Fabian Richter

Blutiger Winter


Es war einer jener Abende, die man am Liebsten im gemütlichen Sessel mit einem dicken Schmöker auf den Knien verbrachte, die Füße prasselndem Kaminfeuer entgegengestreckt, während vor dem Fenster dicke Schneeflocken zu Boden schwebten, um sich dort zu hohen Schneewehen aufzutürmen. An solch einem Abend trat nur vor die Tür, wer es absolut nicht vermeiden konnte, dann aber in viele Schichten warme Kleidung eingemummt.

Tatsächlich war keine Menschenseele auf der tief verschneiten Straße zu sehen, allein die kunstvoll verzierten Laternen sandten ihr schummriges Licht in die Welt hinaus, das aber schon bald vom dichten Schneetreiben verschluckt wurde.

Im alten Manderley Manor läutete dumpf die Glocke. Als ob das ehrwürdige Haus trotz des widrigen Wetters den Besuch erwartet hätte, humpelte sogleich ein grauhaariger Butler zur Tür und begrüßte den Ankömmling. Das wenige Licht, das nach draußen fiel, reichte nicht aus, um die Gestalt vor der Tür zu beleuchten, doch schon die Silhouette vermochte ein eindrucksvolles Bild zu vermitteln und jedem klarzumachen, dass man sich mit diesem Mann besser nicht anlegte. Ein wahrer Riese mit stählernen Muskeln, die eine ungeheure Kraft erahnen ließen, doch trotzdem machte er nicht den Eindruck eines hirnlosen Schlägers.

Dann trat er ein. Als Erstes fielen die langen schwarzen Haare auf, die strähnig vom Kopf bis auf die Schultern fielen. Hinter dem graugrünen Schal, den er sich gegen die Kälte um Hals und Gesicht gewickelt hatte, schaute ein dichter Bart hervor, die dunkelbraunen Augen und die harten Gesichtszüge wiesen auf eine lateinamerikanische Herkunft des Besuchers hin. Von den martialisch wirkenden schwarzen Armeestiefeln tropfte tauender Schneematsch auf den abgewetzten Teppich, dem allen Anschein nach schon oft eine solche Behandlung widerfahren war.
„Darf ich Ihm…“, raspelte der Livrierte in für einen Butler typischem Tonfall los, bevor er unter der Last des schweren ledernen Kutschermantels ächzte, mit dem er beladen wurde. Seinen zerbeulten Zylinder, die modische Fliegerbrille und den langen Schal legte der Riese grinsend auf das Bündel, mit dem der schnaufende Butler in einer angrenzenden Kammer verschwand, die wohl als Garderobe diente. Wenig später kehrte der Livrierte zurück und sprach mit wiedererlangter Contenance: „Wenn mir der Herr wohl folgen möge, er wird bereits erwartet.“

Der Riese brummte nur unter seinem etwas ungepflegt wirkenden Bart und folgte dem Butler durch mehrere Gänge, die wie auch die Eingangshalle mit reich verzierten Wandteppichen und edlen Gemälden geschmückt waren. Bald betraten sie eine Kammer im linken Gebäudeflügel des Anwesens. Sie wurde anscheinend nicht mehr genutzt, denn die Möbel waren mit Leinen verhangen, auf dem sich bereits eine dicke Staubschicht abgesetzt hatte. Nur der Parkettboden wurde noch ab und zu gefegt. Ein Besucher hätte nur raten können, wie oft die Kammer in der letzten Zeit betreten worden war. Der Butler langte routiniert hinter einen bis zur Decke reichenden Schrank. Es klickte, woraufhin ein Teil des Möbels aufschwang. Dahinter führte eine grobe Steintreppe in die Tiefe, aus der gedämpftes Stimmgewirr heraufdrang. Ohne eine Miene zu verziehen entzündete der Butler eine mitgebrachte Öllampe und stieg die Stufen hinab, der Riese folgte ihm dicht auf dem Fuße. Je tiefer sie gingen, umso lauter wurden die Stimmen, irgendwann waren sogar Gesprächsfetzen zu verstehen.

