Rico Graf

S hrif stel er v r s win d e t oder Das Manuskript (IV)




IV
 

Der Polizist nimmt den Fall auf. Er fährt am nächsten Tag zu dem Ort, wo der verschwundene Schriftsteller wohnt. Ein unscheinbares Häuschen mit unscheinbarem Gärtchen offenbarte sich ihm, am Eingangstürchen ein Briefkasten in nostalgischem Antlitz. Hier muss er den Brief geöffnet haben. Der Polizist stellt sich vor, dass ihm das Herz geklopft hat, als er den Briefkasten geöffnet und den Brief herausgeholt und ihm zugleich bewusst gewesen ist, wie oft dieses Bild vom Öffnen des Briefkastens, um ein sehnlich erwartetes Schreiben herauszuholen, schon in anderen Kunstfiktionen, auf Bildern, in Filmen, sicher in Opern, in Narrationen sowieso, auf Fotos und so fort schon verwendet wurde und dennoch nur in der uns bekannten Geschichte seine Ära haben wird, gab es doch vermutlich das Ding Briefkasten wohl seit es schriftliche Post gab, und wird er im Prozess der Digitalisierung womöglich virtuell werden, dabei aber sich als Begriff überleben, der ein anderes Ding bezeichnet, das jedoch die gleiche Funktion innehaben wird. Die Begriffe werden länger leben als die Dinge, die sie bezeichnen, sodass mit logischer Konsequenz innerhalb einer Sprache immer mehr Begriffe existieren werden als Dinge, die sie bezeichnen wollen. Und um diesem Gedanken noch einen draufzusetzen, denkt sich der Polizist, ist ihm zugleich, neben dieses Gedankens vom Briefkasten und dem Bilde des sehnsuchtsvollen Öffnens desselbigen, um die Post herauszuholen und zu lesen, bewusst gewesen, dass bestimmt mindestens ein Anderer den Gedanken vom Briefkasten und dem Bilde des sehnsuchtsvollen Öffnens desselbigen, um die Post herauszuholen und zu lesen, gehabt hat oder zeitgleich hat oder fürderhin haben wird. Selbst wenn diese Narration hier jemand liest, dann könnte dieser Gedanke schon sogar durch mich multipliziert worden sein, könnte er gedacht haben, denkt der Polizist, und wer weiß, vielleicht nimmt jemand diesen Gedanken, also vom Briefkasten und dem Bilde des sehnsuchtsvollen Öffnens desselbigen, um die Post herauszuholen und zu lesen, zum Anlass, ihn in einer eigenen Narration, wenn auch als beispielsweise nicht ohne sarkastischen Hintergedanken zu dem Gedanken, zu überführen, etwa in der Weise, dass er schreibt, ich las jene Geschichte vom Schriftsteller, der schrieb jenes Manuskript, und... und verschwand... Den Gedanken abstreifend geht der Polizist zur Haustür. Er klingelt. Niemand öffnet. Er klingelt. Er stellt sich vor, wie er klingelt und sich die Tür öffnet und ihm der Schriftsteller ins Gesicht schaut und der ganze Fall plötzlich zur bloßen Posse degradiert. Zu einem Hirngespinst. Sich verflüchtigt. Doch niemand öffnet. Der Polizist dreht den Knauf. Durch das Voranschreiten, durch die Bewegung der Handlungen... lebt was oder wer eigentlich? Die Tür öffnet sich. Er befindet sich im Haus des Schriftstellers. Der Schriftsteller ist nicht da. Nicht im Bad, nicht in der Küche, nicht im Wohnzimmer, nicht im Schlafzimmer. Aber Bücher starren argwöhnisch. Herab von den Regalen. Bücher, zuhauf. Hunderte. Tausende. Bücher über Bücher. Und dort der Schreibtisch. Groß, gewaltig, gigantisch. Darauf zahlreiche gedruckte Seiten. Einige zusammen gebunden. Andere lose. Hier! Ein Titel. Die Biblionauten. Hier! Ein Band von den Werken Borges’. Er weckt einen und es blättert eine Zunge: Warum beunruhigt es uns so sehr, dass die Landkarte in der Landkarte beinhaltet ist und die 1001 Nächte im Buch Tausendundeine Nacht? Warum beunruhigt es uns, dass Don Quichotte Leser des Quichotte, Hamlet Zuschauer des Hamlet ist? Ich denke, die Ursache herausgefunden zu haben: solche Vertauschungen legen nahe, dass, wenn die