Peter Kröger

Unfall mit Goethe



Wie beneidete ich Goethe instinktiv, als der Abschleppwagen den Unfallort mit dem fahruntüchtigen Rolls Royce Corniche Cabrio (ich denke Baujahr 1971) verließ, während der Herr gut gelaunt ein Taxi zum Flughafen bestieg, in der Hand, soweit ich erkennen konnte, eine Zeitschrift für Männermode, in der er sogleich mit großem Interesse zu blättern begann.
Tief beeindruckt vom Auftritt des Meisters (selbst meine mäkelige Großmutter verehrte ihn) stand ich mit Gundula noch eine Weile am Straßenrand, den Unfallzettel der Polizei gedankenverloren zu kleinen Schnipseln zerreißend. Ein cooler Typ, dieser Goethe, dachte ich, entgegen anderslautenden Gerüchten von einer angenehmen, fast hemdsärmeligen Leutseligkeit, die ich nicht erwartet hätte, ein jovialer und herzlicher Mensch aber offensichtlich ein miserabler Autofahrer; von seinem dritten Malheur in diesem Jahr sprach er, es sei wie verhext, noch nie, er wiederholte es, noch nie in seinem Leben sei es zu einer derartigen Anhäufung von Blackouts gekommen, denn um einen solchen habe es sich auch in diesem Fall zweifellos gehandelt, auf die Dauer eine bekloppte Nummer, die ihm irgendwann den Führerschein kosten könne, der Mega-Gau schlechthin, wie er sagte, eine, ich zitiere, hochaufspritzende Scheiße und kaum entschuldbare Dämlichkeit eines lederbehandschuhten Dandyverschnitts mit vermutlich fingerdicken Eiweißablagerungen im Resthirn. So lästerte Goethe deftig spaßend über sich und die Gebrechen des Alters, und ich staunte nicht schlecht über Ton und Wortwahl dieses nicht mehr ganz taufrischen aber dennoch sehr agil wirkenden Mannes, der immerhin gerade meinen vorschriftsmäßig parkenden Thunderbird Baujahr 1965 (großer Motor, aber was hilft das) über den Haufen gefahren hatte. Anschließend war er gegenüber in das Schaufenster eines Kurzwarengeschäftes gedonnert, von der unverletzten Inhaberin mit hochgezogenen Augenbrauen begrüßt, was ich, noch vom Balkon meiner Wohnung für einen Moment die Lage sondierend (mein Mittagsschläfchen auf dem Liegestuhl war dahin), beeindruckt zur Kenntnis nahm, bevor ich im Laufschritt vom vierten Stock die Treppen hinunter eilte und Goethe sofort erkannte. Meinen Diener parierte er augenblicklich mit den Worten: Aufhören! Die Leute gucken schon.
Als fest im kulturellen Leben des Landes verwurzelter Mensch war es mir peinlich, dass die herbeigerufenen Beamten sich Goethes Namen dreimal buchstabieren lassen mussten, was den alten Herren sichtlich amüsierte und ihn veranlasste, mir verschwörerisch zuzuzwinkern.
Wissen Sie, Herr Doktor Knochen, sagte er leise (ich vergaß zu erwähnen, dass ich Tobias Knochen heiße), um Ihren Thunderbird tut es mir in der Seele leid, aber ich befürchte fast, dass mich sein Anblick magisch angezogen hat, eine scharfe Kiste mit guter Straßenlage, irgendwie souverän und nervenberuhigend, und für amerikanische Autos habe ich eine besondere Schwäche,  warum ich allerdings auch noch das Schaufenster zerdeppern musste weiß der Geier, denn an Kurzwaren liegt mir nichts, ich habe es schon der gnädigen Frau gesagt, ich kann leider nur meinen ganz persönlichen Sockenschuss verantwortlich machen, aber das sollten wir (er sagte ‚wir‘)  niemandem auf die Nase binden, auf juristische Verwicklungen, die über das Notwendige hinausgehen, kann ich gut verzichten,  um die Schadensabwicklung machen Sie sich aber beide keine Sorgen.
Das sagen Sie so locker, Herr Geheimrat, bemerkte ich kleinlich, aber ganz wie Exzellenz meinten, die Reparatur werde allerdings nicht wenig kosten, ein Liebhaberstück, wie er, Goethe, sich denken könne, Ersatzteile seien schwer zu bekommen, ja, den Hinweis auf den Sockenschuss solle er sich besser schenken (bei der Polizei wisse man nie, flüsterte ich) und am besten auch nichts von Eiweißablagerungen erzählen, Scherz hin oder her, sicher sei sicher, wer verstehe heute noch Spaß.