„… wir doch lang und breit besprochen…“
„Wenn er überhaupt noch rechtzeitig…“
„Er war noch nie unpünktlich…“
„… die letzten Vorkehrungen…“
„… so aufgeregt!“

Dann mündete die Treppe in ein hohes, wie langes Gewölbe, das anscheinend einmal als geheimes Vorratslager für Kriegszeiten erbaut worden war. Nun diente es einem anderen Zweck. Die Regale waren größtenteils herausgeräumt worden und vor der gegenüberliegenden Wand stand ein schweres Pult, wie es normalerweise für Lektorate zum Einsatz kam. Hier stattfindende Lesungen jedoch schienen keine normalen zu sein. Dafür sprach nicht nur die seltsame Tracht der anwesenden Teilnehmer, auch das riesige, von dicken Kerzen gesäumte Pentagramm, das mit roter Farbe mitten auf den Boden gemalt worden war, verlieh dem Ganzen etwas Mystisches. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen standen rund um das Pentagramm und verstummten, als die Neuankömmlinge das Gewölbe betraten.

Der Butler sprach in gewohnt arrogantem Tonfall: „Ich darf ankündigen: Herr…“
„Ah, Garcia! Da seid Ihr ja. Wir warten schon sehnsüchtig auf Euch“, wurde er sogleich von einem Mann mittleren Alters unterbrochen. Seinem Verhalten nach schien er der Hausherr zu sein, war aber wie alle anderen hier in eine dunkelblaue Robe mit bordeauxroten Verzierungen gehüllt, das Gesicht hinter einer weißen Maske verdeckt.
„James, du darfst dich nun zurückziehen.“
„Sehr wohl, mein Herr.“ Mit diesen Worten machte sich der Butler James auf den Rückweg und ließ sich nichts von dem Ärger anmerken, den er wegen der Unhöflichkeit seines Vorgesetzten verspürte.

Der Hausherr wandte sich wieder dem Riesen namens Garcia zu. Trotz dass seine Mimik hinter der Maske verborgen blieb, merkte man ihm an, wie erfreut er war ob der Ankunft Garcias.
„Ich hoffe doch, Ihr habt, wonach ich Euch bat?“
Als Antwort zog Garcia nur ein dünnes Stoffsäckchen hervor und hielt es dem Mann unter die Nase. Dieser fischte ein kleines Medaillon mit filigranen Formen daraus hervor und jauchzte vor Freude.
„Brüder, Schwestern! Unser Sieg ist nahe!“
Jubel brach los und verebbte erst, als der Hausherr mit einem Handzeichen zur Ruhe gemahnte.
„Garcia, wenn Ihr wollt, dürft Ihr unserem Ritual beiwohnen. Ihr habt es uns ermöglicht, da wäre es nur fair.“
„Gern“, antwortete Garcia nur. Seine tiefe Stimme strahlte enormes Selbstbewusstsein aus.

Er hielt sich im Hintergrund, während sich die Männer und Frauen in scheinbar festgelegter Ordnung um das Pentagramm positionierten. Der Hausherr – er hatte sich Garcia bei der Auftragsvergabe als Mac Winter vorgestellt – trat hinter das Pult und begann.
„Brüder und Schwestern! Lange haben wir darauf hingearbeitet und nun ist der große Augenblick gekommen. Niemand kann uns die Macht mehr nehmen!“
Garcia zog eine Augenbraue hoch, was aber niemand bemerkte oder weiter beachtete.
„Lasst uns mit den Schutzformeln beginnen.“
Zu Garcia gewandt sprach er: „Wir werden nun unseren Dämon herbeirufen, der uns gigantische Macht verleihen wird. Die Herrscher aller Staaten werden uns zu Füßen liegen!
Wie viele seiner Art befindet er sich in einer eigenen Dimension, aus der er nur durch Portale ausbrechen kann, wie wir jetzt eines schaffen werden. Dieses Artefakt“, dabei hielt er das Medaillon hoch, „ist der Schlüssel für genau die Dimension, in der unser Dämon gefangen ist. Deshalb war es auch so wichtig, dass Ihr uns genau dieses und kein anderes Artefakt brachtet.
Wir haben einige Schutzformeln entwickelt, die wir speziell auf diesen Dämon zugeschnitten haben. Nur, falls er uns einmal zürnen sollte…“
Dieses irre Funkeln in Mac Winters Augen missfiel Garcia, doch ließ er sich nichts anmerken. Wahnsinn sollte nie unterschätzt werden.

