Manfred Bieschke-Behm

Die Ballettprobe


Heute, zur Ballettprobe und erstmals in die für das Ballett geschaffenen Kostüme, hatten sich Bernadette, Adele, Nadine und Claudette versprochen sehr früh zu erscheinen. Eine Probe im Kostüm ist immer besonders aufregend. Bisher hatten die Tänzerinnen in ihrer Trainingsgarderobe geprobt. Schritt für Schritt haben sie sich die gewünschten Positionen erarbeitet bis die Choreografie den Wünschen des Ballettmeisters entsprach. Sie fühlen sich gleichberechtigt was auch damit zu tun hat, dass jede von ihnen vom Choreografen mit einem kleinen Soli versorgt wurde. Konkurrenzneid gibt es nicht.
Eigentlich gehören die vier Tänzerinnen zum Corps de ballett, dem Ballettensemble das aus zwölf Tänzerinnen und acht Tänzern besteht. Bernadette, Adele, Nadine und Claudette sind die Begabtesten der Company und durften deshalb bereits mehrfach Solopassagen tanzen. Die vier Tänzerinnen sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Sie erzählen sich alles. Es gibt keine Geheimnisse. Jede Freude, jeder Schmerz wird mitgeteilt und geteilt. Sie haben sich geschworen auch in Zukunft nichts an ihrer Verbundenheit zu ändern.
Bis auf Bernadette sind alle anwesend. Nett sehen die Tänzerinnen in ihren flaschengrünen Ballettkostümen aus. Die Überröcke sind in Mehrfachlagen mit grünem Tüll unterlegt. Der gewünschte Effekt ist, dass die Überröcke leicht abstehen und bei der leichtesten Bewegung in Schwingungen geraten. Die Oberteile beginnen in den Hüften im gleichen Flaschengrün wie die Röcke, wandeln sich dann jedoch sehr schnell in ein nicht so richtig einzuschätzendes Rosarot. Die Dekolletéabschlüsse, die übergangslos zu Trägern werden, bestehen aus üppigen grünen Rüschen mit einem Hauch von Rosa und vermitteln dem ganzen Kostüm eine anmutige Leichtigkeit.
Vorgestern war die zunächst letzte Probe im Proberaum mit Ballettmeister und Klavierbegleitung. Heute soll es zum ersten Mal auf die große Bühne gehen. Im Kostüm. Mit Beleuchtung. In Kulissen. Mit kleinem Orchester. Aufregung pur macht sich breit. Um die geahnte Aufregung klein zu halten, haben sich die vier Tänzerinnen versprochen einen Stunde vor der Probe zu erscheinen um sich gegenseitig zu beruhigen Mut zu machen.
 
