Wolf-Rüdiger Guthmann

Knipserhäuschen und Röststullen

 Wer als Junge in einer größeren Stadt in der Nähe eines Bahnhofs wohnte, für den gehörte der Bahnhof mit zum Spielplatz und Entdeckerbereich. Der Bahnhof mit seinem Gebäude, den vielen Schienen, den fauchenden und pfeifenden schwarzen Lokomotiven und den vielen Fahrgästen war doch ein lohnendes Objekt, um sich die Zeit zu vertreiben und Dummheiten zu machen. Eines Tages erzählten die großen Jungs, der Lokomotivführer und der Heizer würden auf der heißen Feuerklappe Stullen rösten. Und wer als Fremder das sieht, würde eine Röststulle abbekommen. Wem läuft beim Lesen des Begriffes „Röststulle“ nicht der Speichel im Mund zusammen? Obwohl wir alle satt sind und es uns an nichts fehlt. Aber damals war Essen noch eine ständige Suche nach Essbarem. Und hier sollte eine bisher unbekannte Nahrungsquelle auf uns warten. Da mussten wir doch dem Bahnhof einen Besuch abstatten.
Auf diese Idee schienen aber schon andere gekommen zu sein, denn das Unternehmen Bahn hatte unserem Tatendrang einen kleinen Riegel vorgeschoben. Dieses Hindernis waren einerseits Zäune um das gesamte Bahnhofsgelände und je ein Knipserhäuschen an jedem Eingang, der zu den Bahnsteigen führte. In die Bahnhofshalle kam man noch ungeschoren, aber wer zu den Zügen wollte, brauchte entweder eine Fahrkarte oder eine sogenannte Bahnsteigkarte. Bei der Fahrkarte handelte es sich um Streichholzschachtel große Pappkarten aus recyceltem Papier, zu denen es auch noch gleichartige Eilzug- und D-Zug-Zuschläge mit roten und blauen Querstreifen gab. Die Bahnsteigkarte sah fast genauso aus, kostete aber nur 20 Pfennige. Das war für uns Kinder aber ein Vermögen. Für 20 Pfennige konnte man schon 2 Lutscher oder eine rote, gelbe oder grüne Brause kaufen. Man konnte sich mit 4 Kumpels zusammenschließen und eine Tüte Erbsen für das Pusterohr kaufen. Als Pusterohr gab es billige Glasrohre für die private Weingärung. Beim Kauf waren sie genau 1 Meter lang, aber im Laufe der Nutzung brach vorn ein Stück nach dem andern ab, sodass man sie irgendwann als „Handpuste“ in der Hosentasche unterbringen konnte. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Jedenfalls hatten wir kein Geld für eine Bahnsteigkarte. Also suchten wir im Papierkorb nach weggeworfenen Bahnsteigkarten. Endlich eine Karte für jeden gefunden, wollten wir an dem Knipserhäuschen vorbei auf den Bahnsteig gehen, aber da erschallte ein kräftiges „Halt!“. Das Knipserhäuschen hatte nicht umsonst seinen Namen, denn dort drin saß ein Mann, aber manchmal auch eine Frau, in korrekter sauberer Uniform, die Mütze oder das Frauenkäppi aufgerichtet. Nicht so zerknautscht wie die Mützen, die die meisten Eisenbahner trugen. Jedenfalls nahm der oder die Uniformierte die Karte oder die Karten in die Hand und knipste mit einer seltsamen Lochzange ein ovales Loch in jede Karte. Wer nun wie wir mit einer bereits gelochten Karte kam, musste es sich gefallen lassen, als Betrüger und Verbrecher beschimpft zu werden. Wir Jungen wussten zwar kaum, was ein Betrüger und Verbrecher ist, aber wir sahen nur, dass man uns trotz Karte nicht durchlassen wollte. Und gerade in diesem Augenblick klebten vielleicht Röststullen an der Heizungsklappe einer Lokomotive. Da war es gemein, uns nicht dort hin zu lassen. Das Knipserhäuschen war nach beiden Seiten offen und häufig fragte jemand, der vom Bahnsteig kam, nach Busverbindungen und dergleichen. Oder es musste sich ein Fahrgast mit seinem Fahrrad dort durch schlängeln. So einen Moment nutzten wir aus und schlichen schnell durch die Eingangssperre. Dass uns später andere Eisenbahner ergriffen und hinaus warfen, stand dann auf einem anderen Blatt. Wir hatten aber diese Institution Knipserhäuschen überwunden. Dass diese Einrichtung auch unserem Schutz diente, begriffen wir erst 20 Jahre später, als wir selber Kinder in dem Alter hatten und in der Zeitung von den Vorkommnissen mit Kindern auf Bahngeländen erfuhren. Denn eines Tages waren diese Knipserhäuschen plötzlich verschwunden. Ihre Unterhaltung und die Lohnkosten für zwei Knipser waren mit Sicherheit teurer, als der Nutzen für die Bahn. Ewig sah man noch die Umrisse der Häuschen auf den Fußbodenfliesen. In 60 Jahren Bahnhofsbetrieb hatten sich rechts und links der ehemaligen Häuschen Spuren in die Keramik geschliffen. Ein Stück Sicherheit und Nostalgie weniger. Die Fahrkarten wurden dann im Zug geknipst, bis man auch dort diese Pappkarten abschaffte und durch mindestens ein A4 - Blatt schönstes Schreib- und Druckpapier ersetzte.
Wir Kinder irrten jedenfalls auf den Bahnsteigen von einer Lok zur anderen, aber entweder bereitete gerade in diesem Moment niemand Röststullen oder man konnte durch die halben geschlossenen Türen nichts sehen. Bis uns dann, wie bereits angekündigt, kräftige Männerhände am Kragen packten, uns am Knipserhäuschen vorbei in ein Büro der Bahnpolizei schleppten. Dort erhielten wir die übliche Standpauke, die wir auch woanders schon erhalten haben. Viel schlimmer war, dass wir nun immer noch nicht wussten und auch heute noch nicht wissen, ob das Gerücht von den Röststullen stimmte
 
10.04.2013 ©  Wolf-Rüdiger Guthmann

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