Figuren einer Fiktion Leser oder Zuschauer sein können, auch wir, ihre Leser oder Zuschauer, fiktiv sein können. Ein Bild. An der Wand. Auf dem Bild erkennt, dass nun majestätisch der althölzern-sublime Koloss vor ihm sich erhob, verschmolzen mit Abermillionen Buchestaben, die über die Blätter geschwommen wie Schiffchen, die weder Skylla noch Charybdis scheuten, den Pfad sich erstürmen wollten hin zum Ithakator Tyrannen-ja – und doch nur Anus säubernde Diener wurden... Willkommen, setzen Sie sich. Sie hatten mir Ihr Manuskript zukommen lassen. - - - Ich habe es gelesen. Vielen Dank. - - - Mit brachialer Gewalt drängte der amorphe Fels der Erwartung im Leibe durch den Leibe hinaus aus dem Leibe, quetschte quellte durch der Iris Pupillen, flackerte, ging über zur Feder Befreiung, zu segeln durch die Lüftedes Atem Ja. Doch Wächters Augenschweigen verzückte dessen metallblaue Stimme zum Bruch der nervengespannten Kette. Berstend knatterte der Bass durch das foliantenfressende Zimmer, Ohrenrammbock stieß knallend auf, die an den Lettern klirrenden Seelchen erbebten in heulender Agonie. Nein, wir werden dieses Manuskript im Hause nicht publizieren. Schreckschwangerer Strahl lanzte die rote Pumpe; ein Ruck fuhr durch das Antlitz des nicht verlegenen Verlegers, zerknittert er,knüllt das Papier zusammen, die Hand wirft es nieder zu Boden. Der Verleger starrt auf die schmerzbrüllenden Blätter, Tintenblut fließt mäandernd über den saufenden Teppich. Was für einen Nonsens schreibt dieser Möchtegernschriftsteller da nur? Er hat noch nie so einen Unfug vor die Augen bekommen. Welchen Effekt erhofft sich dieser Pseudoschriftsteller da nur zu erzielen beim heute so mit allen Tinten gewaschenen Leser der Postmoderne? Die pervertierte Metalepse erinnerte ihn aber auch an nichts. Ist die Story denn spannend? Handelt sie wirklich von jenem Schriftsteller, der verschwindet und von jedem Polizisten gesucht wird? Soll das die Handlung sein? Oder ist er, der Verleger, selbst Teil dieser Handlung? Wirkt das Borgeszitat noch schallend in seinem Innersten nach? Für gewöhnlich würde er solchen ominösen Schreiberlingen keine Chance geben. Aber doch ist er verunsichert ob dieses Manuskriptes. Die Chancenlosen lassen ihn kalt und werden folgerecht chancenlos, der hier aber heizt ihn auf, macht ich wütend, und das gefällt ihm, denn, und da grinst er, wirkt dieses Anuskript in ihm, dass er dem Schriftsteller vielleicht doch eine Chance einzuräumen bereit ist. Möglicherweise ist jene Geschichte vom verschwundenen Schriftsteller ein autobiographisch gefärbte. Es könnte sein, dass dieser Schriftsteller tatsächlich versucht hat, dieses Manuskript zu versenden und dass er nach dem Urteil des Verlegers auch verschwunden ist, wenn auch nicht durch diese Autoexilierung in die eigene Fiktion, wie sie sich bereits beim Epilog andeutet. Fürwahr, der Text birgt eine partiell prätentiöse Anomalie der Wörter, ist ein Exot, gleichsam volatil und unkapriziös. Ich habe keine Zeit dafür. Wir laden ihn ein, sprechen mit ihm, sagen ihm ab. Ich sehe Potenzial. Wir können ihm einen weiteren Anlauf gewähren mit dem Verweis auf Wohlwollen. Aber das hier, er blickt zum Papierknäuel, ist zu amorph, spannungslos, pervertiert. Er fasst den Entschluss, den Schriftsteller einzuladen. Im Grund war er doch recht neugierig auf diesen Menschen. Vielleicht erzählt dieser ihm – trotz seines Urteils – doch dessen Ambitionen, dessen Philosophie oder Theorie, die er in den Text flechten will. Also ruft er die Sekretärin und bittet sie, dem Schriftsteller zu schreiben und ihn zu sich ins Verlagshaus einzuladen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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