Wolfgang Letz

Der Teddybär


Zu spät geboren,
um zu verhindern –
nicht zu spät,
das Unfassbare zu begreifen
und zu trauern. -
Ich verneige mein Haupt
in stillem Gedenken
der Opfer
der Deutschen
Leidkultur

In Erinnerung an meinen Besuch der Großen Synagoge
Essen, den 15.März 2001





Vorwort




Für die folgende Erzählung gab es zwei ausschlaggebende Momente: zum Einen war das ein Besuch  der Alten Synagoge in Essen, zum Anderen eine kurze Begegnung mit einer älteren Dame auf dem Essener Hauptbahnhof.

Auf meinem täglichen Gang zwischen meiner Wohnung und dem Baubüro blickte ich immer, im Vorübergehen, auf einen ehrwürdigen, großen Kuppelbau, der Alten Essener Synagoge. Jedes Mal, wenn ich dieses Gebäude betrachtete, nahm ich mir vor,  einmal hineinzugehen.
Als es mir endlich gelungen war, das Büro etwas früher, als üblich zu verlassen, setzte ich meinen Entschluss in die Tat um.

Beim Betreten der Synagoge bemerkte ich, dass sie eine Gedenkausstellung beherbergte, es waren viele alltägliche Gegenstände, Habseligkeiten deportierter Essener Juden ausgestellt.
Leider war das Gebäude nur bis 18 Uhr geöffnet, so dass ich nur wenig Zeit fand, mir die Gegenstände anzusehen.
 
Trotz der Kürze der Zeit empfand ich allerdings eine überwältigende Wirkung, die aus den Sachen zu mir herüber strömte, verstärkt durch die Umgebung, von der ich eingeschlossen war: dem gewaltigen Kuppelsaal und der absoluten Stille. Aber gerade die Stille war es,  die mich, aus den Zeugnissen unserer Vergangenheit, einen unbeschreiblich ausdrucksvollen, ja in das Herz hineinstechenden,  stummen Schrei hören ließ.

Obwohl mir die Gräueltaten unserer Vergangenheit durch Bücher, den Geschichtsunterricht und dem Besuch eines Konzentrationslagers  bekannt waren, so musste ich doch feststellen, dass die Betrachtung dieser Habseligkeiten einen noch viel tieferen, innigeren, Schmerz auslösten, war doch mit jedem Gegenstand nicht nur ein Menschenleben eng verbunden. Hier war nicht die unvorstellbar hohe Zahl der Opfer gegenwärtig sondern da waren einzelne Menschenschicksale zum greifen nahe und zu fühlen.
Ich spürte die Gegenwart der Menschen, die diese Gegenstände besessen hatten, Sachen, die nicht Reichtum und Wohlstand, sondern eher Bescheidenheit und ein einfaches Leben ausdrückten.

Wie oft habe ich mir, wohl aus großer Liebe zu meinen Kindern, vorgestellt, dass ich mit meiner Familie in einem Konzentrationslager ankomme, ich sehe, wie meine Frau und meine Kinder von mir getrennt werden, ich sehe ihnen nach, wie sie, sich bei den Händen haltend, weggeführt werden, ich sehe, wie sich meine Kinder ein letztes Mal zu mir umdrehen und die Hand nach mir ausstrecken. Ich blicke ihnen nach, wissend, dass ich sie in diesem Moment wahrscheinlich das letzte Mal gesehen haben werde.
Und ich fühle den Schmerz, fühle wie mein Körper sich aufbäumt und dann erstarrt, ich fühle die Ohnmacht und stelle die Frage: warum? - -


Der Teddybär

ich saß, wie an jedem Freitag, auf dem Bahnsteig 6 und wartete auf meinen Zug, der mich von Essen nach Wolfsburg bringen sollte. Es war ein wunderschöner Märztag, blauer Himmel und eine, schon kräftig strahlende Sonne.
Das Warten auf den Zug erzeugte in mir immer ein wunderbares Glücksgefühl, denn die Freude, nach 5 Tagen der Abgeschiedenheit meine Kinder und meine Frau wiederzusehen und eine kurze Zeit wieder ein Familienleben zu spüren, war übergroß. Ich hatte zwar ein phantastisch laufendes Bauvorhaben in Essen zu betreuen, aber an den Abenden verspürte ich doch immer eine bedrückende Einsamkeit.
Eine obligatorische Bockwurst essend, beobachtete ich die Tauben, die mit vorwärts- abwärts zuckendem  Kopf nach Brotkrümeln suchten, die Fahrgäste, die mit großem oder kleinem Gepäck wartend auf- und abschlenderten.

