Robert Nyffenegger

Wüstenbericht oder auch wüster Bericht

 
Wenn es einem „ mehr recht als schlecht“ geht und man dies leid ist, verspricht eine Wüstenreise rasche Abhilfe. Die libysche Wüste umfasst 90% des Landes und Libyen ist der 14grösste Staat der Erde - natürlich flächenmässig - daraus folgt, diese Wüste ist ideal für einen grösseren Bummel.
Um trotzdem kein unnötiges Risiko einzugehen, wie Verdursten, Verhungern, Verirren, Ver- und Entführen, ist der beste - lies teuerste - Organisator gerade gut genug.
Ausgerüstet mit Literatur über Land, Leute und ihre Geschichte sowie den vorgeschriebenen Habseligkeiten wie Wüstenpantoffeln, Essbesteck, Taschenlampe, Schnur und Faserpelzartikel für die kalten Wüstennächte, besteigen wir mit 13 weiteren (L) Eidgenossen  einen „Swiss“- Vogel und landen in Tripolis.
Eine sehenswürdige, überzeugende und authentische Stadt für Abfallbusiness-Experten. Auch   Motorfahrzeug- und Verkehrsbeamte kommen voll auf ihre Rechnung.  Einige klägliche Römerreste – von den italienischen Nachfahren im 20. Jahrhundert begeistert restauriert - sind zu bestaunen, wie auch das Museum, wenn es montags nicht geschlossen wäre.
Das Nachtessen im Fünfsternhotel nach unserem Sprachgebrauch Dreisternhotel – also okay - gestaltet sich insofern etwas eigenwillig, da unsere Reiseethnologin das Salatteller zwar auftischen lässt, den Verzehr aber verweigert, mit der Aufforderung ihr gleichzutun, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, dem Gemüse nächtlicherweise auf besondere Art wieder zu begegnen. Wenige –unter ihnen wir- haben keine Salatangst und bereuen dies in keiner Weise.
Ein Tagesausflug nach Sabrata und ein ebensolcher nach Leptis Magna ist empfehlenswert, insbesondere für Alzheimerkandidaten, da mehr oder weniger identische Römerruinen zu bewundern sind und einem, z. B. bei der Wiederentdeckung der Genossenschaftstoiletten, ein wundervolles dejà-vue Erlebnis
bieten.
Die folgenden zwei Tage dienen dazu um über Ghadames- Gharyat - Sebha zu erreichen.
Lachhafte 1600 Kilometer. Ausgeruht in zwei kakerknackigen Hotels mit bunt-speckiger Bettwäsche, schmuddeligem Interieur und Schnellwaschanlage – beim Gesichtwaschen werden mit dem Spülwasser gleichzeitig die Füsse gereinigt- benebelt von Wildwasserträumen, wegen einer therapierefraktären Toilettenspülung, die sich munter auf den Boden ergiesst, steigt man morgens nach einem lukullischen Frühstück in den Oldtimerkleinbus, nachdem man sich gegenseitig geholfen hat seine Mitbringsel auf den hintersten Bänken zu verstauen. In Stunden dauernder Fahrt hat man nun ausführlich Zeit seine Anatomie zu studieren, Knochen zu zählen, Muskeln zu entkrampfen, wenn der Vordersitz dies zuliesse und sich wegen der vergnüglichen Landschaft in die Backen zu kneifen. Aufregend ist die Feststellung, dass nach einem ansteigenden Abfallstreifen längs der Strasse stets ein Dorf folgt und  nach Verlassen derselbe zögerlich verschwindet.
Die Übernahme der Geländefahrzeuge gestaltet sich problemlos. Jedem ist ein ramadanpraktizierender Chauffeur zugeteilt, sodass wir mit Freude die von der Reiseleitung befohlene Aufgabe übernehmen, ihn von Zeit zu Zeit aufzuwecken, wenn er wegen Durst - oder Hungergefühl oder auch Nikotinmangel in Orpheus Armen entgleiten sollte.
Das Aufstellen der jungfräulichen Iglu-Zelte, made in China, bei anbrechender Nacht und einbrechendem Wind ist eine reine Augen- und Ohrenweide (trotz Sand) und lässt Einigen ihre gute Kinderstube vergessen. Die mitgelieferten Häringe in Form von besseren Zahnstochern würden auch ein Barbiezelt nicht halten. Dank den mitgebrachten Toyotas gelingt es schliesslich die Behausung im Sinne der Epoche Bauhaus festzuzurren. 
