden sind. Auch hierdurch lässt sich die innere Ablenkung deutlich mindern.
 
Sokrates (immer bedrückter):  Wenn sich aber nun Schüler einmal lauter unterhalten möchten, wenn sie rufen und lachen wollen, was machen sie denn dann? Das ist doch typisch jugendlich?
 
Der Stadtführer:  Wenn sich Schüler unbedingt unterhalten und laut äußern wollen, dann sind dafür der "Sprech-Teil" der Schulanlage und die grünen Kabinen vorgesehen. Dort sind laute Äußerungen möglich. Aber das Bedürfnis dazu nimmt kontinuierlich ab, die modernen Medien lassen solche Wünsche immer mehr verkümmern. Und wenn, dann unterhalten sich viele Schüler im echten Wortsinn mit ihren Geräten.
 
Unsere "Kommunikations-Geräte" sind nämlich mit einem Speicherzentrum verbunden, in dem auf einem "Gesprächsserver" einige zehntausend Schülerfragen und dazu passend über hunderttausend Antworten gespeichert sind. Die Schüler können Fragen zu vielen Bereichen des Lebens und der Bildung stellen und bekommen dazu in akustischer Form die passenden  Antworten gesprochen; die Schüler können ihre Sorgen äußern und bekommen tröstende Antworten; sie können sich sogar in einfache Diskussionen über philosophische, religiöse oder politische Themen einlassen und können im Extremfall Streitgespräche mit ihrem Sprechgerät führen. Wenn sie in das Gerät schimpfen und brüllen, schimpft und brüllt es zurück.
 
Mehrere Jahre intensiver Arbeit waren allerdings nötig, um diesen Gesprächsserver auf den jetzigen Stand zu bringen und auch jetzt noch erweitern Lehrer, die gerade frei sind, diesen Gesprächsserver-Bestand um Fragen und Antworten gemäß ihren aktuellen Erfahrungen mit Schülern.
 
Sokrates (dem fast die Stimme versagt):  Und wie verläuft der Unterricht hier?
 
Der Stadtführer: Keine Schulklingel und kein Lehrer geben hier Anweisungen, sondern auf den großen Tafeln stehen die Unterrichtszeiten, die Fächer und offizielle Anweisungen. Normalen Klassenunterricht haben wir hier auch nicht mehr, wir betreiben hauptsächlich Individual-Unterricht. Die Schüler bekommen am Schuljahresanfang in ihre Postfächer die Lehrplananforderungen geladen und dann können sie Arbeitsaufgaben und Arbeitsmittel vom Schulserver herunter laden und auf dem PC beantworten. Die Antworten werden elektronisch von den Lehrern im Lehrer-Tower korrigiert und der jeweilige Erfolg im Schüler-Personalordner gespeichert. Bei Misserfolgen muss der Schüler noch einmal die jeweiligen Arbeitsaufgaben bearbeiten.
 
Diese Arbeitsaufgaben sind meistens nach dem Muster von Multiple-Choice-Ankreuztests gestaltet. Damit wird auch das mühsame Schreiben mit Hand umgangen. Wenn Schüler im Fach Deutsch Aufsätze schreiben sollen, dürfen sie aus Texten im Internet Worte, Sätze und Absätze kopieren und diese dann zu ihrem Text zusammenfügen. Das Erlernen einer Handschrift fällt bei uns damit fast ganz weg. Bei uns geht alles Schreiben und Antworten über die Schreibmedien. Was sollen Schüler noch lernen, was sie bei uns und in Zukunft bestimmt überall nicht mehr brauchen. 

In bestimmten Fächern und Fällen werden Kleingruppen von Schülern mit demselben Bildungsstand oder Problemstand in einem der Räume gemeinsam unterrichtet. Die alters-bezogene Zusammensetzung dieser Gruppen ist also inhomogen. Wieder bekommen die Schüler dieser Gruppen Anweisungen über die große Infotafel an der Wand, die sie dann abarbeiten müssen. Das weitere Verfahren ist wie beim Individual-Unterricht. Nur im Fach Deutsch und in der Fremdsprache Englisch (andere Fremdsprachen lernen die Schüler bei uns nicht mehr, weil die Welt- und die Mediensprache Englisch ist) ist lautes Sprechen zur Erlernen der richtigen Aussprache notwendig. Dann setzen sich diese Schüler in die grünen Kabinen und sprechen laut die vorgegebenen Worte und Texte in die Mikrofone. Im Lehrer-Tower werden die akustischen Signale in Schriftlichkeit umgewandelt und sind dann auch elektronisch korrigierbar. Das ist eine Weiterentwicklung der früheren Sprachlabore.
 
