Wally Schmidt

Mit einem Schild um den Hals

 

 

Auf einem Bahnhof standen wir Kinder, und es waren sehr viele. Alle waren furchtbar aufgeregt. Ich hatte ein Schild um den Hals hängen, darauf stand Name, Alter und der Ziehlbahnhof. Mutter stand klein und sehr traurig neben mir. Sie nahm mich immer wieder in die Arme, und ein paar Tränen liefen ihr aus den Augen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten, doch es war wohl zwecklos. Wie mag sich die arme Frau damals gefühlt haben? Sie wusste zwar die Adresse, doch wo das war, wohin man ihr Kind schickte, wusste sie nicht? Das war sicher für sie unvorstellbar. Ich war gerade mal 9 Jahre alt, also für eine weite Reise viel zu klein. Vom Staat wurden Kinder in ländliche Gebiete geschickt, um sie vor den Fliegerangriffen zu schützen, was sich „ Kinderlandverschickung“ nannte. Die Reise ging immer gegen Osten, so auch mit uns.

Von der Fahrt mit dem Zug weiss ich eigentlich gar nichts, ausser, einer Begebenheit. Wir fuhren mit verdunkelten Fenstern durch Berlin, so sagte man uns wenigstens, so dass natürlich nichts zu sehen war. Wir durften auf keinen Fall die Verdunklung zur Seite schieben. Die Züge mussten damals alle verdunkelt fahren, wegen der Fliegerangriffe. Wenn sie mit Licht gefahren wären, hätte man sie bombardiert, und es wäre nichts mehr von unserem Zug übrig geblieben.

Wir fuhren durch ganz Deutschland, bis es nicht mehr weiter ging. Unser Ziel war ein kleiner Ort an der litauischen Grenze. Das wussten wir natürlich damals nicht. Wir Kinder liessen einfach alles mit uns geschehen. Was sollten wir auch machen? Ich verstehe nicht, wie wir die lange Fahrt in dem Zug überhaupt ausgehalten haben. Wir mussten doch die ganzen Stunden auf Bänken sitzen, und die waren zu der Zeit nicht gepolstert. Doch daran kann ich mich gar nicht erinnern.

 

Von der Ankunft weiss ich leider auch gar nichts mehr. Die Leute, bei denen wir

aufgenommen wurden, holten uns ab - das habe ich noch genau in meinem Kopf- und sie waren auch sehr lieb zu mir. Auch daran kann ich mich noch genau erinnern, weil es mir sicher gutgetan hat. Doch ich glaube, dass ich vor Übermüdung gar nicht richtig all die neuen Eindrücke begreifen konnte.

 

Ich kam auf einen sehr grossen Bauernhof, mit allem was dazu gehörte. Dort gab es Pferde, Kühe, Schweine, Schafe, Gänse, Enten, Hühner, Hunde und Katzen. Als ich mich ein wenig eingelebt hatte, was natürlich einige Zeit gedauerte hat, war das wie im Paradies. Nur eins blieb, das Heimweh war immer bei mir. Von Freunden unserer Familie war der Sohn mit mir zum gleichen Ort verschickt worden. Nur er wohnte sehr weit weg, auch auf einem Bauernhof. Es war ein Land, wie man sich das gar nicht vorstellen kann, und es gab dort nur Bauern. Alles war weit auseinander, der nächste Bauernhof war Kilometer weit entfernt.

Klaus, so hiess der Junge, und ich, wir marschierten manchmal zusammen zu dem kleinen Bahnhof. Natürlich war er auch sehr weit von unserem damaligen Zuhause, doch wir haben ihn immer gefunden.Vielleicht hat uns die Sehnsucht den richtigen Weg gezeigt. Auf dem sehr kleinen Bahnhof standen wir zwei, mit den Armen auf einem Zaun und sehnsuchtsvollen Blicken immer in Richtung Westen. Zu sehen war eigentlich gar nichts, ich glaube, am Tag kam nur ein Zug, und der fuhr wohl zu einer anderen Zeit.

Das Erste, woran ich mich auf dem Bauernhof erinnere, war das Bett. Es war kein Bett, es war ein Himmelbett. Um da rein zu kommen, musste ich auf ein kleines Bänkchen steigen, und das Federbett deckte mich so zu, dass von mir nicht mehr viel zu sehen war. Es war herrlich, darin zu schlafen, und sich so richtig einzumuckeln. Die Familie hatte einen kleinen Jungen, der ca. sechs Jahre jünger als ich war. Ich weiss noch, dass er hinter mir auf dem Stuhl stand und mich eingehend untersuchte. Meine Ohren, meine Haare und einfach alles an meinem Kopf. Für ihn war das sicher auch alles etwas Neues, plötzlich ein anderes Kind im Haus zu haben.

Als ich eine Zeitlang da war, habe ich viel mit der Katze gespielt. Weil sie noch so klein war, musste sie getauft werden, und das im Brunnen. Als man mich bei der Taufe erwischte, sagte ich:“Ich wollte doch nur die Katze taufen“. Dem Tierchen ist nichts passiert, was mein Glück war. Geschimpft haben meine Ersatzeltern auch nicht.

