Über mancherlei Dinge schwieg man, über manches verlor man kein Wort im Hause Shaw. Denn wie heißt es doch so schön? Reden ist Silber, Schweigen Gold. Man hätte es auch anders formulieren können; Schweigen ist Leben, Reden das ew´ge Schweigen selbst. Zumindest im Hause Shaw.
Das Anwesen lag in tiefen Schatten und Stille durchwob die Nacht wie zarte Fäden im Stoff der Bedrohung. Im Haus war schon lange Schlaf eingekehrt und die Lichter verloschen. Das Einzige, das sich bewegte, waren die Zweige der Büsche und Bäume, die eine leichte Brise wiegen machte. Das Haus selbst war schön, alt und geräumig genug, um die große Familie des Herrn Shaw zu beherbergen. Die Nacht zeichnete die Fassade tiefblau, war sie bei Tageslicht doch strahlend weiß wie die Federn der Tauben.
Ein plötzlicher Windstoß, der in dieser warmen Sommernacht nicht willkommener hätte sein können, blies zum Fenster des Ehepaares Shaw herein, bauschte die Vorhänge und verschaffte den im Schlaf Schwitzenden einen Moment der Abkühlung. In weißen Laken lagen sie dar, das Bett wohl eines der bequemsten, die man finden konnte. Was vermochte der wohlhabende Herr Shaw seiner Gattin auch nicht zu schenken?
Im Dorf ging schon seit geraumer Zeit das Gerücht um, der Herr sei auf nicht ganz legalem Wege zu Geld gekommen und hätte sich – so tuschelten böse Zungen – durch die Hintertür so manchen Geschäfts in seine doch recht umstrittene gesellschaftliche Stellung gemogelt. Andere wiederum ließen es sich nicht nehmen, darauf zu bestehen, der gute Herr hätte ganz einfach Geschick am Markt bewiesen. Wie es nun gewesen sein mochte, bleibt wohl dahingestellt und jedem zu beurteilen selbst überlassen.
Das Anwesen lag abseits des Dorfes, was vielleicht dazu beitrug, Geschichten über die zurückgezogene Familie aufkommen zu lassen. Die Kinder wurden privat unterrichtet, wenn man den Theorien aus den Wirtshäusern Glauben schenken durfte, so waren sie „die angehenden Mehrer des Reichtums eines reichen Mannes, der des Reichtums noch nicht müde war“. Doch wie es so war mit Gerüchten, stanken sie mehr nach Bier denn nach bewiesenen Hypothesen.
All das Raten und Tuscheln mochte der Wahrheit nicht nahe kommen, doch schufen sie eine gewisse Distanz zwischen den Shaws und den Dörflern. Diese Distanz war für beide Seiten Bürde und Schutz zugleich; sie zu durchbrechen würde zu nichts anderem als einer Tragödie führen. Nur, wie könnte ein junges Herz einen Tanz mit dem Teufel schmähen, war es doch von Neugierde genauso zerfressen wie sein Verstand mit wagen Warnungen vergiftet und zu Leichtsinn angestiftet.
Es war an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen, als ein schriller Schrei das schlummernde Dorf aus seiner Ruhe riss. Eine Mutter stand im Morgenmantel auf der Straße und rief nach ihrem Kind, das des Nachts aus seinem Bett geraubt worden sein musste. Die Nachbarn – gute, ehrliche Menschen und teure Freunde – eilten herbei, der Frau beim Suchen zu helfen und sie zu beruhigen. Man rief den Polizeichef der kleinen Gemeinde an, der sogleich eine ausgedehnte Suche organisierte. Der Junge der Mutter allerdings blieb verschwunden. Man durchforstete den Wald, man betrat die Scheunen, man öffnete jeden Keller und sah in jeden Brunnen. Doch das erwünschte Ergebnis blieb aus.
Wie es nun einmal so ist mit angestautem Misstrauen, so gewann auch in diesem idyllischen Örtchen nach kaum zwei Tagen der ungerechtfertigte Verdacht die Oberhand in den vor Sorge betäubten Köpfen der Leute. Bald wurden Stimmen laut, die verlangten, man möge den Hang am Stadtrand hinaufsteigen und bei den Shaws klingeln. Bald zeigte man überall mit dem Finger anklagend auf das Anwesen. Der Polizeichef sah sich zum Handeln gezwungen und stieg am Morgen des dritten Tages den Hang hinauf.
Die Tür wurde ihm von einem Mädchen im jugendlichen Alter geöffnet, in deren Augen die Unschuld genauso geschrieben stand wie die Furcht. Sie führte den Polizeichef zu ihrem Vater, welcher ihn mit festem Händedruck und ernster Miene in Empfang nahm. Frau Shaw bot dem Gast Kaffee und Kuchen an, wobei man ihr die Nervosität deutlich anmerken konnte. Der Polizeichef führte ein ausgedehntes Gespräch mit Herr Shaw, genehmigte sich zwei Stück des köstlichen Kuchens und ließ sich anschließend von dem Mädchen, das die Tür geöffnet hatte, und deren Zwillingsschwester das Haus zeigen.