Das anschliessende Nachtmahl ist üppig und gut. Die Einnahme liegend, hockend, sitzend, schräg, seitlich oder auf dem Bauch auf einer Strohmatte ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, besonders wenn der Nachbar einem mit den Beinen die heisse Suppe über die Hand leert oder sein Hinterteil in den Teller setzt. Nebenbei sei bemerkt, dass das Essen aus der Feld- bzw. Wüstenküche in Anbetracht der erschwerten Verhältnisse immer – wenigstens beim Startschuss- hygienisch einwandfrei, abwechslungsreich und schmackhaft war.
Bereits die nun folgende Nacht ist die Reise wert. Die Erkenntnis, dass Sand steinhart ist, wenn man als Unterlage die vom Organisator gepriesene Isoliermatte in Form eines 2cm Schaumstoffmättchens schlechtester Qualität benützt bzw. in Ermangelung von Geeignetem benützen muss. Dies bedingt ausführliche nächtliche Wüstenspaziergänge und führt zur Erkenntnis weshalb Wüstennächte als wunderschön beschrieben werden. Zudem ist es am Morgen beruhigend zu spüren auf welcher Seite man geschlafen hat. Nach der ersten Nacht kennt jeder auch die Distanz zum Nachbarzelt, 1 Dezibel Schnarchlautstärke entspricht einem Meter Distanz. Gut zu wissen. Die Wüstenhygiene ist sehr einfach, wer sie nicht kennt, soll sich an eine Katze erinnern. Das “sich Ablecken“ gelingt zwar nur den Wendigsten. Nach zwei Tagen verweigert auch der Partner die gegenseitige Hilfeleistung.  Dünn oder Dick kann jedoch überall deponiert werden, etwas Scharren mit den Hinterbeinen und die Chose ist übersandet. Von einem unfreiwilligen Absitzer sei abgeraten. Nachdem die Reiseführerin von einer halben Tasse Wasser (vermutlich Mundspülwasser) im Sinne einer Totalhygiene geschwärmt hat, eifern wir ihr alle pflichtbewusst  nach. Mit dem Erfolg , dass keiner mehr zu  Schlafmittelabusus neigt, da bereits ein dreimaliges Schnuppern im  eigenen Schlafsack zu einem narkoseähnlichen Dornröschenschlaf verhilft. Ein Unverbesserlicher setzt eine halbe Flasche Trinkwasser mit nacktem Oberkörper zur Hygiene ein und büsst dies mit einem bösen Rüffel der Leiterin und Häme der Reisegesellschaft, nicht nur wegen Vergeudung des Trinkwassers, sondern auch wegen Verletzung des Schamgefühls des ramadierenden Personals.
Ein Besuch bei einem Tuareghäuptling gestaltet sich zu einem selbsterfüllenden Erlebnis.
Mitten in der Wüste, die nach etwas Regen mit  Wüstenhafer spärlich begrünt ist, sitzt er teilnahmslos, schöndeutsch meditierend, in schmutzig-romantische Tücher gehüllt auf einem abgewetzten Läufer vor  seiner mit Wüstenpflanzen und Zivilisationsmüll gebastelten Hütte im Schneidersitz auf dem Boden. Auf Fragen des lokalen Guide brabbelt er spärliche Antworten – vermutlich tiefgründende Weisheiten - aus einem mit gelben Restzähnen gespickten Rüssel. Fotoerlaubnis kostet 5 Dinhar. Erstaunlicherweise auch zuviel für einige unserer esoterischbeseelten, multikulturellen grünen Teilnehmerinnen. Er beehrt uns mit seinem besudelten Gästebuch, gefüllt mit mehr oder weniger originellen Postkarten aus Europa. Einen Besuch im Innern der Hütte oder in den benachbarten Behausungen seiner Weiber lehnt er vehement ab. Für dieses Verhalten findet unsere Ethnologin Tage später eine Erklärung, die ich hier nicht wiedergeben möchte, da ich nicht zur Familie Grimm gehöre. Auf jeden Fall haben wir sehr viel verpasst, denn angeblich sind in den Frauenhütten am Decksbalken die Plazenten aufgehängt, wodurch es mühelos gelingt, wie am Gebiss der Pferde, das Alter der Frauen zu bestimmen. 
Das Akakus-Gebirge ist tatsächlich ein gewaltiges Naturerlebnis. Abwechslungsreich, mal Sandwüste, dann Kieswüste, Steinwüste, Steppe und stets wechselnde bizarre Felsbrocken, Höhlen und Schluchten. Wir schauen uns jede Menge Felszeichnungen an, Männchen und Tiere in allen Schattierungen und Bewegungen. Mit gespitzten Ohren verfolgen wir die ausschweifenden Ausführungen der Reiseethnologin, nicht nur sind die Zeichnungen zum Teil älter als zehntausend Jahre, sie entdeckt immer wieder gewaltige Phallusse, wir können uns an Gruppensexszenen entsetzen und sie erzählt von Zeichnungen und Selbsterlebnissen aus der Mongolei oder China, die die Mär von Sodom und Gomorrha zum faden Abklatsch degradieren.
