Christiane Rutishauser

Noname Teil1 (Der Schrei)


 
Er durchstreifte lautlos die dunklen Gassen des Stadtteiles, den man die Niederburg nannte. Niemand bemerkte ihn und das war gut so. Er war der Unsichtbare, der ohne Namen. Wild und stark und frei. So hatte er es gehalten, seit ihn damals, als er noch ein winzigkleines hilfloses Junges gewesen war, eine Hand, eine Menschenhand, gepackt und in den Fluss geworfen hatte. Er war ein Überlebender.
 
Es war schon gegen Morgen und immer noch angenehm warm. Die Straßen waren bis auf ein paar Spätheimkehrer menschenleer. Alles wirkte friedlich und eine große dunkle samtige Stille lag feierlich über der Stadt. Er hatte gejagt und war satt und zufrieden. Es war an der Zeit, einen seiner sicheren Schlafplätze aufzusuchen. Auch wenn er kein eigentliches Revier hatte, so war dies doch die Gegend, in welcher er sich am meisten aufhielt. Dies war so etwas wie sein Revier, auch wenn er keine Duftmarken setzte. Duftmarken hinterließen Botschaften. Gerade eben hatte er die stinkende Markierung von dem dummen Rocco, einem wirklich üblen Gesellen, gewittert. Sie war noch frisch, keine halbe Stunde alt. Es war, als ob Rocco durch diese Markierung sichtbar wäre, und das wollte er  für sich nicht. Er wollte unsichtbar bleiben.
Unter einem geparkten Auto duckte sich ein Marder und fixierte ihn mit seinen schwarzen Knopfaugen. Sie ignorierten sich gegenseitig, zeigten Respekt, aber keine Kampfbereitschaft.
Er war nicht in Stimmung für einen Kampf. Er war in verträumter Stimmung, entspannt und ein wenig schläfrig.
 
Dieser Stadtteil war sehr alt. Das Kopfsteinpflaster in den Gassen glänzte abgenutzt und wie poliert. Die Erde unter den Steinen war getränkt mit Blut. Jahrhunderte altem Blut, vergossen in sinnlosen Kriegen und Kämpfen, getrocknet und vom Regen bis fast zur Unkenntlichkeit ausgewaschen. Die Mauern der Häuser waren dick und feucht, voller Schimmel und Moos und Gerüchen. Es war die Zeit, die man hier roch. Die sich zersetzende, alternde, sich gegen das Sterben aufbäumende Zeit.
Er huschte wie ein Schatten über den kleinen Platz mit dem Brunnen, dessen dünner Wasserstrahl in der nächtlichen Stille seltsam laut plätscherte, und schlug die Richtung zur Schule ein. Es war Wochenende und die Schule war geschlossen. Er würde dort seine Ruhe haben. Den alten Hausmeister hatte er im Griff. Er ließ ihn in Ruhe, stellte ihm sogar hin und wieder ein Schälchen Milch und etwas Trockenfutter hin. Das war nett. Manchmal waren die Menschen nett, manchmal auch nicht. Man musste aufpassen.
Gerade als er unter dem Zaun hindurchschlüpfen wollte hörte er den Schrei. Es war der hohe langgezogene Schrei einer sehr verzweifelten Katze. Sie war noch jung, das konnte er an der Stimme hören. Sie war verängstigt und wütend. Sie war in Schwierigkeiten. Er stellte seine feinen Ohren auf und horchte hinaus in die Nacht. Die Katze war verstummt. War sie tot?
Er wollte es nicht glauben. Angestrengt lauschte er weiter und versuchte zu ergründen, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war. Er sah sich um. Die meisten Fenster waren dunkel, die Vorhänge zugezogen. Nur ein Fenster im obersten Stock eines alten, baufälligen Hauses, das er von seinen früheren Streifzügen her kannte, war beleuchtet. Wer war um diese Zeit noch wach? Nur wenige Menschen waren Nachtgeschöpfe, die keinen Schlaf fanden. Er betrachtete nachdenklich das erleuchtete Viereck. Er konnte nicht sicher sein, aber er hatte so ein Gefühl. Mit diesem Fenster stimmte etwas nicht. Irgendwie musst er da hinauf gelangen, die Frage war nur wie.
Die niedrige Haustür war verschlossen und auch die blinden alten Kellerfenster waren verriegelt. Es musste einen anderen Weg geben, vielleicht über eines der Nachbarhäuser.
 