Eine Gans mochte mich wohl besonders gut leiden, oder auch nicht. In der Mitte des Hofes war ein grosser Steinhaufen, den ich mir zum Spielplatz ausgesucht hatte. Wenn die Gans mich sah, kam sie immer anspaziert. Ich hatte Angst vor ihr und rannte um den Steinhaufen, das kleine Biest aber hinter mir her. Ich wusste, dass Gänse ja ganz schön bissig werden können. Trotzdem machten wir beide immer das gleiche Spielchen. Gebissen hat sie mich nie.

Im Haus gab es kein Wasser und keine Elektrizität. Das Wasser wurde aus einer Pumpe am Brunnen geholt, was für mich am Anfang alles etwas komisch war. Ich kannte nur das Wasser aus dem Wasserhahn. Für Licht gab es wunderschöne Petroliumlampen, die am Abend ein warmes Licht auf den grossen, runden Tisch strahlten. Mit so einer Lampe hatte ich einmal Pech, denn ich warf sie um und war natürlich sehr erschrocken, weil ich mich auch etwas verbrannt hatte. Doch es war nicht so schlimm, ich kriegte Mehl auf meine Hände und das hat geholfen.

 

Eines Tages hatte ich Läuse auf dem Kopf. Das fand ich schlimm, weil ich im Gedächtnis hatte, dass sie nur arme Kinder kriegten. Man machte mit mir eine „Rosskur“,indem man mich mit Viehsalz einrieb. Das war ziemlich beängstigend für mich. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es wehgetan hat, doch ich glaube nicht . Die Läuse hatten dann ihren Geist aufgegeben. Noch heute, nach so langer Zeit, sehe ich mich immer noch in der Küche stehen und jammern, weil ich kein Viehsalz auf dem Kopf haben wollte. Ich dachte dabei immer an Kühe. Ulkig, doch es war so.

 

Eine Sau hatte kleine Ferkel bekommen. Für mich war das ein grosses Ereignis. Ich ging mal in den Stall, um sie mir anzusehen. Der Stall hatte innen eine Vertiefung, die ausgemauert war. Man hatte die Schweinemutter mit ihren Kindern von den anderen Schweinen getrennt. Daneben war so viel Heu aufgetürmt, dass ich kaum das obere Ende sehen konnte. Ich war natürlich sehr neugierig auf die kleinen Schweinchen. Als ich dann gucken ging, war etwas Schreckliches passiert. Ein kleines Schaf war auf das Heu geklettert und in die Schweinegrube abgerutscht. Dort war das arme Tier von der Muttersau vollkommen zerfetzt worden, was für mich ein schrecklicher Anblick war.

Ganz was Besonderes waren für mich die Pferde, von denen es sehr viele gab. Ein braunes mochte mich wohl sehr und kam immer auf mich zugelaufen, wenn es mich sah. Komisch, ich hatte keine Angst vor dem Pferd, hatte auch nie bemerkt, dass es so gross war. Heute sind mir Pferde irgendwie doch zu gross, ich sehe sie lieber nur von weitem.

In der Küche gab es einen Eimer, in dem immer ausgelassene Speckstückchen aufgehoben wurden. Ich hatte eine sehr schöne Schürze mit einer grossenTasche. Oft schlich ich mich zu dem Eimer und füllte mein Schürzchen mit diesen Leckerchen. Der Erfolg war bald auf meinen Rippen zu sehen, doch der Eimer war so verführerrisch. Die Ersatzeltern haben es immer mit einem Lächeln geduldet. Sie freuten sich sicher, dass ich zunahm, denn ich war bei meiner Ankunft auch sehr mager gewesen.

 

Im Sommer fuhren wir mit grossen Leiterwagen auf die Felder zur Ernte. Ich weiss noch, dass ich mit nackten Füssen über die Stoppelfelder gelaufen bin, ohne dass es mir etwas ausmachte. Scheinbar war ich ganz schön abgehärtet. Vielleicht taten das auch die guten Speckstückchen, von den ich schon viele im Bauch hatte. Wir stellten die Garben schön zusammen und mussten dabei aufpassen, dass sie nicht umfielen. Das musste ich natürlich erst lernen, bevor ich dann fleissig mithelfen durfte.

 

Einige Zeit ging ich dort zur Schule, doch ich glaube, nicht allzu lange. Der Weg dorthin war weit, und ich nehme an, dass den Bauern einfach die Zeit fehlte, um mich immer hinzufahren. Ich weiss das nicht mehr so genau.

Dann kam die Zeit des Schlachtens, was für mich sehr aufregend war, weil ich davon überhaupt keine Ahnung hatte. Irgendwie hatte ich auch Angst davor, dass die Tiere „totgemacht“ wurden.