Es ist den drei anwesenden Tänzerinnen anzusehen, dass sie nervös sind. Aber, die Nervosität muss noch einen anderen Grund haben, als nur die heutige Kostümprobe mit anschließendem Tanzen. Schließlich sind sie nicht das erste Mal in dieser Situation und haben gelernt mit ausuferndem Lampenfieber umzugehen. Aber was war es, was die Tänzerinnen zusätzlich beunruhigt?
Adele weiß mehr als sie sagen will und wird. Sie fühlt sich in ihrer momentanen Rolle nicht wohl. Mehr zu wissen, als die Anderen fällt ihr schwer. Und so zu tun, als wüste sie nichts, fällt ihr noch schwerer. Ihr wäre wohler, könnte sie unbelastet an der Ballettprobe teilnehmen. Adele weiß nicht, wie sie sich unauffällig nicht verratend verhalten soll. Es fällt ihr sichtbar schwer ihren Kolleginnen ins Gesicht zu sehen. Sie beschäftigt sich deshalb mit dem Oberteil ihres Kostüms. Sie zupft hier und sie zupft dort und tut so, als würde sie ihr Kostüm in die richtige Position bringen müssen. Gleichzeitig beobachtet sie Nadine und Claudette und stellt fest, dass auch diese sich anders geben, als gewohnt. Besonders beunruhigt ist sie darüber, dass Bernadette noch nicht da ist. Für Adele ist die Situation kaum auszuhalten.
Was hat das zu bedeuten, dass Bernadette noch nicht da ist? Kommt sie vielleicht überhaupt nicht? Und wenn das zuträfe, was dann? All diese Fragen gehen Adele aber auch den anderen zwei Tänzerinnen durch die Köpfe.                         
Nadine ist die engste Freundin zu Adele. Auch sie befindet sich in einem Zustand der Unzufriedenheit. Sie spürt, dass Adele etwas weiß und hatte gehofft, von Adele eingeweiht zu werden. Aber nichts dergleichen geschah. Von ihrem Enttäuschtsein versucht sie sich, ähnlich wie Adele, abzulenken. Sie versucht ihre Frisur zu korrigieren, obwohl diese perfekt sitzt. Wieder und wieder benutzt sie ihre Hände um die Konturen ihrer aufwendigen Frisur zu kontrollieren. Während der sinnlosen Tätigkeit denkt sie über die letzte Ballettprobe nach. Sie spürt eine zunehmende innere Unruhe. Nadine bemerkt, dass Adele versucht mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Irgendetwas hindert sie, den Kontakt zuzulassen. Verlegen fängt sie erneut an ihre Frisur zu modellieren und glaubt so die Situation für sich zu retten.
Claudette, die Dritte im Bunde, ist von allem die Unruhigste. Sichtbar fällt es ihr schwer Ruhe zu bewahren. Um mit ihrer Unruhe besser klar zu kommen übt sie gängige Tanzschritte. Immer abwechselnd: eine Arabesque, eine Attitude und wieder eine Arabesque, eine Attitude und eine drittes und viertes Mal. Jetzt beugt sie sich vor und wieder zurück, vor und wieder zurück. Dabei atmet sie laut ein und aus und versucht dabei zu erforschen was die vorgestrige Ballettprobe mit ihr gemacht hat. Denn auch Claudette gewann den Eindruck, dass die letzte Ballettprobe irgendwie unharmonisch war.
Ein Gespräch zwischen den drei Tänzerinnen kommt nicht zu Stande. Keine findet die richtigen Worte, die ein Gespräch in Gange bringen könnte. Das ist im Besonderen ein Ärgernis für Bernadette, die sich schon die ganze Zeit über hinter einer Kulissenwand versteckt aufhält. Sie glaubt, dass das, was ihr auf dem Flur anvertraut wurde auch die drei anderen Tänzerinnen bereits wissen. Jeder, der in einem solchen Betrieb wie sie arbeitet, weiß, dass Geheimnisse sehr schnell die Runde machen. Meist mit der Anmerkung: „Aber bitte nicht weiter erzählen“.
 
Diese Aussage ist Grund genug „Neuwissen“ hinter vorgehaltener Hand unter das Volk zu bringen. Bernadette hätte allzu gerne gehört ob ihre Kolleginnen über das „Neuwissen“ sprechen und sie diejenige ist, die von ihren Kolleginnen nicht eingeweiht wurde. Aber nichts dergleichen ließ sich hören. Stattdessen hört sie nur das laute Ein- und ausatmen von Claudette.
Adele war es, die vorgestern vor der Probe zufällig mithörte, das sich die Zusammensetzung des Ballettensembles in naher Zukunft verändern wird. Sie belauschte das Gespräch das einer der künstlerischen Leiter mit Bernadette geführt hatte. Sie konnte nicht alles verstehen, dazu war es auf dem Gang zu unruhig und sie zu weit von dem Gesprächspaar entfernt. Was sie bruchteilhaft mitbekam ist, das Bernadette demnächst eine größere Aufgabe zugeteilt bekommen soll. Adele war entsetzt. Außer sich vor Wut. Sie hatte genug gehört und ging zu den anderen Tänzerinnen zurück in den Probesaal. Auf dem Weg dorthin fragte sie sich, ob, wie und wann Bernadette die Neuigkeit Preis geben wird. Noch bevor Bernadette dazustieß äußerte sich Adele gegenüber ihren Kolleginnen dahin gehend, dass sich demnächst in ihrer Vierergemeinschaft etwas gravierend ändern würde. Mehr sagte sie nicht. Den ganzen Inhalt des Gespräches, das sie belauscht hatte, wollte sie dann doch nicht erzählen. Sie war der Meinung, dass es die Aufgabe von Bernadette war, Neuigkeiten bekannt zu geben.  Mit dieser Strategie hatte natürlich Neugierde und Unruhe in die Gruppe gebracht.
 Bernadette kam in den Probesaal ohne etwas zu sagen. Sie tat so, als wäre nichts geschehen und fragte stattdessen: „Können wir mit der Probe beginnen?“.
Adele, Nadine und Claudette schauten sich an und verstanden nicht, dass Bernadette nichts zu berichten hat. Nadine fragte noch nach, ob es nichts zu erzählen gäbe. „Meinst Du mich?“ fragte Bernadette gekünzelt und gab gleichzeitig kund, dass es nichts gäbe was hier und jetzt erzählt werden müsste.
Wieder schauten sich Adele, Nadine und Claudette ungläubig an. So etwas hat es noch nie gegeben. Es gibt Neuigkeiten und diese werden nicht erzählt? Was soll das? Unsicherheit machte sich breit. Wie eine undurchdringliche schwere Wolke waberte die Unzufriedenheit. Konzentration war nur schwer möglich. Die Ballettprobe wurde zur Belastungsprobe.
Bernadette fühlte sich, genau wie die Anderen, nicht wohl in ihrer Haut. Sie spürte, wie ihre Kolleginnen sie argwöhnisch beobachteten. Dessen ungeachtet tat sie so, als würde sie das Erlebte nicht wahrnehmen. Das wiederum irritierte die andern Tänzerinnen. Was soll das Ganze? dachte Adele. Sie sah in Gedanken voller Sorge ihre Gemeinschaft auseinanderbrechen, und das machte sie nicht nur traurig, sondern lenkte sie auch von ihrer Konzentration ab.
„Kommt Bernadette heute nicht zur Probe?“, erkundigt sich Nadine und durchbricht mit dieser Frage die kaum noch auszuhaltende Stille. „Ich weiß nicht“, antwortet Claudette. Adele fügt hinzu, dass sie schon glaubt, das Bernadette noch kommen wird.
In dem Moment erscheint Bernadette, gleich ihren Kolleginnen im Kostüm und ordentlich frisiert. Sie wird vorsichtig erstaunt begrüßt und fragend angesehen. „Ich weiß nicht, ob ihr schon von der Neuigkeit gehört habt, die ich vorgestern erfahren habe“.
 
