Peter Kröger

Jörg in der Ferne



Als sie erwachte, erinnerte sie sich nicht mehr, worum es ging.
Sie lag einfach da mit halb geöffneten Augen, schaute seitlich zum Fenster hinüber und spürte einem Gefühl nach.
In der Ferne bewegten sich große, schwarze Punkte über das Meer, vermutlich Containerschiffe auf dem Weg nach Sizilien oder Afrika.
Beiläufig schnupperte sie an der frischen, weißen Bettwäsche und registrierte amüsiert die kitschige, antikisierende Phantasielandschaft an der Wand ihres Hotelzimmers, in das sie sich am Abend gleich nach ihrer Ankunft zurückgezogen hatte. Die Anreise mit Flugzeug, Bahn, Fähre und Bus war anstrengender gewesen als vermutet und der Koffer schwer, zu schwer, wie sie fand.
Sie stand auf und öffnete eine weiße Flügeltür. Dann trat sie ins Freie und ging  barfuß auf dem angenehm warmen Steinfußboden der großen Terrasse umher, die bereits in helles Sonnenlicht getaucht war. Unter dem aufgespannten hellgrünen Sonnenschirm am frisch lackierten Eisengeländer blieb sie schließlich stehen und sah weit unter sich Hafen und Strand.
Woran soll ich denken in diesen Gefilden, überlegte sie und errötete, weil ihr auffiel, dass sie nichts wirklich erwog, sondern längst wusste, woran sie denken wollte. Sie wollte sich Jörg  vorstellen und wie es wäre, mit ihm in der Abenddämmerung durch einen rötlich leuchtenden Pinienwald zu gehen oder in einer Bar an der Piazza schweigend seine Hand zu berühren.
Fast hätte sie Jörg gefragt, ob er mitkommen wolle ans Mittelmeer, sie hätte ihn eingeladen, ohne Frage hätte sie ihn eingeladen, denn es war anzunehmen, dass Jörg als Hausmeister ein lausiges Einkommen, ein geradezu beschämendes Kleinsteinkommen hatte, woran auch die Tatsache nichts änderte, dass Hausmeister neuerdings gern als facility manager bezeichnet wurden, selbst wenn sie nur kleine Angestellte einer großen Immobilienverwaltung waren wie Jörg. Außerdem war Geld ein Thema, das sie nicht sonderlich interessierte, am besten, man gab es aus, bevor es sich ansammelte, das lehrte Sie der Umgang mit ihren streitlustigen Klienten.
Aber es wäre absurd gewesen, Jörg einen gemeinsamen Urlaub vorzuschlagen. Selbst seinen Namen kannte sie erst seit vier Wochen. Wegen eines defekten Fahrstuhls hatte sie seine Dienste in Anspruch genommen. Glücklicherweise war er in der Nähe gewesen, um ihr eine große Kiste mit Büromaterial vom Foyer ins sechste Stockwerk bis in ihre Anwaltskanzlei zu tragen. Mehr noch als das Muskelspiel seiner kräftigen Arme gefielen ihr seine breiten Handgelenke und das Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Die Annahme eines Trinkgelds hatte er mit Hinweis auf die Notsituation verweigert, in die schließlich jeder einmal geraten könne. Ihre Kurzatmigkeit angesichts der vielen Treppenstufen verhinderte ein entspanntes Gespräch, doch für ein dankbares Ich-weiß-nicht-was-ich-ohne-Sie-gemacht-hätte, das sie ihm hinterherrief, hatte die Luft zum Glück gerade noch gereicht.
Im Treppenhaus, er war schon wieder im Treppenhaus gewesen, dachte sie, als er noch einmal umkehrte und mir seine Karte gab: Jörg Hentschel, Mädchen für alles, Kleinreparaturen und Botengänge, Berlin-Charlottenburg, Telefon. Ein Job und noch ein Job. Und ein Mann mit Humor.
Wenn es mal irgendwo klemmt, hatte er gesagt
.
Das Hotel war eine gute Wahl. Sie zog einen Liegestuhl unter den Sonnenschirm. Eine Eidechse, die an der Grenze zwischen Schatten und Licht entlanglief, amüsierte sie. Sie ging  ins Zimmer zurück und holte ein Buch mit Kurzgeschichten, das den Titel Gassi trug und aus kleinen gewagten erzählerischen Ausflügen bestand, die sie seit Tagen fesselten, denn entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte sie schon vor dem Urlaub mit der Lektüre begonnen. Somit war es kein reines Urlaubsbuch, sondern gewissermaßen eine Erinnerung an Berlin, obwohl von Berlin keine Rede war, auch nicht von Italien, wo sie jetzt war, sondern lediglich vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten und ihren Bewohnern oder zumindest einer Handvoll von ihnen.
