Helmut Wurm

Sokrates und die ewigen Schulreformer und Schulreformen

 

In überregionalen Tageszeitungen waren seit längerem die Vertreter der wissenschaftlichen Schulpädagogik, die Verantwortlichen der Schulverwaltungen, die führenden Schulpolitiker, die großen Lehrerverbände und natürlich engagierte Lehrer zu einem Schulreformkongress eingeladen worden. Es wurde vollmundig in Aussicht gestellt, jetzt die neue Schulform der Zukunft,… die endgültige richtige Schule,… die längst überfällige reformierte Schule,… die Wohlfühlschule,… die Leicht-Lern-Schule,… die gerechte Schule,… die Einheitsschule zu schaffen.
 
Der Weg dorthin sollte so aussehen, dass alle pädagogischen Universitätsinstitute, alle Lehrerverbände, alle Schulpolitiker, alle Ministerien, alle Lehrerverbände usw. ihre Schul-vorstellungen und Reformvorschläge an die Kongressleitung einreichen, die dann ihrerseits verwandte Reformvorschläge zu Paketen zusammenfassen und dann diese Reformpakte dem Plenum zur Diskussion vorstellen würde. In einzelnen Arbeitsgruppen sollten dann wieder diese Reformpakete durchgesprochen und jeweils ein Reformvorschlag als Synthese erarbeitet werden. Die einzelnen Synthesen dieser Reformarbeitsgruppen - sicher nur noch eine kleine Anzahl – sollten dann dem Plenum vorgelegt und nach einer abschließenden Diskussion eine alle Vorschläge beinhaltende Reformgesamtsynthese verabschiedet werden – bla, bla, bla, so hoffte man, so dachte man, so plante man !!!    
 
Aber wenn pädagogische Idealisten, Utopisten, Weltverbesserer, Phantasten, Fanatiker, Zwangsreformer… denken, dann gilt meistens der weise Spruch von Wilhelm Busch: „Und erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“…
 
Sokrates war natürlich sofort entschlossen, an diesem Superkongress als stiller Beobachter teilzunehmen. Er war sich natürlich auch im Klaren, dass dieser Kongress in seiner Planung so nicht erfolgreich sein und vermutlich total scheitern würde. Aber das hatte er ja schon oft genug erlabt in den über 2000 Jahren, die ihm bisher erlaubt waren, unter Menschen zu weilen.
 
Sokrates setzt sich also in den Saal, wie üblich hinten hin, und hört zu… Er hört geduldig zu, viele Stunden lang. Denn es geht genau so, wie er vermutete hat. Eine Einigung über das richtige Schulsystem der Zukunft und der idealistisch erhoffte Weg dahin über einige Untersynthesen zu einer Endsynthese ist nicht möglich… Aber das wusste Sokrates ja schon vorher…
 
Wir lassen ihn jetzt im Saal sitzen und achten nur auf die Schlagworte und Rufe, die nach draußen dringen. Man hört:
 
Das ist die Schule der Zukunft… So wird das Schulwesen zugrunde gerichtet… Das ist eine veraltete Schulkonzeption, die abgeschafft werden muss… Das ist keine veraltete, sondern eine altbewährte Schulform, welche die besten Erfolge bringt… Das ist der Schulweg der Zukunft… Auf mehr Wissen weisen die Betriebe immer wieder kritisch hin… Die Schüler lernen viel zu viel… Moderne Eltern haben andere Vorstellungen von einer guten Schule… Mit diesen Methoden lernen Schüler am liebsten… Neue Untersuchungen haben gezeigt, dass es ohne Disziplin nicht geht… Trotz aller Reformen werden die Schülerleistungen nicht besser… Wir haben noch nicht genug reformiert bei Schulformen und Unterrichtsformen… Die Schüler von heute sind anders als früher… Den Schülern heute fehlt Kontinuität in der Erziehung… Selbsterfahrung und Eigenverantwortlichkeit müssen schon im Kindergarten Leitmaxime der Pädagogik werden… Reifen und Wachsen bedürfen einer Orientierung… Lasst Kinder wieder Kinder sein… Jugendliche benötigen Lehrer mit Ecken und Kanten… Wir werden mit unserem neuen Schulsystem die Wahlen gewinnen… Alte Zöpfe gehören abgeschnitten… Es ist zu viel reformiert worden… Andere Länder machen das anders… Neue Lehrer braucht das Land… Ohne Erfahrungen geht es auch in der Schule nicht…
 
Es wird in die Diskussionen, besser Auseinandersetzungen, eine Pause eingefügt. Sokrates nutzt sie dazu, mit 3 Reformvertretern ein kurzes Frage-Gespräch zu führen. Es handelt sich um einen Schulreform-Professor, einen Schulreform-Politiker und um einen Vertreter eines Schulreform-Lehrerverbandes. Sie sind Sokrates mit würdevollem Selbst- und Sendungsbewusstsein bzw. verbissenem Gesicht bzw. unerschütterlichem Glauben in die Eingangshalle gefolgt und erwarten seine Fragen.
 
