Helmut Wurm

Sokrates und Lehrer sind auch nur Menschen


 
Zu Sokrates kommt ein Elternpaar in die Sprechstunde. Sokrates hat nämlich auch eine Sprechstunde eingerichtet für Menschen, denen er nicht zufällig irgendwo begegnet, sondern die ihn gezielt wegen eines Anliegens oder einer konkreten Frage aufsuchen wollen. Nun ist dieses Ehepaar bei ihm.
 
Das Ehepaar (abwechselnd): Lieber Sokrates, wir möchten uns beim Ministerium über die Lehrer allgemein beschweren…. Dazu haben wir konkrete Gründe… Und das ist prinzipiell schon längst notwenig… Wir bitten dich, uns mit einem Begleitschreiben zu unterstützen… Deine Unterstützung hat Gewicht… Das wissen wir.
 
Sokrates (erstaunt): Ich bin nicht der Meinung, dass man sich über die Lehrer allgemein und prinzipiell beschweren müsste. Die meisten Lehrer geben sich Mühe und tun ihre Pflicht. Welche Gründe habt ihr denn für einen solchen weit ausholenden Schritt?
 
Das Ehepaar (abwechselnd): Wir haben einen Sohn in der Schule, der hat mit den Lehrern etwas Schwierigkeiten… Unser Sohn ist nicht ganz einfach, das geben wir zu… Wir haben ihn sehr anspruchsvoll erzogen und waren immer für ihn da… Wir sind sehr besorgte und fürsorgliche Eltern… Eine gute Schule muss eine solche anspruchsvolle Erziehung weiter führen… Das erwarten wir… Und in dieser Beziehung sind wir sehr enttäuscht… Die Schule und vor allem die Lehrer haben sehr an Niveau und Qualität verloren… Da muss jetzt etwas geschehen… Und du kannst uns dabei helfen… Denn deine Unterstützung hat Gewicht…
 
Sokrates (etwas verlegen): Dazu müsstet ihr mir aber konkreter mitteilen, was euch an der Schule missfällt,… was die Lehrer falsch machen.
 
Das Ehepaar (abwechselnd): Als allererstes fordern wir, dass nur noch Verheiratete eine Stelle als Lehrer bekommen dürfen… Unverheiratete ohne eigene Kinder können sich zu wenig in die Eltern und in die Schüler hinein versetzen und diese verstehen… Nur eigene Erfahrungen in einer eigenen Familie befähigen Lehrer zum Lehrerberuf… Unser Sohn merkt sofort, ob ein Lehrer sich in seine Probleme und Fragen hinein versetzen kann oder nicht.
 
Sokrates (beschwichtigend): So einfach ist es nun doch nicht. Es stimmt in der Regel schon, dass Lehrer mit eigener Familie besser die Eltern und Schüler verstehen können und dass es deswegen empfehlenswert ist, dass Lehrer selber verheiratet sind und Kinder haben.
 
Aber andererseits kann eine eigene Familie auch vom Lehrerberuf ablenken oder die Zeit dafür einschränken. Und gerade bei unverheirateten Lehrerinnen kommt es häufig vor, dass  dann ihre Schüler zu Ersatzkindern werden, die sie intensiv betreuen. In früheren Zeiten sollten Lehrerinnen sogar aus diesem Grund möglichst unverheiratet bleiben.  
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Der Vater: Lehrer müssen weiter bereit sein, ihre ganze Zeit einzusetzen und jederzeit erreichbar zu sein und für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Unser Sohn ist, wie schon bemerkt, etwas schwierig, er berichtet uns alles aus der Schule und wir verfolgen sehr genau, was dort geschieht. Dabei haben wir viele Fragen und Anregungen, die wir den Lehrern, vor allem dem Klassenlehrer stellen bzw. weitergeben müssen, das kann auch noch abends spät sein, wenn unser Sohn wegen schulischer Fragen oder Probleme nicht einschlafen kann… Dann müssen wir die Lehrer noch anrufen können… Das gehört zum Lehrerberuf… Wenn man den Lehrerberuf wählt, muss man sich bewusst sein, welche Pflichten man damit auf sich nimmt. 
 
Sokrates: Solche extremen Forderungen darf man nicht an die Lehrer stellen. Es stimmt zwar, dass der Lehrerberuf keine verbindlichen Arbeitszeiten hat und dass ein Lehrer in Ausnahmefällen auch abends zu sprechen sein muss. Aber er hat auch ein Anrecht auf angemessene Freizeit.  
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Der Vater: Lehrer müssen weiterhin umfassend gebildet sein, zumindest in ihren Fächern, und auf alle üblichen möglichen Fragen ihrer Schüler kompetent antworten können. Nur dadurch sichern sie sich die Achtung ihrer Schüler. Das sollte vom Ministerium regelmäßig überprüft werden und die Lehrer sollten in den Ferien regelmäßig an Wissens-Fortbildungen teilnehmen müssen.
 
Unser Sohn ist sehr aufgeweckt und fragt ständig alles Mögliche. Wir haben ihn in unserer Erziehung darin bestärkt, denn das fördert die Entwicklung der Intelligenz. Wenn wir eine Frage nicht beantworten können, schauen wir sofort in Lexika oder im Internet nach oder verweisen ihn an seine Lehrer. Unser Sohn merkt sofort, wenn ein Lehrer bei einer Antwort unsicher ist oder gar nicht antworten kann. Dann ist solch ein Lehrer bei ihm schnell "unten durch".
 