Plötzlich war er wieder hellwach. Die verträumte Schläfrigkeit von vorhin war einer kribbelnden Anspannung gewichen und so nahm er auch das Augenpaar war, das ihn aus einem dunklen Hauseingang heraus beobachtete.
Da war eine andere Katze, sie schien ihn anlocken zu wollen, zu sagen, komm hierher, hier entlang. Er huschte über die Straße und fand die alte Holztüre des Nachbarhauses nur angelehnt. Durch einen schmalen Spalt schlüpfte er in den Hausflur.
Die Katze war verschwunden, aber sie hatte ihre Spur hinterlassen. Sie lockte ihn durch das Treppenhaus eine breite ausgetretene Holztreppe hinauf, zu einer schmalen, schief in den Angeln hängenden Holztür, die auf den Dachboden führte. Das war ungewöhnlich. Die Menschen liebten Türen und Schlösser und alles, womit sie ihren Besitz sichern konnten. Dieser Speicher hier war aber für jeden zugänglich. Vielleicht wohnten nur wenige Menschen hier oder das Haus gehörte einer einzigen Person. Seine Gedanken tanzten schon wieder. Das taten sie öfter. Sie drehten Kapriolen wie die Figuren eines Puppenspiels, stellten Mutmaßungen an und erforschten Neuland.
Der Speicher roch nach Gerümpel und Mäusedreck. Staub wirbelte auf und reizte ihn zum Niesen. Wo war die Katze? Er gab leise einen rufenden Laut von sich, erhielt aber keine Antwort. Da war ein Luftzug von irgendwoher. Ein Fenster? Er machte sich auf die Suche und entdeckte ein Dachfenster, das ein großes Loch hatte.  Direkt darunter  stand ein altes geblümtes Sofa. Es war feucht und schimmlig, an vielen Regentagen im Jahr immer wieder aufgeweicht und nie wieder richtig getrocknet.
„Vielleicht schaffst du es durchs Fenster“, hörte er eine heisere brüchige Stimme.
„Ich bin für solche Akrobatenstückchen zu alt.“ Zu seinem großen Erstaunen, bemerkte er sie erst jetzt. Sie saß nur ein paar Meter weit von ihm entfernt und sah, sehr, sehr alt aus , älter als das gesamte Gerümpel auf dem Speicher. Sie war mager und ganz grau, aber in ihren noch immer hellblauen Augen, erkannte er einen starken ungebrochenen Willen und einen wachen Geist.
„Er hat meine kleine Prinzessin“, flüsterte sie leise. „Sie ist meine kleine Freundin. Manchmal bringt sie mir Nahrung und sie hört sich geduldig meine alten Geschichten an. Sie ist ein Engel. Ich habe Angst um sie. Bitte, Hilf ihr!“
Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und verschwand hinter einem Regal.
„ER HAT MEINE PRINZESSIN!“  Das war ja nun wirklich viel Information. Sein erster Impuls war, der Alten nachlaufen, aber dann fragte er sich, wie viel Information er denn noch benötigte, um zu helfen? Eine junge Katze war offensichtlich in Schwierigkeiten. Was gab es da zu überlegen?
 
Skeptisch schaute er hinauf zum Dachfender. Es würde eng werden. Vielleicht würde er sich ein paar Kratzer holen, im schlimmsten Fall, aufgeschlitzt sein Leben zur Hälfte in einem Dachfenster hängend, qualvoll beenden. Nun ja, was war das Leben schon ohne Herausforderungen. Vorsichtig sprang er auf die Lehne des schimmligen Sofas, das leicht glitschig war und nicht den optimalen Halt bot. Er hatte solche Kunststückchen schon gemacht, aber da war er noch jung und ungestüm gewesen. Er war ein wenig aus der Übung.
 
Mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf das ausgefranste Loch in dem schmutzigen Dachfenster, durch welches ein kleines Stückchen Nachthimmel zu sehen war und ein, zwei Sterne. Er fixierte das Loch, ließ es in seiner Vorstellung groß werden und näher kommen. Es zog ihn an, es wurde zum Mittelpunkt, es war groß genug, er fühlte es, er atmete, er spürte Erregung und dann schaltete er alle Gedanken für einen Moment lang ab und sprang.
Sein schlanker Körper wurde durch das Loch gezogen. Er fühlte wie sein rechter Hinterlauf von einer herausstehenden Spitze leicht angerissen wurde. Dann befand er sich im freien Fall. Sein Herz raste, er drehte sich mehrmals instinktiv um die eigene Achse, fiel und landete schließlich etwas unsanft ein paar Meter unter dem kaputten Fenster auf einer Dachterasse. Das war knapp gewesen. Seine linke hintere Pfote blutete und schmerzte leicht. Er tastete die Wunde mit der Zunge ab. Es hätte schlimmer kommen können. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
 
Wachsam schaute er sich um. Von seinem Platz aus hatte er einen wunderschönen Blick über die Dächer und die Lichter der Stadt. Dieser Stadt über der Stadt. Tagsüber wirkte diese Welt wie ein riesiger Spielplatz in der Sonne, in der Nacht war es ein Ort voller Schatten und Abgründe, in welche man tief fallen konnte. Er musste gut aufpassen. Alles war still, er konnte kein anderes Tier und auch keinen Zweibeiner wittern oder hören. Die nächste Frage, die er sich stellte war die, wie er von hier aus zu dem beleuchteten Fenster, oder noch besser, in den beleuchteten Raum gelangen konnte.  (Fortsetzung folgt…)

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