Ulla Meyer-Gohr

Die Zeit ist noch nicht abgelaufen !

 


Ein stürmischer Tag erwacht.

Hände in den Manteltaschen vergraben bog Björn Hausmann in die Griegstaße. Gleich überquerte der Mann die Fahrbahn, um den angrenzenden See zu erreichen. Jetzt lag ein offenes Gelände vor ihm. Heftige Windboen zerrten an seinem Mantel. Fröstelnd stellte Hausmann den Kragen hoch. Seine Entschlossenheit trotzte den Widrigkeiten des Windes. Mit kräftigen weit ausholenden Schritten setzte er seinen Weg fort.
Lautes Knistern und Knacken ertönte. Im Zeitlupentempo löste sich ein Baugerüst von der gegenüber liegenden Straßenseite; drohte quer über die Straße zu stürzen. Seit der letzten Nacht wüteten Winde. Sie hatten ganze Arbeit geleistet und rissen die Verankerungen aus den Gerüstsicherungen heraus. Jetzt stand das skelettartige Gebilde schwankend im Vorgarten. Inzwischen erschienen an einigen Fenstern Handwerker. Starr vor Schreck nicht fähig noch einen Handschlag aus zuführen. Alle Blicke richteten sich auf Hausmann, der die andere Straßenseite entlang ging.
      " Geh in Deckung ! - Mann rette dich ! - Hast du das Schild " Achtung Bauarbeiten " übersehen ?" lamentierten sie.
Plötzlich drehte der Wind und erfasste das Gerüst wieder, nur diesmal von der anderen Seite. Folgsam ließ sich das instabile Gerüst an seinen Bestimmungsort zurück führen. Dumpf schlug es gegen das Mauerwerk. Hektische Hände packten zu. Die folgende Akkordarbeit ließ eine zufrieden stellende Neuverankerung entstehen. Somit gab es Entwarnung der Gefahr. Alles atmete auf. Mit scheuem Blick verfolgten die Handwerker nochmals den Mann, der mit weit ausholendem Schritt vorwärts strebte; ganz in Gedanken versunken, sich keiner Gefahr bewusst in der er schwebte. Er strebte direkt sein Ziel an, die Kirche am See.
      " Ist der Mann taub ?"
Alle zuckten mit den Schultern, froh selber nicht, durch Benutzung des Gerüstes, in Gefahr geraten zu sein.

Schwer fiel die gewaltige Kirchentür ins massive Eisenschloss. Weithin hörbar hallte dieser Vorgang durch das angrenzende Kirchenschiff. Der Mann horchte in die Stille, aber nichts rührte sich. Selten betraten, in diesem Zeitraum, Kirchgänger das Gotteshaus. Nachdem er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte sah er das Schild
                                                                ZUM  TURM
Der Pfeil zeigte nach links, schräg nach oben. Er setzte den ersten Fuß auf die Wendeltreppe. In unendlichen Windungen schraubte sich der Aufgang hinauf in das Turminnere. Auf halber Höhe befand sich ein Absatz. Hausmann pausierte. Sein Herz raste und pochte wild. Er war nicht trainiert genug, um so viele Stufen auf einmal zu nehmen. Es folgte eine schmälere, eiserne Wendeltreppe. Sie ließ einen freien Blick in das Kircheninnere zu. Schwindelgefühle suchten Hausmann heim. Seine Höhenphobie machte sich bemerkbar. Der Mann suchte Halt am Geländer. Zwang sich aber gleichzeitig die Treppenspirale weiter zu erklimmen. Endlich drangen Geräusche und Helligkeit der Außenwelt in seinen eintönigen Aufstieg. Oben angekommen lehnte sich der Mann an die dicke Turmmauer. Holte tief Luft und riskierte einen Blick auf die entstandene Spielzeugwelt, die unter ihm lag. Unbeschwertes Kinderlachen trug der, noch agierende Wind an sein Ohr. Hier oben war die Akustik so deutlich zu hören als stünde das Kind neben ihm. Das erste Mal verspürte Hausmann ein schmerzliches Gefühl. Zitternd zog er aus seiner Brusttasche ein kleines Foto. Ein strahlendes Kindergesicht lachte ihn an, umgeben von blonden Puttenlocken. Er drückte es an sich.
      " Jetzt nur nicht weich werden !" dachte er.
Langsam schob Hausmann seine Füße auf das Aussichtsplateau. Die Füße tasteten sich unsicher auf die Brüstung vor bis sie ins Leere traten. Das Kinderfoto flog in kreisenden Figuren voraus. Plötzlich traf den Mann ein kräftiger Stoß. Er schrie auf vor Schmerz. Etwas bohrte sich langsam durch den Mantelstoff und spiesste ihn auf . Es war kalt, so kalt wie Metall nur sein konnte. Verwirrt öffnete Hausmann die Augen, die er während des Fallens geschlossen hielt.
      " Wieso flog er nicht mehr ? - Was war los ?"
Der Mann blickte über sich und schaute in das Gesicht des Erzengels Michael. Mit einem strengen Gesichtsausdruck sah ihm der direkt in die Augen. Hausmann versuchte unter sich zu gucken und traute seinen Augen nicht. Er schwebte frei in der Luft aufgespießt von einer Lanze des Engels. Eigentlich galt diese Waffe zur Tötung des Drachens unter ihm. Symbolisch verkörperte das Tier die Hölle,die der Erzengel aus der Welt versuchte zu vertreiben. Fauchend zeigte der Drache sein weit geöffnetes Maul.
      " Dreh deinen stinkenden Feueratem in eine andere Richtung !" Der Kampfgeist des Mannes erwachte wieder. Inzwischen strömte eine kleine Menschenmenge unter der Engelfigur zusammen. Ca. in zehn Meter Höhe, über dem Erdboden, stand die Statue  auf einem Steinsockel der Aussenfassade. Die großen, weit ausgebreiteten Flügel unterstützten die Kampfbereitschaft. Eine Kriegerrüstung signalisierte seine Mission . Aufgehängt zappelte Hausmann an der Lanze dem Schicksal ausgeliefert. Der Absturz, in die Tiefe, wurde dadurch vereitelt. Auf einer ausgefahrenen Leiter, der herbei gerufenen  Feuerwehr, befreiten die Männer den unglücklichen Björn Hausmann aus seiner misslichen Lage.
      " Das Foto fanden wir auf der Erde. - Es gehört sicherlich ihnen. - Fast wären die Autoreifen des Feuerwehrautos über das Bild hinweg gerollt !" Eine Hand streckte sich Hausman entgegen. Das Foto zeigte ein strahlendes Kindergesicht, welches ihn anlachte, umrahmt von blonden Puttenlocken.
      

  
      

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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