Sokrates: Es ist sicher notwendig, dass Lehrer in den Ferien regelmäßig an fachlichen Fortbildungen teilnehmen und sich privat ständig weiterbilden. Aber von Lehrern darf man nicht verlangen, dass sie auf alle Fragen der Schüler antworten können. Lehrer müssen keine Universalgenies sein.  
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Der Vater: Die Lehrer müssen weiter selber praktisch erfahren in den neuen Medien sein und diesbezüglich immer auf dem neuesten Stand stehen. Dafür hat das Ministerium zu sorgen. Denn den neuen Medien gehört die Zukunft. Sie sind schon längst in die Kinder-zimmer eingezogen. Auch wir haben das Zimmer unseres Sohnes mit den neuesten Medien ausgestattet und halten es diesbezüglich stets auf dem modernsten Stand. Unser Sohn fragt uns ständig etwas bezüglich deren Bedienung. Wir sind aber mit den neuen Medien nicht aufgewachsenen. Die Lehrer müssen alle seine technischen Fragen beantworten können. Mein Sohn erwartet das einfach.
 
Sokrates: Lehrer müssen sich auch dem Fortschritt stellen, aber sie können unmöglich gerade auf dem Gebiet der neuen Medien alles wissen, up-to-date sein. Das würde sie völlig überfordern. Und vielleicht macht es Schülern sogar Freude, wenn es Bereiche gibt, wo sie mehr wissen als ihre Lehrer.
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Der Vater: Nicht zuletzt muss das Ministerium darauf achten, dass die Lehrer auch eine gewisse Sportlichkeit besitzen. Es kann nicht sein, dass ein dicker, bequemer, unsportlicher Lehrer die lebhaften Schüler mit ihrem Bewegungsdrang unterrichtet. Dadurch würde dieser Lehrer nur an Achtung einbüßen.
 
 Sokrates: Sicher wäre es gut, wenn alle Lehrer gesund und etwas sportlich wären. Bei uns im Alten Athen wurde das an den Gymnasien so gewünscht. Aber bei uns hatten die Schüler an den Gymnasien ja auch täglich 3-4 Stunden Sport. Heute hat die Schule eine andere Gewichtung. Sie ist eine allgemeinbildende Schule, die auf das gesamte Leben vorbereitet… Und weniger sportliche oder sogar kranke Lehrer können durchaus gute Fachlehrer und Pädagogen sein.
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Die Mutter: Weil du eben Pädagoge gesagt hast... Es muss sicher gestellt sein, dass alle Lehrer pädagogische Fähigkeiten haben und intensiv in Pädagogik ausgebildet sind. Dafür hat das Ministerium zu sorgen. Wer keine „pädagogische Ader“ hat, darf nicht als Lehrer eingestellt werden. Denn Lehrer sind nicht nur Fachlehrer, sondern auch Pädagogen. Sie müssen die Kinder auch erziehen, natürlich im Sinne der Eltern. Deren Erziehung müssen sie in der Schule fortsetzen.
 
Unser Sohn ist etwas schwierig, wie schon gesagt. Er verlangt einen guten und geschickten Pädagogen. Verbote und Strafen kennt er nicht und akzeptiert er nicht. Er wirft sich dann auf den Boden und schreit laut – auch in der Schule. Er merkt sofort, wenn Lehrer keine guten Pädagogen sind und nutzt das aus.  
 
Sokrates: Lehrer sind tatsächlich nicht nur Stoffvermittler, sondern auch Erzieher. Bei uns im Alten Athen gab es deswegen 2 Personen dafür. Der „Pädagoge“ betreute die Kinder, brachte sie zur Schule, saß während des Unterrichts hinten im Raum dabei und brachte die Kinder nach der Schule nach Hause. Der „Lehrer“ unterrichtete die Schüler stoffbezogen in Mathematik, Musik, Literatur usw.
 
Mittlerweile sind diese beiden Aufgabenbereiche (bis auf das Hin- und Zurückbringen) in der Schule und in der Person des Lehrers vereint. Aber gerade wegen dieser Aufgaben-zunahme kann man vom heutigen Lehrer nicht verlangen, fachlich und pädagogisch ein Alleskönner zu sein. Bei schwierigen Schülern müssen ausgebildete Sozialpädagogen und Psychologen die Betreuung übernehmen.   
 
Die Beiden: Das enttäuscht uns aber, dass du uns darin nicht unterstützt. Wir haben eine andere Reaktion von dir erwartet.
 
Die Mutter: …..
 
Beide Eltern zählen noch eine Reihe weiterer Forderungen auf, welche die Lehrer erfüllen müssten und derzeit nicht erfüllten. Abschließend fragen sie dann trotz ihrer mehrfach geäußerten Enttäuschung über die Antworten des Sokrates, ob er ihrer Beschwerde an das Ministerium nicht doch ein Begleitschreiben hinzufügen könne… Seine Unterstützung habe Gewicht.
 
Sokrates überlegt eine Weile, dann nimmt er ein leeres Blatt Papier, schreibt einige Zeilen darauf, unterschreibt und reicht es den beiden Eltern mit der Bemerkung, dass sie dieses Blatt ihrer Beschwerde beifügen könnten. Auf dem Blatt steht:
 
„Lehrer dürfen auch normale Menschen mit Fehlern, Schwächen und Wissens-lücken sein. Dazu haben sie das Recht“.
 
gez. Sokrates
 
 
(Verfasst von discipulus Socratis, der bei dieser Sprechstunde als Protokollant im Hintergrund dabei saß)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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