Eine ältere Dame näherte sich und nahm neben mir auf der Bank Platz. Sie wirkte sehr vornehm, war elegant gekleidet, mit einem sehr breitkrempigen, schwarzen Hut, der Ihr Gesicht beschattete. Auffallend war aber ein kleiner  Teddybär, der aus einem Seitenfach ihrer Reisetasche herausragte. Ich konnte nur seinen Hinterkopf und die Ohren sehen, aber es genügte zur Feststellung: dieser Bär war schon sehr alt.
Irgendwie regte diese Situation meine Fantasie an  und ich grübelte, was dieser Teddy wohl für eine Geschichte haben könnte.
Es ist ja nicht alltäglich, dass ältere Menschen so offen mit einem Kinderspielzeug auf Reisen gehen.

Um 12:45 Uhr, pünktlich wie fast immer, fuhr mein ICE in den Bahnhof ein. Ich nahm Platz, setzte die Kopfhörer auf  und stöpselte sie in das bordeigene Radionetz ein, kramte Tabak und Pfeife hervor und machte es mir mit meiner Bahnlektüre, „Die Säulen der Erde“, ein Weihnachtsgeschenk meiner Tochter, gemütlich.
Bei einem kurzen Blick über das Buch hinaus, stellt ich fest, besagte ältere Dame saß, eine Sitzreihe von mir getrennt, mir gegenüber. Unsere Blicke trafen sich nur kurz, aber ich konnte ein freundliches Lächeln in ihrem Gesicht erkennen. Auf dem freien Platz  neben ihr stand die Reisetasche mit dem Teddybär.
Ins Buch vertieft, leichte Rauchwolken ausstoßend, verging eine gute Viertelstunde und wir erreichten Dortmund.
Fahrgäste stiegen ein und ich sah, dass die ältere Dame aufstehen musste, vermutlich hatte sie sich auf einen reservierten Platz gesetzt  und der rechtmäßige „Besitzer“ ist nun in Dortmund zugestiegen.

So ergab es sich, dass wir, wie schon vorher auf dem Bahnhof, nebeneinander zu sitzen kamen.
Schicksal, dachte ich, und deutete fragend auf den kleinen Teddybären. ´Tja´, sagte sie, ´der ist schon sehr alt, ja sogar 2 Jahre älter als sie selbst und seit sie ihn bekommen hat war sie niemals ohne ihn gewesen, er hat sie auf allen Reisen begleitet´.
Sie fing nun an, in einer Zeitschrift zu blättern und ich verstand dies als Aufforderung mich wieder meinem Buch zu widmen.
Nachdem ein freundlicher Schaffner wegen der Fahrscheinkontrolle unsere Lektüre unterbrochen hatte, kam ich mit meiner Nachbarin doch noch ins Gespräch.
Ihre vornehme, aber zugleich ausgesprochen herzliche, Art war es, die mich fesselte und als ich erfuhr, dass sie erst in Hannover aussteigen würde, freute ich mich auf eine angenehme, unterhaltsame Fahrt, obwohl ich bei meinem Roman gerade wieder einmal auf eine nervenzermürbende, spannende, Stelle gestoßen war.
Während wir so plauderten, teilte uns eine unüberhörbare Lautsprecherstimme mit, dass uns das Mitropa- Team im Speisewagen freudig erwarten würde und Apfelkuchen samt – Heißgetränk! -  zu günstigsten Konditionen anböte.
Daraufhin sah mich meine Nachbarin mit einem fragenden, fröhlichen Lächeln an und sagte, dass sie zwar kein –Heißgetränk -, wohl aber gerne ein Glas Sekt trinken und mich dazu einladen würde. 
Ich willigte unter der Voraussetzung ein, dass ich bezahlen dürfe und wir baten eine vertrauenswürdig aussehende Mitreisende, unser Gepäck im Auge zu behalten.
So schlängelten wir uns durch den, wie jeden Freitag, überfüllten Zug, vorbei an dutzenden, auf dem Boden kampierender Bundeswehrsoldaten, hin zum Bordrestaurant und, da alle Plätze  besetzt waren, weiter in das Bistro und stellten uns an einen Tisch.
Ich bestellte 2 Pikoloflaschen, erschrak über den Preis (lies es mir jedoch nicht im Geringsten anmerken), goß unsere Gläser halbvoll ein und prostete ihr lächelnd zu.