Keine Sau, sagte Goethe in aufgeräumter Stimmung, absolut keine Sau, aber ich bin froh, dass Sie mit mir konspirieren, ich bin sogar geneigt, Autoreparatur und Schaufenster gleich hier mit einem ordentlichen Pauschalbetrag aus eigener Tasche zu bezahlen, nur um Sie nicht lange hinhalten zu müssen, so ein Schaufenster kann schließlich nicht die Welt kosten, mit zehn Riesen sollte Ihnen gedient sein, gnädige Frau, dann wäre das schon mal aus der Welt, und die Beulen am Thunderbird veranschlage ich mit zwanzig, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, gleich bar auf die Kralle, ich will nicht direkt sagen, dass ich reich bin, das macht sich immer schlecht und ruft Neider auf den Plan, aber wohlhabend, wie Beckenbauer mal von sich sagte, richtig, der Fußballer, herrliche Pässe, das schon, also hier, nehmen Sie schon (er hantierte vor unseren Augen mit einem Riesenbündel Einhundert-Euro-Scheinen), jetzt aber nichts wie weg, der Flieger wartet nicht, und in sechs Stunden muss ich einen Vortrag in Rom halten, mein Bock geht gegen null nach diesem Bullshit hier. Manche Tage haben es in sich, glauben Sie mir. Wollen wir nicht ‚du‘ sagen? Meine Freunde sagen Joe, ein sauberes Inkognito, finde ich.
Dann kugelte er sich vor Lachen und machte die etwas unflätige Bemerkung, von der schon die Rede war, ich jedoch brachte nur ein völlig lächerliches Wenn Sie meinen,  Herr von Goethe heraus (die Zwanzigtausend hatte ich bereits mit gierig-ungeschickten Bewegungen in den Innentaschen meines Jacketts verstaut), was seinerseits zu einer neuerlichen Lachsalve führte und ihn die Worte herauswiehern ließ: Du willst mich umbringen, Tobi, ein Aas bist du, entschuldige, ein Attentäter. Ich stotterte, das läge mir fern, er solle mich als Bewunderer, als Fan, als Anhänger betrachten, seine Werke seien immer Offenbarungen des Geistes für mich gewesen, Joe, nein,  so könne ich ihn nie und nimmer nennen, Hannes schon eher, aber Joe, nein, das klinge zu sehr nach Westernheld, der Thunderbird sei ein herrliches Gefährt, doch ihn, den Begnadeten, den Klassiker der Klassiker mit diesem quasi lassoschwingenden Kosenamen zu rufen falle mir nicht ein, es gebe Grenzen.
Dann eben nicht, winkte Goethe ab, etwas zerstreut, wie mir schien, sag meinetwegen Goethe zu mir, viel wichtiger ist, wie ich mein zerlegtes Cabrio fortschaffe, das Auto ist reif für die Schrottpresse (das war übertrieben, aber ich taxierte den Schaden auf mindestens fünfundzwanzigtausend Euro), jemand muss es huckepack nehmen und dann weg mit Schaden, die nächste Inspektion hätte sowieso ein Heidengeld gekostet. Ich hänge zwar an der Schleuder, aber es gibt keinen Gurt, von einem Airbag ganz zu schweigen, das ist das Behämmerte an den alten Mühlen. Eigentlich sollten sie ganz in der Garage bleiben, andererseits schockt es ungemein, bei schönem Wetter die Blicke der Damen auf sich zu ziehen, sonst läuft ja nichts mehr mit schütterem Haar und ranziger Fresse, da kannst du Goethe heißen oder Knochen, obwohl Knochen schon ein Zacken schärfer ist, finde ich, einfach männlicher, gell?
