Iris Klinge
Die Rückkehr des Kleinen Prinzen
Es gibt Tage, da ist die Luft voller Erwartung, ein Gespür, dass etwas Ungewöhnliches passiert, eine Bereitschaft für das Wunderbare oder vielleicht auch nur ein Duft Erinnerung an die Begegnung mit starken Persönlichkeiten.
Und plötzlich stand er neben mir, der Kleine Prinz 1985, an einem frostigen Oktobermorgen in der Bonner Innenstadt. Sein Gewand aus leichtem, blauen Baumwollstoff floß bis zu den nackten, braunen Füßen, die in leichten Sandalen steckten. Er schien die Kälte der Umgebung nicht zu fühlen, seine Augen leuchteten, in der Hand einen Zettel und auf den Lippen eine Frage in einer anderen Sprache. Warum hatte er gerade mich ausgewählt als Helfer auf diesem fremden Erdteil?
Er schien vom Himmel gefallen zu sein wie der Kleine Prinz im Märchen von Saint-Exupéry, als er vor dem Navigator stand inmitten der Wüsteneinsamkeit und ihn bat “Bitte, zeichne mir ein Schaf”.
Auch er, mein Prinz, war von weit hergekommen. Seine Heimat war die südliche Sahara, die Sahel-Zone, aus der er in unsere Betonwüste gereist war als Prophet des reinen Herzens. Ein Fremder in diesem Land, und doch schien er wie zu Hause: seine Bewegungen waren von großer Gelassenheit und Geschmeidigkeit, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt sei, an diesem Morgen auf diesem Fleck unseres Planeten herumzulaufen.
Heute weiß ich, dass er wusste, wohin ihn sein Weg führte, als er mir den Zettel mit der Adresse zeigte. Alles, was er tat in diesen wenigen Tagen, bekommt im Nachhinein seinen Sinn. Er ist zurückgekehrt in seine Heimat, und wie der Kleine Prinz hinterließ er keine Spur, nur die Botschaft: “Die Augen sind blind für das Wesentliche; ihr müsst wieder lernen, mit dem Herzen zu sehen.”
Er war ein Sehender und auch ein Heiler. Nur wer mit dem Herzen sieht, kann wirklich heilen. Seine Habe war kärglich. Sie passte in einen kleinen Aktenkoffer, den er bei sich trug wie einen Schatz. In diesem Köfferchen war sein Heiligtum, die beiden Bücher, die für ihn die gesammelte Weisheit aller Zeiten enthielten. Aus dieser Quelle schöpfte er sein Wissen und seine Kraft. Er spendete Trost denen, die ratsuchend zu ihm kamen und etwas über ihr Schicksal wissen wollten.
Er sah die Krankheiten in der Seele der Menschen, die verzweifelt, verhärtet, verbittert oder auch nur aus Neugier oder Unglauben sein Können auf die Probe stellen wollten. Sein eigenes Leben hat er in den Dienst am Mitmenschen gestellt, einen Teil seines Reichtums einer Stiftung für die Kinder der Sahel-Zone, die oft elternlos, bettelnd durch das Land ziehen, zur Verfügung gestellt.
Heute, wenn ich durch die vorweihnachtlichen Straßen unserer Stadt gehe, wo all die Menschen in blindem Eifer herumhasten, um für sich und andere Geschenke einzukaufen, die meist schön und mehr oder weniger überflüssig sind, dann sehe ich ihn vor mir in seinem leichten, blauen Gewand: er ist in die andere Welt zurückgekehrt, jenseits der Betriebsamkeit und sinnlosen Beschäftigungen, mit denen wir uns hier die Zeit vertreiben. Er hat die stillen Räume seiner Heimat betreten, die freie Natur, er kennt seine Aufgabe und seinen Weg, er sieht klar, denn er sieht mit dem Herzen, und ich weiß, dass er nicht umsonst hier in Bonn aufgetaucht ist.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.05.2013.
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