Sokrates: Was sagen Sie zu den vielen unterschiedlichen Vorstellungen über die richtige Schule der Zukunft? Es fällt ja ein breiter Pluralismus der Ansichten und Ziele auf.
 
Der Schul-Professor: Es war schon immer so, dass viele in die Irre gehen und dauerhaft uneinsichtig sind, obwohl die richtige Erkenntnis ihnen bekannt gemacht wurde. Dieses in die Irre gehen heißt für uns Pluralismus. Wir lassen uns aber nicht beirren, denn wir haben die Wahrheit gefunden…
Der Schul-Politiker: Schulreformen sind immer auch Schulpolitik. Mit Reformen kann man Wählerstimmen gewinnen. Wir werden diese Möglichkeit nutzen…
Der Lehrerverbandsvertreter: Wir bereiten in den Schulen den Boden für die Reformen vor. Wir bekämpfen alles und jedes, was vor Ort in den Schulen der richtigen Schulreform im Wege steht...     
 
Sokrates: Aber Pluralismus in den Schulvorstellungen kann auch von Vorteil sein, dass nämlich jeder Schülertyp die ihm passende Schulform finden kann.
 
Der Schul-Professor: Es gibt nur eine Wahrheit und damit nur eine richtige Schulform und die haben wir gefunden. Alle Schüler sind gleich und deshalb kann es nur eine richtige Schulform geben. Wir lassen uns nicht beirren, denn wir haben diese richtige Schulform gefunden…
Der Schul-Politiker: Schulreformen sind immer auch Schulpolitik. Mit Reformen kann man Wählerstimmen gewinnen. Aus den pluralistischen Vorschlägen suchen wir uns die wahltaktisch erfolgreichsten heraus…
Der Lehrerverbandsvertreter: Wir bereiten in den Schulen den Boden für die Reformen vor. Wir bekämpfen alles und jedes, was vor Ort in den Schulen der richtigen Schulreform im Wege steht...     
 
Sokrates: Auch in der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Ansichten über die richtige Organisation des Schulwesens. Wie nehmen Sie es auf, wenn ein Universitäts-Kollege zu anderen Ergebnissen kommt.  
 
Der Schul-Professor: Es war auch innerhalb der Wissenschaft schon immer so, dass viele in die Irre gehen. Wir lassen uns davon nicht beirren, denn wir haben die Wahrheit über die richtige Schulform gefunden…
Der Schul-Politiker: Schulreformen sind immer auch Schulpolitik. Mit Reformen kann man Wählerstimmen gewinnen. Wir suchen uns diejenige Wissenschaftstheorie aus, die bei den Wählern gut ankommt. Wir werden diese Möglichkeit nutzen…
Der Lehrerverbandsvertreter: Wir bereiten in den Schulen den Boden für die Reformen vor. Wir bekämpfen alles und jedes, was vor Ort in den Schulen der richtigen Schulreform im Wege steht...     
 
So geht es eine Zeitlang in festen Schablonen-Antworten weiter, bis auch Sokrates aufgibt und sich höflich verabschiedet.
 
Sokrates (sinniert): Schulpolitische Reformvorstellungen haben oft etwas mit religiösem Glauben zu tun. Häufig sind die Meinungen und Zielsetzungen verkrustete-festgefahren. Immer wieder hört man: Ich glaube fest… Ich meine unbeirrt… Ich bin fest überzeugt…  Und weil viele Vertreter aus verschiedenen Schul-Lagern so denken und argumentieren, gibt es diesen oft erbitterten Kampf um die richtige Schulreform, die dann in der nächsten Generation wieder mit demselben Kampf reformiert wird.
 
In keinem anderen Bereich wird in Deutschland so viel theoretisiert, gelehrt, spekuliert, philosophiert, geglaubt, gehofft, ideologisiert, gemeint, spintisiert, phantasiert… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Nirgends wird in Deutschland mehr gestritten, diskutiert, neu entwickelt, kreiert, gekämpft und bekämpft, reformiert, abgeschafft, sich geirrt, korrigiert… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Bei keinem anderen Thema gibt es in Deutschland so viele Missionare, Bevormunder, Besserwisser, Theoretiker, Ideologen, Fanatiker, Unbelehrbare, Betonköpfe… wie in der Schulpolitik und im Schulwesen.
 