Wir könnten ja tauschen, antwortete ich, ein Gefühl der Kränkung mühsam unterdrückend. Und davon mal abgesehen: Frauen und ihre Vorliebe für schicke Autos, das gehöre doch einer anderen Zeit an, er, Joe (jetzt nannte ich ihn plötzlich Joe), habe doch wohl längst schon bemerkt, dass Cabrio-oder Oldtimer-Fahrer eher belächelt als ernst genommen werden. Mein Thunderbird habe mir jedenfalls noch zu keiner Damenbekanntschaft verholfen, sein Design fasziniere mich wie sonst kaum etwas in der Welt, ausgenommen vielleicht –
Lieber Tobi, unterbrach mich Goethe (etwas unhöflich, wie ich fand), du willst nicht im Ernst behaupten, dass dich dein Donnervogel mehr interessiert als schöne Frauen oder ein gutes Essen, ich weiß nicht, was du sonst noch so auf Lager hast, aber ich beginne mich zu fragen, wem ich hier gegenüberstehe, übrigens gar keine schlechte Vorbereitung für meinen Vortrag, die Sache mit dem Wundern meine ich, im großen Saal der Villa Massimo spreche ich um zwanzig Uhr über Erwartung und Erwachen, ein Hammerthema, aber ich weiß noch nicht recht, wie ich es anpacke, willst du nicht mitkommen, Tobi, gnädige Frau sind nätürlich auch eingeladen, um neun müsste ich fertig sein und wir könnten in Trastevere bei Augustino noch einen Happen nehmen, den Flieger übernehme ich, was sagt ihr? – Du spinnst, sagte die Kurzwarenfrau, die sich die ganze Zeit mit Kommentaren zurückgehalten, aber im Gegensatz zu mir das Geld penibel nachgezählt hatte, bei dir piept es, Joe oder wie du heißt.
Ich dachte nur: Der Kerl hat gut reden. Noch nie von Rabotti gehört, der Fürst? Was ist mit dem Ernst des Lebens? Er, der immerhin gerade meinen Thunderbird zerlegt und einem Schaufenster den Rest gegeben hatte, war in Gedanken schon in Rom beim genussreichen Ausklang des Tages in Trasirgendwas nach einem Hammerthemavortrag, von dem er noch keine rechte Vorstellung zu haben schien, ein Freak, der alte Herr, kaum mitgenommen von dem Verlust seines Cabrios, unbeeindruckt von den skeptischen Blicken neugieriger Passanten (plötzlich war es egal, ob jemand guckte!), geradezu brav und zuvorkommend in der Beantwortung aller polizeilichen Fragen zum Unfallhergang. Obwohl ich Goethes Verhalten angeberisch fand, fühlte ich mich durch die ausgesprochene Einladung doch geschmeichelt, er merkte es und schmunzelte, was mich wiederum maßlos ärgerte (genau das schien er zu beabsichtigen) und zwar dergestalt, dass ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen und Terminnot vorzutäuschen. Vielleicht hatte Frau Vulpius (ich schwöre, das ist ihr Name, kommt her und schaut, KURZWAREN Gundula Vulpius), vielleicht hatte sie ja Lust, mit mir essen zu gehen. Der Gedanke behagte mir umso mehr, als ich die Vulpius, ohne sie näher zu kennen, schon häufiger mit einem kleinen, italienischen Sportwagen herumfahren sah, eine Augenweise für jeden Interessierten, wenn ich so sagen darf.
Von Goethe habe ich nie wieder etwas gehört. Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung las ich drei Tage später allerdings von Goethes Vortrag (Er muss es gewesen sein. Titel des dreispaltigen Artikels: Joe war da) in der Villa Massimo in Rom. Der Mythos Goethe, die Lichtgestalt der deutschen Klassik, ja, der deutschen Sprache schlechthin, so das Blatt (ich zitiere aus dem Gedächtnis, unter Umständen hieß es auch einfach nur Großer Mann, und ich habe die Lichtgestalt erfunden), sprach über das Thema Unfall und Neubeginn. Gelobt wurde die intellektuelle Eleganz einer normalerweise die Öffentlichkeit scheuenden Künstlerpersönlichkeit; erwähnt wurde die Begeisterung einer Zuhörerschaft, die wohl mit nichts Derartigem gerechnet hatte.
Mit der Vulpius hingegen lebe ich seit dem Verzehr eines herrlichen Wildschweinbratens mit Knödeln in wilder Ehe (bei Interesse bin ich gern bereit, den Namen des Restaurants zu nennen, es ist gleich um die Ecke). Sie war es schließlich, die mich überredete, den spritfressenden Thunderbird endlich abzustoßen.
Nach reiflicher Überlegung und Würdigung aller relevanten Tatsachen schenkte ich das gute Stück (und was davon übrig war) einem rüstigen Pensionär in Weimar, dessen Namen ich vergessen habe.

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