Joe Schmidt

Das erste primitive Piercing in Europa

Das erste primitive Piercing in Europa


Ich stand vier Monate vor meinem vierzehnten Geburtstag. Obwohl das schon gute zwanzig Jahre zurückliegt, weiß ich das deshalb so genau, weil ich gerade noch vier Monate zu jung war um strafmündig zu sein.
Entgegen aller Annahmen, dass alle neuen Sachen immer aus Amerika kommen, muss ich hier ein für allemal klarstellen, dass das Piercing in der Steiermark schon vor den Amerikanern wieder entdeckt wurde.
Außer dem Rauchen wurde nichts Neues aus Amerika eingeführt. Zumeist greifen die Amis
im Prinzip immer nur alte Erfindungen auf, verbessern bestehende oder benennen diese bloß neu.
Im Benennen sind die Amerikaner so und so spitze. Wortschöpfungen wie: „Intelligente Bombe“ und „Sauberer Krieg?“
Und wir übernehmen diesen Blödsinn auch noch, einmal abgesehen von den ganzen Amerikanismen, die ohnehin schon die deutsche Sprache verschandeln.
(zugegeben – in Österreich wird nicht wirklich deutsch gesprochen, aber wir versuchen es wenigstens) …aber ich schweife ab….

Also: Es war ein schöner, sonniger Samstagnachmittag und ich hatte in Papas Werkstätte gerade den Grundstein für eine der bahnbrechendsten Erfindungen meines jungen Lebens gelegt.
Als Junge hat man anscheinend ständig den Drang mit Waffen zu spielen, das legt sich zwar mit den Jahren, aber zu jener Zeit war dies nichts Ungewöhnliches.
Nachdem meine Eltern das nicht so gefiel und ich keine Spielzeugpistole oder ähnliches geschenkt bekam, war ich eben gezwungen, etwas Gleichwertiges selbst anzufertigen.
Zur Freizeitausrüstung eines jeden minderjährigen Landeis gehörten damals:
Steinschleudern, selbst gebastelte Degen und Schwerter, Taschenmesser, Überlebensmesser und unbedingt Pfeil und Bogen.
Nachdem ich immer einer der Besten war (zumindest bildete ich mir das ein), war ich auch im Bezug auf meine Ausrüstung immer bestrebt, das Beste zu basteln.
Zwar habe ich es in der ganzen Zeit mit meinem Bogen bereits auf eine eingeschossene Scheibe, eine durchlöcherte Garagentüre und mehrere zernarbte Baumstämme gebracht, aber nach der, von mir geplanten, Modernisierung sollte sich meine Abschussliste noch um eine
Besonderheit erhöhen.
Wieder einmal war mein großer Bruder Mitschuld - zwar nicht aktiv aber doch.
Gerhard war damals als Installateur beschäftigt und so gelangten viele wertvolle Materialien in unser Haus - irgendwelche Reste, die in seinem Auto vergessen wurden oder liegen blieben und er sich anstatt des noch ausstehenden Überstundenentgeltes selbst auszahlte.
Jedenfalls lagen bei uns zu Hause auch einige Kupferrohre im Keller herum.
Diese Rohre werden in verschieden Härtestufen eingeteilt: weich (F22) halbhart (F25) und hart (F29).
Bei uns daheim lagen auch Hartkupferstangen (F29) 10mm Durchmesser herum und ich habe genau gewusst wozu ich diese brauchen könnte - man nehme:
Ein Kupferrohr, schneide es auf ca. 6 cm Länge ab, klopfe es bis zur Hälfte auf ein 8mm
Rundholz und schlage das überstehende Rohr am Amboss flach zusammen.
Mit der Eisensäge auf einen Spitz zuschneiden, schön die Graten abfeilen und schärfen.
Das Ganze immer stets unter Berücksichtigung der optimalen Balance, denn sonst fliegt das Ding nicht richtig.
-Mit diesen Pfeilen bin ich gefährlicher als Robin Hood - dachte ich.
Damals war bei uns noch nicht alles so verbaut und unsere Siedlung war
von Wald und Wiesen umgeben. Dem Ertesten meiner neuen Pfeile stand also nichts im Wege.
Zu diesem Zweck bin ich gleich raus auf unsere Abfahrtswiese. Als Zeuge und Bewunderer meiner neuen, phänomenalen Errungenschaft hatte ich Hansi, einen meiner Freunde geladen.
Wir beide gingen bis zum oberen Ende der großen, abschüssigen Wiese.
Ich, mit dem Bogen voran, gefolgt von meinem Schildknappen, welcher ehrfürchtig die neuen Pfeile seines Herren trug.
Am unteren Ende des Feldes stand ein alter Nussbau, direkt dahinter verlief die kleine, kaum befahrene Gemeindestrasse, welche in unsere Siedlung führte.
Ein ideales Testgelände und der Baum war das Zielobjekt für den revolutionären Pfeil der Zukunft!
Wir beide also rauf auf den Hügel. 100 Meter ungefähr war der Abstand zum Baum und