Nirgendwo in Deutschland besteht ein größerer Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Plan und Erfolg, zwischen Einsatz und Ergebnis… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
In kaum einem anderen Bereich glauben so viele mitreden und mitgestalten zu können wie im Schulwesen, nämlich neben den Lehrern die Universitäten, die Politiker, die Soziologen, die Kirchen, die Eltern, die Wirtschaft… 
 
In keinem anderen Bereich wird in Deutschland mehr mit allen Mitteln um Einfluss und Posten gekämpft, gemobbt, ausgebootet, geheuchelt, blockiert, verdrängt, um die Gunst gebuhlt, nieder gemacht, gedemütigt, geschmeichelt… wie in der Schulpädagogik und im Schulwesen.
 
Und immer wieder kommen Reformen und Gegenreformen, heute so und später wieder so:
 - Da soll die Schule neben dem Elternhaus gleichberechtigt erziehen, dann soll die Schule nur Bildung vermitteln und die Eltern sollen hauptsächlich erziehen und nun soll die Schule wieder erziehen, weil immer mehr Eltern nicht mehr erziehen.
 
 - Da soll das Schulsystem gegliedert sein, damit man die einzelnen Schülertypen besser fördern kann, dann sollen alle in eine Einheitsschule gehen, weil es keine unterschiedlichen Schülertypen gebe und schließlich wird das Schulsystem wieder gegliedert, weil immer mehr Privatschulen gegründet werden, weil vielen die Einheitsschule nicht genügt. 
 
 - Da werden die Anforderungen in den Schulen immer mehr gesenkt und schließlich Noten und Sitzenbleiben ganz abgeschafft, aber gleichzeitig fordert die Wirtschaft mehr Wissen, mehr Leistung und mehr Belastbarkeit von den Schulabgängern.
 
 - Da sollten Lehrer in Verhalten, Kleidung und Auftreten Vorbilder für die Schüler sein, dann passen sie sich den Schülern in Kleidung und Verhalten immer mehr an, um mehr von ihnen akzeptiert zu werden, und später wird die Gesellschaft wieder Lehrer fordern, die Vorbilder und Orientierungen für die Schüler darstellen.
 
 - Da forderte man von den Schülern viel Wissen, manchmal zu viel Detailwissen, dann sollen die Schüler nur noch wissen, wo sie das aktuellste Wissen in der modernen Medien-welt finden und gleichzeitig wird von der Wirtschaft und Universität gefordert, dass die Schulabgänger wieder mehr Basiswissen aus den Schulen mitbringen müssen…
 
So geht es in der Schulgeschichte, die eigentlich mehr oder minder eine Schulkampf- und Schulreform-Geschichte ist, immer hin und her…
Im Bereich Schulsystem kommt es in Deutschland zu keinem Konsens und zu keiner Ausgewogenheit. Jede Partei, jeder Lehrerverband, jeder Schul-Ideologe, jede Regierung möchte etwas Anderes, etwas Neues den Lehrern, den Eltern, den Schülern und damit den Wählern versprechen - und dem Schulsystem zumuten… Das Thema Schule ist ein „ewiges Fehdefeld“.
 
Und dabei dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstüberzeugtheit bei denjenigen, die eine Reform planen oder gerade durchführen… Aber das ist in anderen Gesellschaftsbereichen auch so. Dabei ginge mit mehr Toleranz und Pluralismus alles viel besser… Der Mensch ist wirklich ein unvollkommenes Wesen…
 
Die Haupt-Leidtragenden in diesem Kampf um die richtige Schule sind zuerst einmal die Schüler, dann die Lehrer und zuletzt die ganze Gesellschaft.
Aber das kenne ich ja alles schon, das war häufig so im Verlauf der Geschichte der Erziehung und der Schule…
 
Und damit verlässt Sokrates diesen Kongress und widmet sich lieber den einzelnen Menschen vor Ort.
 
Und weil sich das in spätestens jeder Generation wiederholt, nämlich Ideologie-Kämpfe und Reformen, die dann später wieder reformiert werden, soll das Buch über die Schwächen der Schule an dieser Stelle abgeschlossen werden.
 
Denn die Diskussionen um die richtige Form der Schule und um die umgesetzten Schulreformen sind wirklich eine unendliche Geschichte…
 
 
(Aufgeschrieben vom discipulus Socratis, der bei diesem Reform-Kongress lieber draußen gewartet hat und der auch weiß, dass die richtige Form des Schulwesens eine unendliche Geschichte ist und der deshalb seinen Notizblock für das Schulwesen künftig zu klappt.
 
Er ist aber darüber nicht traurig, denn er hat noch viele andere interessante Gespräche des Sokrates aufzuschreiben)
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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