Patrick Rabe

Der Vampir

Der Vampir geht durch die Stadt. Seine Stadt. In jener endlosen Nacht gehört die Stadt ihm. Jedenfalls bildet er sich das ein. Nachts kommt er über die Stadt und hat sie fest im Griff. Nun ja, in Wirklichkeit ist er nur ein zielloser Herumstreuner wie viele, eine jener Barflies, die die Nächte durchmachen um zu vergessen und sich zu erinnern. Um die Verantwortung zu vergessen und sich an die Unschuld zu erinnern. Aber seine eingebildete Macht, sein Gefühl von Erhabenheit hilft ihm, seine traurige Lage zu ertragen. Er säuft sich durch die Nacht, säuft Blut und Whiskey, säuft die Nacht aus mit ihrer samtweichen Schwere. Die Nacht macht süchtig. Sie ist es, die ihm ein wohliges Gefühl gibt, wie im Mutterleib. Darum trinkt er sie, bis sie nicht mehr ist. Was aber, oh was, wenn die Nacht endet?
 
Der Vampir ist eine Zeit durch menschenleere Viertel gestreift, hat das Tropfen einer Regenrinne gehört, das Huschen einer Katze, das Quietschen von weit entfernten Autobremsen. Aber jetzt steht ihm der Sinn nach der Wärme menschlicher Körper. Er schlägt den Weg ein zum Kneipenviertel der Stadt. Stimmengewirr und Flaschengeklirr hebt an. Die Reklamen der Bars spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Draußen, vor den Kneipen, sind Tische und Stühle aufgebaut, und da sitzen sie, diese wunderbaren, lebendigen jungen Menschen, die sich zuprosten und ihn nicht spüren, den Eishauch des Todes. Zwischen ihnen ist Geselligkeit, Nähe, Freundschaft. Der Energiepegel steigt. Auch im Vampir. Vergessen und damit leben kann man am Besten in Gesellschaft. Der Vampir betritt eine Bar mit hellerleuchteten Fenstern. Es ist eine Bar, in der geraucht werden darf. Der Qualm von Zigaretten, Zigarren und Pfeifen hängt schwer in der Luft. Ein glatzköpfiger Mann krault einen weißen Pitbull. Ein bebrillter Rainer-Langhans-Verschnitt unterhält zwei dürre Frauen. Zwei ca. dreißigjährige Freunde teilen sich Tacos mit Dips. Der Vampir schaut sich um. Jemand für ihn dabei? Da sieht er sie. Sie steht an der Bar. Eine etwa vierzigjährige, schon etwas angestaubte Schönheit. Zu ihr geht er und setzt sich neben sie auf den Barhocker.
 
„Zwei Gin Tonic. Einen für mich, einen für die Dame.“, bestellt er. Da dreht sich die Dame um, wirft ihren Kopf in den Nacken und lacht schallend. „Versuchs gar nicht erst!“, sagt sie mit rauchiger Stimme. „Ich trinke auch die Nacht aus, genau wie du!“ Der Vampir fährt sich verlegen durchs Haar, lächelt linkisch und druckst: „Naja, kann ja mal passieren. Ich dachte nicht, dass du eine von meinem Schlag bist.“ „Warum?“, fragt die Schönheit. „Weil“, antwortet der Vampir, „weil du ein Kreuz um den Hals trägst. Christliche Vampire sind eher ungewöhnlich.“ „Das hat seine Gründe.“, sagt sie. „Und, welche?“, „Ich weiß nicht, ob du für die Wahrheit schon bereit bist!“ Der Vampir spitzt die Lippen. „Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“ Die Schönheit macht ein ernstes Gesicht. „Du und ich, wir trinken die Nacht, immer wieder, immer mehr. So, als ob endlos viel Nacht vorhanden wäre. Aber es ist so: Wir trinken die Nacht leer, wir saugen den Schlaf aus, und was daraus so sicher folgt wie das Amen in der Kirche, ist – irgendwann wird die Nacht alle sein und es wird Morgen werden. Für diesen Fall wollte ich mich mit dem Herrn der Sonne gutstellen., damit sie mich nicht verbrennt.“
 
„Ach, Unsinn!“, wehrt der Vampir ab. „Solange ich denken kann, ist Nacht. Es ist Nacht, weil ich es so gewählt habe. Ich hätte ein Prinz des Tages werden können, aber am Tag, weißt du, wirft jeder einen Schatten. Das heißt, alles, was du tust, hat Konsequenzen. Nachts gibt es keine Schatten.“ „Ja“, lächelt die Schönheit, „Weil Nachts alles Schatten ist. So haben wir in der Absicht, etwas zu vermeiden, genau das herbeigeführt, vor dem wir beide Angst hatten.“ „Ach, sei still!“, zischt der Vampir, „Du vergällst einem ja das ganze Vergessen!“ „Es gibt kein Vergessen.“, sagt sie ruhig. „Es gibt nur Betäubung. Und selbst in einem Meer aus Opium gibt es immer wieder helle Momente.“ „Du hast ja wohl die Weisheit mit Löffeln gefressen!“, raunzt der Vampir. Dann wendet er sich an den Barkeeper und bestellt einen Whiskey. Eine Zeitlang sitzen die Beiden schweigend nebeneinander. Es läuft Rory Gallagher: I could´ve had religion, singt er, but my little girl wouldn´t let me pray! Der Vampir gähnt. Man wird auch nirgends von der Religion verschont. Re-ligio. Rückbindung. An was – zum Teufel – soll man sich rückbinden? Sie nimmt seinen Unmut wahr und legt ihre Hand auf seinen Arm. „Lass uns tanzen, hm?“, flüstert sie ihm ins Ohr. Der Hauch an seiner Ohrmuschel lässt ihn wohlig erschauern. Ein erotisches Mädel!
 
