Jürgen Berndt-Lüders

Ein seltsamer Besucher

Es war einer der ersten, warmen Tage. Die Sonne schien, die kahlen Äste zeigten Knospen und ich beschloss, an den See zu fahren, auf das Wasser hinaus zu schauen und zu träumen. Ich fuhr den asphaltierten Waldweg entlang und träumte jetzt schon, als mich ein Hupen aus den Gedanken riss.
 
Wer überholte mich da auf dem viel zu schmalen Pfad? Ich bremste und fuhr scharf an den Rand. Das andere Fahrzeug hielt neben mir, und der Fahrer ließ die Seitenscheibe runter. Ein junger Mann mit Schlips und Anzug schaute fragend zu mir rüber.
 
„Was soll das?“, fragte ich. „Wie können Sie mich auf dieser schmalen Strecke...“
 
„Genügend Platz für uns zwei“, rief er und lachte. Er stieg aus und zeigte ein Maßband. Er begann, die Breite seines Fahrzeugs auszumessen und wollte zu mir herüber.
 
„So ein Quatsch“, rief ich ärgerlich und fuhr weiter. Meine Parkbank mit Blick aufs Wasser hatte ich bald erreicht. Ich nahm die Zeitung vom Beifahrersitz, stieg aus und las ein wenig.
                                                                                                    *
Der freie Sonntag war vorüber. Tags darauf, im Büro, gegen halb zehn telefonierte ich mit einem wichtigen Kunden, als plötzlich der junge Mann von gestern vor meinem Schreibtisch stand. Er wartete bis mein Gespräch beendet war und legte die sorgsam zusammen gefaltete Zeitung von gestern auf meinen Schreibtisch. Ich schaute hoch. „Was soll ich damit?“, fragte ich erstaunt.
 
„Sie haben gestern diese Zeitung auf der Parkbank liegen gelassen.“
 
„Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“ zitierte ich einen bekannten Spruch.
 
„Es steht aber einiges über Veranstaltungen drin, die erst heute und in den nächsten Tagen stattfinden“, widersprach er. „Haben Sie das alles gespeichert?“
 
Ich lachte. Was für ein komischer Kerl, dachte ich. Erst überholt er mich auf dem Waldweg, wo bestimmt nur maximal zehn Zentimeter zwischen uns Platz gewesen war, und nun schleppt er mir die alte Zeitung hinterher.
 
„Wären Sie aufmerksam gefahren, hätte der Platz gereicht“, wandte er ein. „Und wegen der Zeitung aus Zellulose haben Null Komma null null acht drei fünf Bäume sterben müssen.“
 
War der Mann aus der Nervenklinik entflohen?
 
„Nein, ich lebe in einem sehr hübschen Appartement im sechsten Stock eines Hochhauses“ korrigierte er.
 
Konnte der Gedanken lesen?
 
„Sie könnten das auch“, sagte er. „Ihre Fähigkeiten sind lediglich verkümmert. Darf ich mich länger mit Ihnen befassen?“
 
War der Kerl schwul? Oder kam er vielleicht von einem anderen Stern und hatte sich eine menschliche Hülle gesucht? Ich hatte letzt eine SF-Story im Fernsehen gesehen. Das konnte passen. Er wirkte so hölzern.
 
„Sehen Sie, Sie können auch Gedanken lesen“, sagte er. „Wie könnten Sie sonst meine Herkunft erkennen? Die Wahrscheinlichkeit beträgt aus Ihrem Blickwinkel heraus exakt Null, komma null null nulll...“
 
Ich unterbrach. „Dafür, dass Sie schwul sind?“
 
„Nein, dass ich von Alpha Centauri bin. Schwul kann ich nicht sein, weil ich asexuell bin. Zumindest als Mensch. Kann ich mich nun häufiger mit Ihnen befassen oder nicht?“
 
„Fragen Sie mich doch später noch mal“, schlug ich vor, denn meine Pause war zuende.
 
Er ging aus dem Raum. Ich fragte mich, wie er wohl in Wirklichkeit aussah. Er kam zurück. „Sie würden erschrecken, so wie ich aussehe“, meinte er. „Morgen komme ich noch einmal in der gleichen Larve wie heute. Bis Sie sich an mich gewöhnt haben.“
 
„Und dann?“
 
„Dann komme ich so, wie Sie mich haben wollen.“
 
Die Tür fiel ins Schloss.
 
Ich kniff mir in den Arm. Das tat weh, also träumte ich nicht.
 
Was wollte einer von der Alpha-Centauri-Galaxie von mir? Wenn das stimmte, war er bestimmt nicht allein gekommen. Waren die im Begriff, die Erde zu okkupieren? Nein, sicherlich nicht, denn dann würden sie sich nicht solche Umstände machen.
 
Kennen lernen wollten sie uns. Das musste es sein.
 
Klar erkannt, sagte eine Stimme in mir. Logisch

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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