 
Die drei Angesprochenen schauen neugierig und fragend in Richtung Bernadette. „Was gibt es denn Neues?“ fragt Adele scheinheilig. Gleichzeitig glaubt sie, dass jetzt die Bombe platzen wird. „Also“, fährt Bernadette fort, „ich habe erfahren, dass sich unsere Companie aus Kostengründen verkleinern muss und…“ „Ja und?“ fragt Claudette ganz aufgeregt nach und vergisst dabei ihre Tanzschritte weiter zu üben. „…und“ fährt Bernadette fort, das heißt, das einige vom Corps de ballett uns verlassen werden“. Die Spannung unter den Zuhörerinnen ist kaum noch auszuhalten. Die Herzen der Tänzerinnen schlagen schnell wie nach einer anstrengenden Tanzvorführung. Die Drei fiebern der hoffentlich nun bald folgenden Ansage von Bernadette entgegen. „Nun erzähl schon weiter was Du erfahren hast“ fordert Nadine Bernadette auf. „Uns vier passiert nichts!“ erklärt Bernadette erleichtert. „Wir vier haben uns, durch unsere Leistung, einen festen Platz ertanzt. Wir fallen auf durch unsere Zuverlässigkeit, dass wir unseren Job sehr ernst nehmen und der spürbaren engen Verbundenheit. Wir sind bekannt dafür, dass wir uns nichts neiden und selbst wenn die eine oder ander ein paar Tanzschritte mehr zugeschrieben bekommt, ist das kein Problem. Der Informant, der mit mir sprach, ist sogar davon überzeugt, dass, sollte der Fall eintreffen, dass irgendwann eine von uns ein größeres Solo tanzt, es für die Anderen kein Problem sein wird. Freundschaft zeichnet sich auch darin aus zu gönnen und sich ohne Neid mit den anderen freuen zu können, sagte der künstlerische Leiter  und schloss mit der Ansage, dass ich euch die gute Nachricht nicht überbringen soll . Er wäre es, der Nachrichten zu überbringen hat. – So nun wisst ihr die Neuigkeit. Mich würde interessieren, ob ihr von dem, was ich gerade erzählt habe, bereits gewusst habt. Auf diese Frage gibt es keine Ja-Antwort. Adele, Nadine und Claudette hören in sich hinein und bekommen ein schlechtes Gewissen. Ganz besonders trifft das auf Adele zu. Sie war es, die durch ihr Verhalten Misstrauen in die Gruppe brachte. Alle vier werden sich Zeit nehmen müssen, um über Freundschaft nachzudenken.

Anmerkung: Inspiration für meine Kurzgeschichte "Die Ballettprobe" ist das Gemälde "Tänzerinnen (Rosa und Grün) von Edgar Degas ca. 1890Manfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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