Dann begannen die maskierten Männer und Frauen, fremdartig klingende Worte zu murmeln. Die Stimmen wurden immer lauter und lauter, bis der Höhepunkt erreicht war. Jetzt riefen sie aus vollen Kehlen ihre Losungen und wiegten die Körper dabei wie in Trance hin und her. Niemand merkte, wie Garcia grinste.

Dann verstummten alle Stimmen gleichzeitig, wie auf ein geheimes Zeichen. Einige keuchten vor Erschöpfung. Mac Winter betrat das Pentagramm und legte das kleine Medaillon vorsichtig genau in dessen Mitte, die von fünf weiteren Kerzen umgeben war. Zwischen dem Flackern der Flammen schien es, als würde das Metall schmelzen, als würden die Formen verfließen und sich neu bilden.

Mac Winter gesellte sich zu den anderen Dämonenanbetern und rief:
„Öffnen wir das Tor für unseren Dämon!“
Wieder begann ein Gemurmel, wieder flüsterten sie Worte in einer Sprache, so fremdartig, als käme sie nicht von dieser Welt. Vielleicht war es so. Vereinzelt erklangen spitze Schreie und nach einer Weile wurde Garcia klar, dass auch diese einem vorgegebenen Muster folgten. Nun fassten sie sich an den Schultern, weniger als Teil des Rituals, denn aus praktischem Zweck: einige der Kultisten wankten schon jetzt, das ungewöhnliche Ritual verlangte ihnen viel ab. Wieder erreichten sie eine enorme Lautstärke und diesmal hielten sie sie auf diesem Level. Alle starrten sie gebannt auf das Medaillon, das sich jedoch zunächst unbeeindruckt zeigte. Nach einiger Zeit jedoch begann es zu leuchten und Garcia glaubte zu sehen, wie es leicht vibrierte. Dann entfalteten sich die filigranen Formen zu einem faustgroßen, aufrecht stehenden Oval, das schnell weiter anwuchs. Erleichterung und große Freude war den Kultisten anzumerken und auch Garcia war anzusehen, dass ihm gefiel, was er sah.

Jetzt schwankten mehr und mehr Männer und Frauen ob der ungeheueren geistigen Belastung, doch niemand gab auf. Wenn auch nur einer den Kreis verlassen hätte, wäre das Ritual gescheitert.

Das Oval wuchs bis auf die Größe eines alten Obstbaumes an und verharrte in dieser Größe. Viel höher hätte es auch nicht werden dürfen, es hatte fast die Gewölbedecke erreicht. Nun begann es langsam zu rotieren, während die Kultisten mit aller Macht versuchten, den Sprechgesang aufrechtzuerhalten. Erste Blitze zuckten quer über das elliptische Gebilde, erst nur wenige, dann in immer schnellerer Folge. Garcia, der sich inzwischen neben dem Treppenaufgang positioniert hatte, glaubte, den typischen Gewittergeschmack auf der Zunge zu haben.