ich versuchte sogleich, nachdem ich Stellung bezogen hatte, mit dem Pfeil mein Ziel zu treffen.
Fünf Pfeile hatte ich in meiner Waffenschmiede produziert und stell sich einer vor -
Schon der erste Versuch klappte und der Pfeil steckte zitternd in der furchigen, dunklen Rinde. (reiner Zufall - aber ich war mir sicher, es war hundert Prozent Können)
Voll super! Wie wir so dastanden, 150 Meter vom Baum entfernt und uns freuten.
Jetzt waren wir eben auf einer so großen Wiese auch leicht zu sehen und Herbert, ebenfalls ein Junge aus der Nachbarschaft, ja der Herbert, hat uns auch gesehen und ist gleich näher-gekommen.
Herbert war damals noch keine dreizehn Jahre alt, aber das hinderte ihn nicht mit dem Moped seines Vaters durch die Gegend zu fahren.
So kam er also mit der alten MV50 angetuckert und hat sich ca. acht Meter westlich neben den Nussbaum hingestellt, um neugierig unser Treiben zu beobachten.
Lässig saß er auf dem alten, stählernen Schlachtross und hat zugesehen, wie Seppel Hood, aus 200 Meter Entfernung, versucht den alten Nussbaum zu treffen.
Ich stand also 250 Meter vom Baum entfernt, ziehe die Sehne voll durch, spanne den Bogen bis an seine äußerste Belastungsgrenze, ziele, halte den Bogen im richtigen Winkel....
und lass endlich die Sehne los….
Wie der Pfeil so das 300 Meter entfernte Ziel ansteuert, kommt ein leichtes Lüftchen auf.
Dieser Lufthauch wehte von Ost nach West - ganz wenig nur, aber doch genug um
auf 350 Meter Distanz den Pfeil um höchstens 2,288 % von seiner Flugbahn abweichen zu lassen.
Diese winzige Differenz ergibt am Zielort, der fast 400 Meter entfernt liegt, eine Abweichung von ca. acht Meter zu seinem eigentlich geplanten Landeplatz.
Ich weiß nicht genau, war es Mut oder Dummheit, oder hatte Herbert so ein unerschütterbares Vertrauen in meine Fähigkeiten gehabt, es kann auch sein, dass er uns 450 Meter oberhalb der Straße gar nicht so genau gesehen hat -
Jedenfalls ist er unbeeindruckt auf dem Moped sitzen geblieben und hat neugierig der Dinge geharrt, die da noch geschehen sollten.
Ich habe natürlich gleich gesehen, dass dies jetzt unter Umständen knapp werden würde und habe geschrieen, dass er weggehen soll, aber auf 500 Meter Abstand hat der Schall natürlich recht lange gebraucht - länger als mein Pfeil geflogen ist -
Fazit - mein hitec Pfeil fliegt in Lichtgeschwindigkeit 550 Meter durch die
Luft und hat sich als Landeplatz genau Herberts rechtes Ohr ausgesucht.
Nach 600 Meter Flug hatte das Geschoss schon so eine Geschwindigkeit drauf, dass es
voll durch die Ohrmuschel durch und auf der anderen Seite wieder raus ist.
Mit ein bisschen weniger Schwung hätte Herbert ein hübsches Piercing gehabt, so ist der Pfeil noch ein Stück weiter geflogen und kam fast 650 Meter entfernt von uns zu liegen.
Jetzt war Herbert natürlich enttäuscht von mir - vielleicht waren es aber auch nur die Schmerzen und der Blutverlust, weshalb er so schnell davongefahren ist.
Jedenfalls hat ihn sein Vater, verständlicherweise ins Spital gebracht.
Natürlich haben die im Krankenhaus meine Leistung nicht anerkannt. Dass bei
einem Schuss von 700 Meter Weite mein Pfeil nur um vier Meter abgewichen ist hat den Arzt, der die Wunde vernäht hat, völlig kaltgelassen und er hat mich angezeigt. (respektlos)
Die Folgen: Gendarmerie und weil ich noch nicht strafmündig war, wurden zusätzlich noch Jugendamt und Fürsorge eingeschalten.
(alles gegen den Willen der Eltern des Geschädigten, weil die gewusst haben, dass es keine Absicht war)
Herbert und ich hatten wegen dieses Vorfalles nie Streit. Im Gegenteil er war mir sogar dankbar, weil die Ulli, die damals schon mehr auf ältere Jungs stand, sich jetzt plötzlich auch für uns interessierte.
Sie war nämlich so sehr beeindruckt, dass ich es geschafft habe, Herbert aus über 800 Meter genau sein Ohr zu piercen, dass sie sich sehr intensiv mit uns abgegeben hat.
Wir waren ja auch wirklich so gut -
Herbert weil er den Schmerz ertragen hatte und ich, weil ich aus 850 Meter Distanz ein Ohr treffen konnte.

Das alles ist wirklich passiert, nur die Entfernungen waren noch viiiiieeeel größer ;-)Joe Schmidt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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