Nach knapp vier Stunden trat der Polizeichef den Rückweg ins Dorf an und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie die Shaws nach außen hin so abschreckend, doch in den eigenen vier Wänden so warm und einladend wirken konnten. Noch während er den Weg zum Tor des Anwesens durchquerte, wandte der Polizeichef sich noch einmal um und erblickte die fünf Kinder, die ihn durch halb zugezogene Vorhänge vom Haus aus beobachteten, bis die Mutter sie fortscheuchte. Mit einem Stirnrunzeln setzte er seinen Weg fort.
Irgendwann war es an der Zeit, die Suche einzustellen. Man hatte hie und da alle Hebel in Bewegung gesetzt, alles getan, um das vermisste Kind zu finden. Die guten Bürger hatten sämtlich ihre Türen für die Polizei geöffnet, um unzweifelhaft ihre Unschuld am Verbrechen zu beweisen. Und obwohl der Polizeichef selbst das Haus der Shaws gesichtet hatte, waren die Dörfler mit jedem Tag, der ins Land ging, mehr davon überzeugt, dass sie die Schuldigen sein müssten. Was hatten sie mit dem Jungen gemacht? Was hatten sie dem Kind angetan?
Wie es nun einmal nach einer gewissen Zeit üblich ist, wurden die Ermittlungen eingestellt. Doch damit war der Geschichte kein Ende gemacht; die Wut der Dörfler wuchs stet und brach sich unweigerlich an einem bewölkten Donnerstag Bahn. Zur Meute rafften sie sich auf, bewaffneten sich mit allem, was sie griffbereit hatten, und stürmten das abgelegene Anwesen. Die Polizei reagierte zu spät und es gab auch nicht genug Beamte in dem kleinen Dorf, um den wütenden Mob zu zähmen. Die Ordnungshüter bekamen keine Chance, zu verhindern, dass die Menschen die gesamte Familie Shaw krankenhausreif prügelten.
Irgendjemand besaß die Geistesgegenwart, einen Krankenwagen zu rufen. Man brachte die siebenköpfige Familie so schnell als irgend möglich ins nächste Hospiz, doch für Frau Shaw kam jede Hilfe zu spät. Man bangte volle zwei Tage um eine der Zwillinge, die nur mit Müh über den Berg kam. Dieser gewalttätige Dammbruch erschütterte das ohnehin schon traumatisierte Dorf. Sobald die Familie Shaw einigermaßen genesen war, packte sie in Hast ihre Sachen und verließ das Dorf, um weit weg zu gehen und ein neues Leben an einem hoffentlich besseren Ort zu beginnen.
Es brauchte seine Zeit, aber irgendwann kehrte wieder Ruhe im Dorf ein. Das Anwesen der Shaws stand leer, denn jeder potenzielle Käufer, der hörte, was hier vorgefallen war, machte schnell einen Rückzieher. Jahre zogen ins Land. Das Verschwinden des kleinen Jungen wurde zwar nie vergessen, doch zumindest verdrängt; man verlor kein Wort mehr darüber. Es war im frühen Herbst, lange nach dem Vorfall, dass der engagierte Polizeichef eines natürlichen Todes verstarb.
Da er keine Familie hinterließ, übernahm es die Gemeinde, seinen Nachlass zu verwalten und seine Privatsachen aus seinem Haus zu holen. Sie trugen Kisten hinaus und räumten den Speicher. Das Haus war schon fast leer, als man sich dem Keller zuwandte. Dieser war mit einem starken Schloss gesichert, das man extra aufbrechen musste. Doch die Dörfler taten es und stiegen in ein finsteres Loch hinab, in dem sie – zu ihrem Schrecken und Entsetzen – die verrottete Leiche eines Kindes fanden.
Im Dorf gab es keinen Pathologen, was der Grund dafür war, dass die Polizeidienststelle den Fall an die Behörde der nächst größeren Ortschaft verwies. Der dortige Pathologe bestätigte die allgemeinen Befürchtungen wenige Tage darauf. Es dauerte nicht lange, da stand es in der Zeitung.
Kaum zwei Wochen nach dem Fund kam ein junger Mann ins Dorf. Bei sich hatte er ein Abrissteam mit schweren Maschinen. Sie fuhren den Hang hinauf zum alten Shaw-Anwesen. Den Menschen entging das natürlich nicht und sie fragten nach, wer er sei, dass er sich diese Handlung erlauben könne. Der junge Mann, der einige schlimme Narben im Gesicht hatte, erklärte ihnen nachdrücklich, dass er der älteste Sohn der Shaws war. Er sähe es als seine Pflicht an, dieses Haus zu vernichten, das seiner Familie nur Kummer gebracht hatte; der Fall war aufgeklärt, die Unschuld der Shaws bewiesen und seine Mutter verdiene ihren Frieden. Er gab den Befehl zum Abriss.
Die Dörfler kehrten in ihre Häuser zurück. Die Entdeckung des Mörders wurde zwar nie vergessen, doch zumindest verdrängt; man verlor kein Wort mehr darüber.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2013.
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Klartext
von Norbert van Tiggelen
Klare Texte aus dem Pott...
…Frei von der Leber weg spiegelt van Tiggelen sein Leben in seinen Gedichten wieder in einem charmanten Stil der den kleinen Mann der Straße ebenso anspricht, wie den Mann in der Limousine. Wahrheit muss nicht teuer sein, sie muss nur vom Herzen kommen.
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