Jetzt flogen permanent elektrische Schläge über das Oval und bildeten eine bläulich schimmernde Wand, durch die hin und wieder schwarz glänzende Stacheln, matt-violette Mandibeln oder völlig irrsinnige Formen brachen, nur um gleich wieder darin zu verschwinden. Der Dämon war anscheinend nicht gewohnt, eine feste Gestalt anzunehmen. Bald jedoch kroch ein schlangenhaftes Wesen mit schwarz glänzenden Schuppen, Facettenaugen und über den ganzen Körper verteilten, stachelbewehrten Tentakeln durch das Dimensionstor. Der Kopf ähnelte dem einer Echse, war aber mit fünf nach vorn gebogenen Hörnern ausgestattet. Aus dem langgezogenen Maul waberte fauliger Atem. Als das Wesen das Portal vollständig passiert hatte, verstummten die schwer atmenden Kultisten und als Folge der Schutzformeln bildete sich eine halbkugelförmige Sphäre um den riesigen, durch die Luft schwebenden Schlangenkörper. Das Tor fiel in sich zusammen und rieselte zu einem Häuflein Asche, wo etwa eine halbe Stunde zuvor das Medaillon gelegen hatte.

Es schien, als grinste das Wesen Garcia an. Dann brach die Hölle los. Ohne Mühe drang der Dämon durch die Schutzsphäre, die wie eine Seifenblase zerplatzte, und fiel über die Kultisten her. Tentakel durchbohrten die Menschen, wie Spielpuppen flogen sie durch die Luft. Im hohen Gewölbe hallten die Schreie mehrere Male wider, sodass es klang, als würde eine ganze Völkerschar abgestochen werden. Die ersten Kultisten hatten ihren Schrecken überwunden und stürzten panisch zum einzigen Ausgang, der Steintreppe, rutschten aber in den Blutlachen ihrer toten oder schwer verletzten Kumpane aus und wurden sogleich von einem Stachel durchbohrt. Der Dämon schien seinen Spaß zu haben, schließlich tötete er seine Opfer nicht sofort, sondern brach dem Einen die Beine, der Anderen stach er in den Unterleib und gab ihnen so einen winzigen Hoffnungsschimmer, doch noch davonzukommen. In ihren blutverschmierten Roben krochen und humpelten die Versehrten zum rettenden Ausgang, rutschten aber immer wieder im allgegenwärtigen Blut aus. Wenn es einer fast geschafft hatte, wurde er am Bein zurückgezerrt und endete im Dämonenschlund.

Plötzlich tauchte Mac Winter neben Garcia auf, der das Schauspiel seelenruhig von seinem Platz an der Treppe verfolgte. Wie durch ein Wunder schien der Hausherr unversehrt zu sein, nur einige Blutflecken bedeckten seine Robe.
„Sind Sie verrückt? Machen Sie, dass Sie hier rauskommen!“
Hysterie schwang in der Stimme Mac Winters mit. Der Riese jedoch zog lächelnd ein langes Kampfmesser vom Gürtel und schnitt dem entsetzten Kerl die Kehle durch. Erstickt gurgelnd ging er zu Boden und zuckte krampfartig, bis das Leben vollständig aus seinem geschundenen Körper entwichen war.

Als Garcia aufblickte, war niemand mehr am Leben. Zwischen den Blutlachen lagen unförmige Fleischklumpen herum, aber bis auf Mac Winters Leiche war kein Kultist, ob tot oder lebendig, mehr auszumachen. Der Dämon musste verdammt hungrig gewesen sein. Aus seinen dunklen Facettenaugen starrte er Garcia an, dann sprach er:
„Das hast du gut gemacht, Mensch.“
Zwar bewegte sich das Maul des Dämonen, doch die Worte erschienen sofort in Garcias Bewusstsein, ohne Umweg über die Ohren.
„Ich tat nur meine Pflicht, Meister.“ Garcia musste grinsen. „Die glaubten doch tatsächlich, ich würde ihnen ein Tor für ihren Dämon liefern!“
Tief grollend lachte auch der Dämon. Dann sprach er: „Du wirst von mir hören“, und zwängte sich durch den engen Kelleraufgang.

Garcia war nun allein. Er beugte sich zur Leiche von Mac Winter herunter, nahm dessen Maske an sich und stieg nun ebenfalls die Stufen nach oben.
Hoffentlich sind meine Klamotten mittlerweile trocken, dachte er.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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