Sie merken mittlerweile, dass unser Unterricht weitgehend entpersönlicht ist. Aber das hat ja schon früher an allen Schulen mit der Zunahme des Arbeitsblätter-Unterrichts begonnen. Wir sind diesen Weg nur konsequent weiter gegangen und haben die Arbeitsblätter durch die modernen Medien ersetzt.
 
Möchten Sie einmal eine solche Sprach-Stunde miterleben? Oder haben Sie noch Fragen?
 
Sokrates (sehr verlegen und fast stotternd):  Nein, vielen Dank, dass sind so viele neue Informationen… Ich bin auch ehrlich gesagt etwas verwirrt… Das hat ja mit einer alten persönlichen Schule, einer menschlichen Schule im echten Wortsinn, nur noch wenig zu tun… Wo ist da noch Platz und Gelegenheit für Fürsorge, Verständnis, persönliche Lern- und Lebenshilfe? Der Lehrer ist in dieser elektronischen Medien-Schulwelt kein Mensch und kein Pädagoge mehr, er hat nur noch eine Funktion auf höherer Ebene in dieser Medien-Hierarchie und ist bei deren Weiterentwicklung zunehmend durch höhere elektronische Medien-Maschinen ersetzbar… Das bedeutet das Ende aller Begeisterung für Pädagogik und Menschenbildung… Können wir zu einem Ende der Führung kommen? Ich fühle mich eigentlich für weitere Aufnahmen nicht mehr fähig.
 
Der Stadtführer: Sie sprachen eben von mangelnder Fürsorge und Lebenshilfe. Natürlich bieten wir diese auch an. Wir sollten deswegen wenigstens noch kurz den kleinen Umweg über unsere Schüler-Psychiatrie machen, damit Sie etwas versöhnt werden. Wir haben uns damit wirklich viel Mühe gegeben.
 
Nach wenigen hundert Metern stehen die Beiden vor einem äußerlich persönlicheren und gemütlicheren Gebäude als es die anderen Schulgelände-Gebäude sind. Hier stehen keine Verbotsschilder und keine Hinweisschilder, hier gibt es nur Sitzecken ohne elektrische Verkabelung und Internetanschluss, keine WLAN-Masten und es sind auch keine Gespräch-Kabinen zu sehen. Über dem Eingang steht "Therapiezentrum für mediengeschädigte Schüler". Aus einem Fenster dringen Schülerstimmen, die gemeinsam etwas wiederholen oder gemeinsam vortragen.
 
Sokrates (seine Züge entspannen sich etwas): Das sieht ja normaler aus, hoffentlich macht dieses Gebäude innen ebenfalls einen angenehmeren Eindruck als die bisherigen Medien-Schulgebäude.
 
Der Stadtführer: Hineingehen dürfen wir nicht, damit die hier betreuten Schüler nicht die Gelegenheit zu nutzen versuchen zu entfliehen. Denn es handelt sich weitgehend um eine geschlossene Abteilung mit Medienentzug. Hierher kommen diejenigen Schüler, die deutlich unnatürliches Verhalten, schwere Medienabhängigkeit und abnorme Medienbindung zeigen.

Hauptsächlich sind es 3 Gruppen von Schülern, die hier betreut werden:
 
- Erstens handelt es sich um Schüler, die überhaupt nicht mehr sprechen wollen, sondern die sich nur noch über Touch- und Klickmedien mitteilen. Dieses Verhalten entsteht dann, wenn Schüler keine Sprech-Sprachkurse besuchen und sich nicht über ihr Gerät mit dem Gesprächs-Server unterhalten wollen. Sie vergessen einfach, wie gesprochene Sprache klingt. Es handelt sich gewissermaßen um einen modernen Kaspar-Hauser-Effekt. Diese Schüler müssen dann einzeln und in Gruppen laute Sprechübungen machen. Wir haben eben eine solche Gruppe aus dem Fenster sprechen gehört.
 