Schon nach wenigen Minuten klappte sie das Buch wieder zu und schloss die Augen. Wieder dachte sie an Jörg und seinen federnden Gang. Und daran, dass sie und Jörg sich jetzt immer grüßten, wenn sie sich zufällig in einem der langen Büroflure im sechsten Stock oder an der Kasse der Cafeteria im Erdgeschoss trafen. Einmal hatte sie sein Tablett gesehen und gefragt: Hilft Müsli beim Treppensteigen?
Gern hätte sie die Gelegenheit ergriffen und sich mit ihm an einen Tisch gesetzt, wenn es nicht weiter aufgefallen wäre, aber fast alle Tische waren frei, das hätte komisch ausgesehen, und als Anwältin war sie darauf bedacht, möglichst keinen komischen Eindruck zu machen. Später trafen sie sich wieder bei der Geschirrrückgabe, und sie sagte: Ich habe ein Problem mit einem Aktenschrank. Er wackelt.
Ein wackelnder Aktenschrank ist ein Ärgernis, sagte er und biss sich auf die Unterlippe.
Und dann kam er nach Dienstschluss in die Kanzlei, rüttelte und schraubte, und nichts wackelte mehr. Als er die mitgebrachten Werkzeuge in den Rucksack zurücklegte, sah sie für einen kurzen Moment ein schmales Buch mit dem Titel Gassi. Er bemerkte ihren Blick und sagte: Eine Empfehlung. Noch am selben Abend kaufte sie es sich. Vier Tage später flog sie Richtung Süden.
Eine Woche würde sie nun in diesem Hotel auf dieser schönen Insel verbringen, schwimmen, wandern und den tiefblauen Himmel bestaunen. Und ein Mädchen für alles sein, dachte sie, heute ein Mädchen ganz für mich, zwischen Eidechsen und Liegestuhl. Gelegentlich sah sie einen livrierten Hotelangestellten mit einem Tablett über eine unterhalb der Terrasse verlaufende, steil ansteigende weiße Marmortreppe vom tiefer liegenden Rezeptions- und Küchenbereich zu den Zimmern eilen.
Sie überlegte, ob sie über das Haustelefon einen caffè macchiato bestellen sollte, einerseits und andererseits, aber dann war der Gedanke fort und kehrte nicht wieder.
Nur ihrer besten Freundin, der Schauspielerin Sabine, hatte sie von Jörg und seinem Spruch erzählt: Ein wackelnder Aktenschrank ist ein Ärgernis. Auch dass er Müsli esse und neben Bohrern, Schraubenziehern und Kneifzangen Bücher mit sich herumtrage.Ich bin Anwältin und er ist ein Fall, verstehst du?
Ein Fall, sagst du,  hatte Sabine erstaunt entgegnet. Ein Handwerker. Ein Leser also auch. Ein Troubleshooter. Ich habe von ihm gehört. Ist er auch womöglich – es folgte eine bühnenreife Pause von einigen Sekunden -dein Fall?  
 


Plötzlich wusste sie, worum es ging.
Sie hatte von einem Gerichtstermin geträumt, und Jörg war ihr Klient gewesen. Sein Interesse an der Verhandlung war allerdings mäßig, er hatte stattdessen begonnen, Löcher in die Wände des Gerichtssaals zu bohren. Den Richter schien es nicht zu beeindrucken, stattdessen maßregelte er sie, die Anwältin,  mit den Worten: Was glauben Sie eigentlich, wer sie sind.
Dann war Jörg einfach fort gewesen und Sabine stand plötzlich in der Tür und sagte: Es ist alles nur ein Traum, meine Liebe. Daraufhin war sie aufgewacht, und was sie gespürt hatte, war Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem.
Sie fragte sich, was all das zu bedeuten hatte, mehr noch, ob es überhaupt eine Bedeutung gab, oder alles nur ein großes Durcheinander war, eine Täuschung, die unweigerlich eine wie auch immer geartete Ent-täuschung nach sich zöge. Erneut schlug sie das Buch auf und las nun lange Zeit konzentriert, ohne aufzublicken. Die großen, schwarzen Punkte auf dem Meer bewegten sich weiter am Horizont entlang, bis sie sich in der Weite des Meeres auflösten. Die Wärme, die zur Hitze geworden war, schlug über ihrem Kopf zusammen und hielt sich in der Luft wie feiner Staub, der sich langsam verdichtete.
Ein gutes Buch, ein fabelhaftes Buch, dachte sie und bemerkte eine Müdigkeit, die sie zu dieser Uhrzeit ein wenig erstaunte. Dann vertiefte sie sich wieder in eine Geschichte, die von Menschen handelte, die alle dasselbe taten, nur auf unterschiedliche Weise. Für den Bruchteil einer Sekunde schob sich zwischen sie und das Buch die Vorstellung, Jörg könnte ihre Wohnung komplett renovieren, eine Kleinreparatur nach der anderen, am Wochenende, nach Feierabend, schrauben, hämmern, streichen, neue Leitungen, Steckdosen, stabile Regale und Schränke, und sie würde Müsli besorgenund ein neues Buch.