Das Lied wechselt. Jetzt tönt Purple Rain von Prince aus den Boxen. „Ja gut.“, seufzt er und steht auf. Dabei stößt er sein Glas um, und der Whiskey läuft über die Theke. Egal. Schweren Schrittes folgt der Vampir der Schönheit auf die Tanzfläche. Sie schmiegt sich eng an ihn und schlingt die Arme um seine Taille. Da geht ihm ein Schmerz durch Mark und Bein, wie er ihn lange nicht mehr verspürt hat. Eine Sehnsucht, brennend und heiß, brandet auf und läuft ihm durch alle Glieder. Er weiß nicht, wie ihm geschieht. Er weiß nur, er muss diese Frau festhalten. Und er klammert sich an sie mit dem Mut der Verzweiflung. So tanzen sie, er weiß nicht, wie lange. Die Tanzfläche ist dunkel und ein Spiegelball wirft seine leuchtenden Muster an Wände und Decke. Im Halten der Frau und im Betrachten dieser Muster verliert sich der Vampir. Er sieht Bilder zwischen diesen Mustern auftauchen, Bilder eines Lebens, seines Lebens. Sieht Vater und Mutter, Kindheits- und Jugendfreunde, die erste Liebe, den ersten Schmerz, den ersten Wunsch nach Schmerzvermeidung, das erste Bier, der erste Sex, ungeschickt noch zwischen Versagensangst und schlecht kanalisierter Lust, die Tage und Nächte mit Freunden, die Gedichte, in Winternächten auf Löschpapier geschrieben, Frühlinge und Sommer, Kälte und Hitze und dieses puckernde Gefühl in der Brust. Und der Vampir verspürt eine Sehnsucht nach dem, was da vor seinem inneren Auge aufsteigt. Eine Sehnsucht, die sich manifestiert in der Frau, die er in seinen Armen hält. Er spürt sie, er spürt sich, und er wünscht sich, all das möge nie enden.
 
Plötzlich befreit sie sich aus seiner Umklammerung. „Ich muss mal.“, flüstert sie. „Gut.“, sagt er unwillig. Sie bahnt sich einen Weg zwischen den Tanzenden und entschwindet schließlich seinem Blick. Er setzt sich wieder an die Bar. Er bestellt sich noch einen Whiskey. „Aber nicht wieder verschütten!“, grinst der Barmann. „Eine scharfe Braut, die sie da haben.“, fügt er noch hinzu, „Mein Glückwunsch! Findet man nicht an jeder Ecke.“ „Ne, wahrhaftig nicht.“, antwortet der Vampir einsilbig. Auf so ein Machogespräch hat er jetzt wirklich keine Lust. Er nippt an seinem Getränk. Starrt vor sich hin. Es dauert mit seiner Lady. Halbherzig lässt er sich auf ein Gespräch über Barack Obama und Amerikas Politik der letzten Jahre ein. Nervosität steigt in ihm auf. Sollte seine Lady ihn versetzt haben? Er geht zur Damentoilette. Drinnen ist es kühl. Ein bodentiefes Fenster steht auf. Der Vampir schaut in beide Kabinen. Nichts. „So ein Mist!“, entfährt es ihm. Er geht zurück in den Kneipenraum und trinkt seinen Whiskey aus. Aber es will ihm nicht mehr gelingen, in gute Stimmung zu kommen. Alles nervt ihn an: Der Glatzkopf mit seinem Pitbull, der Rainer-Langhans-Verschnitt, die dürren Weiber und die sich drehenden Paare auf der Tanzfläche. Diese Sehnsucht. Was war das gewesen? Er hatte sich auf einmal so lebendig gefühlt!... Der Rauch beißt in den Augen. Nein, hier drinnen hält er es nicht mehr aus. Er bahnt sich einen Weg zur Tür und schleicht sich hinaus.
 
Draußen bleibt ihm fast das Herz stehen. Der Himmel hat ein noch von Schwärze durchsetztes Blau, und die Sonne lugt gleißend über die Dächer. Das darf doch nicht wahr sein! Sie hatte recht gehabt. Die Nacht war zu Ende. Er blinzelt. Warum zerfällt er eigentlich nicht zu Staub? Gedankenverloren fühlt er in seine Hosentasche. Dort ist etwas. Etwas Metallisches. Er holt es heraus und betrachtet es bei Tageslicht. Es ist das Kruzifix der Lady. Der Vampir sieht auf die Sonne und dann wieder auf das Kreuz in seiner Hand. Ein unnennbares Glück sprudelt auf in ihm und ein Lächeln huscht über sein blasses Gesicht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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