Für Autofreaks sei daran erinnert, dass in der Wüste weder Warn- Hinweis- oder Verbotsschilder anzutreffen sind, keine Geschwindigkeitsbeschränkung besteht, kein Radar, keine Polizei. Nur die „Strassen“-Verhältnisse sind zu beachten. Man kann nicht nur im Sand stecken bleiben, sondern auch in einem Kehrichthaufen versaufen oder ein vor sich hingammelndes Autowrack rammen. Ein echtes Paradies für Töff- und Autorowdies, die sich als Wüstenfans etikettieren.
Nach sechs Zeltnächten kommt ein Brunnen in Sicht. Das heisst ein kurzer Schlauch aus dem Wasser fliesst, rundherum eine Rudel stinkender Wüstlinge (=Jünglinge der Wüste).
Unserer Gruppe gelingt es schliesslich des Schlauches habhaft zu werden, nachdem sich die Chaufföre zum Teil nackt bis auf die Unterhosen – wer hätte das für möglich gehalten - geläutert haben. Oberflächlich, aber gewaschen, vorläufig in den alten Unterhosen, machen wir uns auf ins Wadi Mathendous, später ins Mandaragebiet und zu den Mandara-Seen.
Auch dies sind traumhafte Landschaften. Sanddünen soweit das Auge blickt,  gewaltige Hügeln, Wellen , Berge und Täler. Immer wieder unterbrochen von Oasen, zum Teil ausgetrocknet, zum Teil Salz-Schwefelwasser gefüllt. Dattelpalmen, Akazien, Steppengras und weiteres Grünzeug. Dazwischen einige halb eingestürzte Mörtelhütten und hie und da beschaulich im Steppengras sitzend Tuaregs, die den augenblicklichen Wüstenweibern ihren Schmuck und andere Köstlichkeiten in sehr manierlicher Weise aufschwatzen.
Die vorletzte Zeltnacht ist in unmittelbarer Nähe eines Camps mit Dusche und Übernachtungs-Rundhütten vorgesehen. Der heilige Narr oder auch Effendi benannt- unser Freund- und wir, entschliessen uns spontan diese Gelegenheit am Schopf zu packen, im Hinblick auf eine geruhsame Nacht auf wohltuenden Matratzen. Die völlig ausflippende Reiseleitung bedeckt uns mit Schimpf und Schande und dem ehrenvollen Namen Lumpenpack. Das Lumpenpack schläft übrigens herrlich, nach einem lustigen Abend mit Einheimischen.
Die letzte Zeltnacht ist der ersten ebenbürtig. Dank frühmorgendlichem Sandsturm erübrigt sich das rituelle Zähneputzen und man fühlt sich sandgestrahlt.. Die älteste Teilnehmerin (78 jährig und  Deutsche), möglicherweise vernünftigste, stöhnt in ihrem gehudelten Zelt „ o je, o je, o je“ und lässt sich zum Ausspruch hinreissen: “Erich Rommel hätte solche Plätze nie gewählt!“ Sie muss es wissen, ist schliesslich mit Sohn Werner Rommel befreundet.
Effendi verlässt unter Absingen wüster und bacchantischer Flüche sein zerzaustes, halbzerstörtes Kuschelhaus und trollt sich in den Toyota.
Nun, machen wir es kurz, der Rückflug von Sehba nach Tripolis und der Flug in heimatliche Gefilde gestalten sich ebenso nervig und stressig. Ausgefüllt mit düsteren Vorahnungen und Weissagungen der Reiseleitung, die sich – Allah sei es geklagt- nie erfüllten.
Tipp: Lies die Aussendung des Reiseveranstalters gründlich, auch zwischen den Zeilen:
„Anforderung an die Teilnehmer: Dies ist keine Studienreise im herkömmlichen Sinne, sondern eine Reise mit Expeditionscharakter, die vom Teilnehmer Geduld, Toleranz, Improvisationstalent, Ausdauer und Verständnis für das Andersartige fordert.“
Tatsächlich, die ausserordentlich belesene und gescheite Reiseführerin hat sich mit schier unglaublichem Talent von Führungsfehler zu Führungsfehler gehangelt und reichlich Verständnis für das Andersartige gefordert. Wir sind diesen Anforderungen vollumfänglich gerecht geworden.
Das Ziel ist erreicht: es geht einem nun „mehr schlecht als recht“!
 
Dieser Bericht wurde freundlicherweise dem Veranstalter zugesandt. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Unseres Wissens fand in der Folge keine Libyentour unter dieser Leitung mehr statt.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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