EinesTages wurde ein Schwein geschlachtet. Alle waren dabei, ich auch. Das war doch ein ziemlicher Schock für mich. Ich habe noch in Erinnerung, wie man das Schwein aufschnitt und seine Därme ausdrückte und säuberte. Für mich war das alles sehr schrecklich und auch eklig. Ich höre das arme Viech noch heute aus Todesangst schreien. Ich weiss nicht, welche Methode sie hatten, um das Tier zu töten, doch es war sicher keine Quälerei. Es ist komisch, dass manche Ereignisse uns so tief beeindrucken, wir sie nach so langer Zeit noch genau vor uns sehen.

Einmal schickte man mich mit einer Ziege zu einem Bock. Ich wusste natürlich nicht so genau, was ein Bock war, und was er mit der Ziege machen sollte. Ich kannte mich ja nach einiger Zeit schon etwas in der Landschaft aus. Also schickte man mich von einem Hof zum anderen, und das klappte auch ganz gut. Ich hatte die Ziege an einem Strick, und zog sie hinter mir her, was sie sich auch gefallen liess. Wenn mich die Leute fragten, wohin ich mit der Ziege wollte, sagte ich immer:“ Ich bringe sie zum Bock“. Ich habe nicht verstanden, warum die Leute dann so lachten. Als ich an meinem Ziel angekommen war, kam die Ziege in einen Stall. Dann wurde der Bock geholt. Irgendwas war noch mit einem Sack über den Kopf der Ziege. Ich war da ein bisschen dumm, und bin es auch heute noch,

weil ich immer noch nicht weiss, warum die Ziege einen Sack über den Kopf kriegte.( Vielleicht frage ich mal einenFachmann!) Vielleicht war der Bock kein „schöner“ Mann, und die Ziege sollte das nicht sehen. Was dann passierte, konnte ich nicht sehen, denn ich musste aus dem Stall. Nach einiger Zeit marschierte ich mit meiner Ziege wieder nach Hause. Die Leute haben sich wohl mächtig über mich amüsiert, wie ich später einmal erfahren habe. Ich habe die lieben Menschen auf ganz andere Art wieder gesehen. Sie haben mir das erzählt, als ich schon fast erwachsen war. Doch davon kommt vielleicht eine neue Geschichte.

 

Dann kam der Winter, und was für einer! So was hatte ich noch nicht erlebt. Obwohl, als ich noch klein war, wir zu Hause sehr viel Schnee und auch Kälte hatten. Doch in meiner jetzigen Heimat war es anders. Ich kann mich noch erinnern, dass wir einmal minus 40 Grad hatten. Aber die Menschen dort waren für alles gerüstet. Gefroren habe ich nie. Wir fuhren mit einem Pferdeschlitten übers Land. Die Pferde hatten Glöckchen umhängen, und wenn sie so fleissig trabten, bimmelte es ununterbrochen. Im Schlitten hatten wir dicke Pelzdecken und heisse Steine an den Füssen, so dass uns nie kalt wurde. Es war herrlich! Alle Bäume waren dick verschneit, und alles sah so unwirklich aus wie im Märchen.

 

Es war Januar 1943, und der Kriegt tobte im Westen ziemlich heftig, doch Mutter hatte wohl schlimmes Heimweh nach mir und holte mich zurück nach Hause. Sie nahm die Strapaze auf sich, und sie kam zusammen mit der Mutter von Klaus. Als ich sie sah, musste ich zweimal hinsehen, um sie überhaupt wahrzunehmen. Sie war ganz weiss und schrecklich dünn. Ich war dagegen ein richtiger dicker Mops geworden. Sie ist ein paar Tage geblieben, und dann nahmen wir wieder die schreckliche Fahrt auf uns über hunderte von Kiometern. Wir mussten unterwegs einige Male aus dem Zug, um in einem Bunker bei Fliegeralarm Schutz zu suchen. Die lieben Freunde von heute waren zu der Zeit nicht so gut auf uns zu sprechen. Sie bombardierten alles was sie unten auf der Erde sehen konnten. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Vater, der zu der Zeit noch nicht Sodat war, holte uns am Bahnhof ab. Er kannte mich kaum wieder. Ich hatte mich in einem halben Jahr so dick gefuttert, und sah sicher prima aus. Die lieben Ersatzeltern werde ich nie vergessen, denn sie haben alles für mich getan, und ich bin ihnen noch heute sehr dankbar. Leider leben sie nicht mehr.

Ich habe mal im Internet eine alte Karte von Ostpreussen gesucht. Es gibt nicht viele und alle sind ungenau, doch tatsächlich fand ich den Ort, in dem ich gewesen bin. Er war zwar kaum zu sehen, doch ich habe ihn gefunden. Es ist heute ein merkwürdiges Gefühl, die Karte anzusehen, weil ich jetzt weiss, dass ich so weit von Zuhause war, und kann das nicht begreifen. Jetzt sind solche Entfernungen kein Problem mehr, doch im Krieg unter schrecklichen Umständen war es eine Weltreise, besonders für ein kleines Kind von neun Jahren.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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