- Zweitens sind es Mediensüchtige, die sich nicht mehr alleine beschäftigen können und ihren Lebenssinn nur noch im Eintauchen in die fiktive Medienwelt sehen. Bei ihnen ist die Haupttherapie eine Beschäftigungstherapie ohne moderne Medien. Sie arbeiten z.B. in der Bibliothek und sollen dabei interessante Bücher kennen lernen. Oder sie stellen in der Handwerks-Abteilung Gebrauchsgegenstände her und lernen dabei sich zu beschäftigen. Oder sie helfen in der Küche und im Innendienst um zu lernen, dass sie für andere nützlich sein können.  
 
- Die dritte Gruppe ist die interessanteste. Es gibt zunehmend Jugendliche, die entwickeln zu ihren Geräten mit Gesprächs-Erweiterung eine personale Bindung wie zu Menschen. Sie klagen ihnen ihr Leid, suchen und finden bei der Stimme des Gesprächsservers soziale Geborgenheit, erzählen ihr alles, was sie tagsüber erlebt haben und fallen in Depression, wenn das Gerät einmal nicht funktioniert oder abhanden kommt und die Bezugsstimme nicht zu mehr hören ist.
 
Dieses abnorme Verhalten kann man auch messen. Die Betroffenen zeigen bei Gehirn-strom-Messungen während ihrer "Gespräche" mit dem entsprechenden medialen Gerät ähnliche Glücksströme, wie wenn eine echte Bezugsperson anruft und spricht. Verdächtige Schüler werden bei uns deswegen einem Enzephalogramm-Test unterzogen. Bei konkretem Befund werden sie einer Therapie in diesem Gebäude zugewiesen.
 
Solche betroffenen Schüler kommen häufig aus Familien, in denen sie wenig Geborgenheit und keine Bezugspersonen haben. Sie suchen sich dann in dem "Gesprächs-Gerät" eine Bezugsperson. Diese Schüler müssen in der Therapie wieder lernen, dass es sich bei diesem medialen Apps "Gesprächsserver" um eine leblose Technik ohne wirkliche Gefühle handelt. Man therapiert u.a. dadurch, dass die Betroffenen das Gerät zerlegen müssen und die Technik erklärt bekommen.
 
Sokrates (erschüttert): Das wichtigste ist natürlich, dass diese betroffenen Schüler echte menschliche Bezugspersonen finden, z.B. auch in Lehrern, die sich die Zeit nehmen, für Schüler da zu sein. Aber für solche Lehrer ist in ihrem medialen Schulgelände kein Platz… Furchtbar, wenn das die Zukunft der Schule würde… Wenn die neuen Medien mit Bedacht und Augenmaß in der Schule eingesetzt werden, sind sie sinnvoll und nützlich. Die neuen Medien aber euphorisch als die pädagogische Zukunft anzupreisen und einzusetzen, das schadet. Dagegen muss ich mit meiner ganzen Kraft ankämpfen…
 
Aber jetzt kann ich nicht mehr, es hat mich zu sehr erschüttert, was ich heute gesehen und erfahren habe… Ich möchte zurück in die Welt, die noch nicht so "fortschrittlich" ist… Eines weiß ich, ich fange schon morgen an zu warnen vor Lehrern, Ideologien und Projekten, die sich extrem medial-fortschrittlich gebärden und in Wirklichkeit das Grab für die Pädagogik graben.
 
Damit verlässt Sokrates schnellen Schrittes dieses mediale Zukunfts-Schulgelände und die angeblich so fortschrittliche mediale Stadt.
 
Der Stadtführerblickt Sokrates kopfschüttelnd nach): Hat der etwas gegen die neuen Medien oder ist der zu sensibel? Alte Leute verstehen meistens den Fortschritt nicht.
 
(Aufgeschrieben von discipulus Socratis, dem Sokrates noch am selben Tag und immer noch erschüttert das Gesehene und Erfahrene erzählt hat)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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