Längst war der Schatten des Sonnenschirms weitergewandert und sie lag ungeschützt in der Mittagsglut ohne es zu bemerken, fortgetragen vonihren Phantasien, eingelullt von ihrer Müdigkeit und der flirrenden Luft um sie herum.
Es traf sie in ihrem Innersten, als sie Jörg wie aus dem Nichts kommend die Marmortreppe emporsteigen sah,  mit einem strahlend weißen Hemd und einem bunten Stirnband. Sie fürchtete sich, spürte ein Verlangen und fürchtete sich wieder. Sie wollte zu ihm, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, die Terrasse zu verlassen, und zur Treppe zu gelangen, die als merkwürdig freischwebendes Labyrinth hinter einem Felsvorsprung gleich neben dem Hotel verschwand. Die Worte, die sie ihm hinterherrief, schienen ihn nicht zu erreichen. Herr Hentschel, sagte sie, die Terrasse ist schön, aber hier fehlt ein Ausgang. Doch dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Wie schön alles sein konnte und wie verblüffend einfach zugleich!
Sie überlegte, was zu tun war und griff nach seinem Arm. Schmal, merkwürdig schmal, dachte sie und erwachte.
Du bist verrückt, sagte Sabine, du verbrennst in der Sonne. Was tust du dir an, Ruth. Und jetzt sag guten Tag.
Sie starrte Sabine an und sagte: Du? Ich muss eingeschlafen sein. Was um alles in der Welt machst du hier?
Sabine lächelte. Jemand muss nach dir sehen. Das ist ja wohl überdeutlich.
Immer diese Schauspieler, stöhnte Ruth. Ich glaube es nicht. Doch, du bist es.
Sie dachte an ihren Traum und schaute zur Marmortreppe, auf der niemand ging. Sabine war da, die lustige Sabine, und Jörg war fern, wenn auch sein Stirnband irgendwo hinter dem Felsvorsprung durch die Luft wirbeln musste ..
Du musst etwas trinken und dich in den Schatten setzen, sagte Sabine. Man darf dich eben nicht aus den Augen lassen. Du hast sicher einen Sonnenbrand . Und mit Blick auf das Buch fügte sie hinzu:Der Hausmeister hat mein Türschloss erneuert. Wir haben über dich gesprochen. Und über Gassi.
Wieder waren in großer Entfernung schwarze Punkte auf dem Meer zu sehen, Ruth konnte auf Anhieb drei erkennen.
Sabines überraschender Besuch war wie eine frische Brise in tropischer Hitze und Ruth genoss die Leichtigkeit, das famos Lebendige ihrer Gegenwart. Kamen beide vom Strand oder einem Hafenrestaurant in ihr Hotel zurück, gingen sie das letzte Stück über die weiße Marmortreppe. Manchmal sprachen sie über Jörg, und Ruth spürte einem Gefühl nach, das sie kannte. Manchmal dachte sie: Es wird geschehen, und war sich durchaus nicht sicher, was sie meinte.
In Berlin, kurz nach der Ankunft am Flughafen, war Sabine, die eben noch neben ihr scherzend am Gepäckband gestanden hatte, plötzlich verschwunden. Mit suchendem, ahnungsvollem Blick durchschritt Ruth die Absperrung.
Wackelnde Aktenschränke sind ein Ärgernis, dachte sie, als Jörg mit einem strahlend weißen Hemd und buntem Stirnband vor ihr stand. Seine Arme erinnerten sie dunkel an einen Traum, und unwillkürlich dachte sie an frische Bettwäsche.
Wie  fanden Sie das Buch, fragte sie ernst und wartete.
Jörg schien verblüfft. Ach ja, das Buch, antwortete er.Es ist seltsam, Menschen können manchmal auf sehr unterschiedliche Weise Gleiches tun. Zumindest kommt es mir immer so vor, wenn ich lese. Vielleicht ist es nur meine Scheu vor Dingen, die aus dem Ruder laufen, aber ich musste zwischen den Geschichten immer ein Brett durchsägen, eine Schraube nachziehen oder ein Türschloss erneuern, um weiterzulesen. Für meinen Geschmack war Gassi etwas überdreht. Sind Sie enttäuscht? Sind Sie – er holte Luft – schnell enttäuscht?
Er schaute sie an, und seine Oberlippe schob sich langsam in ihre Richtung. Plötzlich begann sie zu lachen und wollte nicht aufhören.

Sie erlauben, hörte sie ihn sagen, als er ihren Koffer nahm.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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