 „Ich liebe diesen Pfeifentabakgeruch“ sagte sie und blickte dabei mit leicht gesenktem Kopf auf ihr Sektglas, „meine Eltern hatten einen wunderschönen kleinen Tabak- und Spirituosenladen in der Friedrichstrasse, in Berlin, mein Vater hatte diesen Laden in den sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahren“ von meinem Großvater, kurz vor dessen Tot übernommen.
Im ganzen Geschäft roch es herzhaft nach den unterschiedlichsten Tabaksorten, Zigarren und Zigaretten.  Über diesem Laden hatten wir eine  große, helle Wohnung und wenn ich mich weit aus dem Fenster lehnte, konnte ich bis zu den „Linden“ herübersehen.“
Sie machte eine kurze Gedankenpause, hob den Kopf und blickte mir in das Gesicht.
„Sind Ihnen auf dem Weg zum Speisewagen auch einige völlig kahl geschorenen Bundeswehrsoldaten aufgefallen?“ fragte sie mich und fuhr mit gesenktem Blick fort: „diese kahlrasierten Schädel haben für mich bittere Erinnerungen.“ Sie drehte bei diesen Worten langsam das Sektglas und betrachtete die dabei entstehenden Lichtreflexe auf der Tischplatte.
„Wie oft habe ich sie gesehen, wenn sie vom Stadtschloß aus in Richtung Brandenburger Tor marschiert sind, Fackel tragend und Parolen grölend. Es war abstoßend  und gefahreneinflößend zugleich.“

Sie machte eine Gedankenpause und fuhr fort: „Was ist nur los in Deutschland? Dieses Land wurde doch nach dem 2. Weltkrieg wie kein anderes Land, trotz der Gräueltaten, der Massenvernichtung und der weltweiten Zerstörung, gefördert, ja- eigentlich belohnt und zu einer Wirtschaftsweltmacht ausgebaut. Aber statt Dankbarkeit, werden auch heute wieder völkerverachtende Parolen verbreitet, Menschen auf offenen Strasse verfolgt, gequält und erschlagen, Taten, an die ich mich, obwohl ich zur Zeit des 3. Reiches noch ein Kind war, nur allzu sehr erinnern kann.“
„Tja, - ´ich bin stolz ein Deutscher zu sein´ -“ zitierte ich unsere Parlamentarier und fügte sarkastisch hinzu: „und es ist schon denkwürdig, bei unserer Vergangenheit noch von einer „Leitkultur“ zu sprechen.
Ich jedenfalls bin mir nicht so sicher, ob ich stolz auf meine  Abstammung sein soll. Worauf sollte sich der Stolz auch beziehen?

Nehmen wir einmal den Amerikaner: 
Der Amerikaner ist maßlos Stolz darauf, ein Bürger der Vereinigten Staaten zu sein. Was ist aber der Amerikaner? Sind es nicht Engländer, Holländer, Deutsche, Franzosen, Italiener und viele Völker mehr, die vor über 200 Jahren nach Amerika ausgewandert sind, ein Land besetzt und Millionen Ureinwohner vernichtet haben? Ist das wirklich die Basis für vaterländischen Stolz?
Und wir Deutschen, sind wir nicht auch ein Gemisch aus - was weiß ich - Westgoten, Hunnen, Römern, Franken, Dänen, Schweden und vielen anderen Völkern, die waffenschwingend dieses Land besucht haben?
Es sind doch so viele Völkerstämme durch Germanien gezogen und haben dabei, so denke ich jedenfalls, sicherlich viele Kinder hinterlassen – unser aller Vorfahren.
Oder sind es die Küsten, die Berge und Seen, die Wälder und Städte, die mich mit Stolz erfüllen sollen? Wenn die so einmalig sind, dann frage ich mich, warum gerade der Deutsche in der Urlaubszeit fluchtartig das Land verlässt um an fremden Küsten sich von seiner heimatlichen Sphäre zu erholen. Ich kann also nicht genau erkennen, worauf dieser Stolz gegründet sein soll, zumal diese Aussage keine geschichtliche Abgrenzung kennt, das heißt, das ich auch Stolz auf die Verbrechen  unserer Vergangenheit sein müsste, den 2. Weltkrieg, in dem durch uns  Deutsche 55 Millionen Menschen grausam umgekommen sind.“

„Sie dürfen jedoch, bei Allem nicht vergessen, dass auch andere Völker schwere Verbrechen begangen haben. Denken Sie einmal an die Portugiesen und Spanier, die unter dem Zeichen des Kreuzes viele Völker Mittelamerikas ermordet und beraubt haben und vergessen Sie dabei nicht die Gottesmänner der ’Inquisition der Heiligen Römischen Kirche’, die in pervers brutaler Weise Menschen lustvoll gefoltert,  getötet und deren Reichtümer für den ‚Stellvertreter Gottes’ requiriert  haben.
Aber im Gegensatz zu Deutschland, bewart man bis heute Stillschweigen über die Verbrechen der Kirche und bis heute hat sie, sowohl ihre Macht als auch den erbeuteten Reichtum, erhalten.“

„So gesehen stellt sich natürlich die Frage“, antwortete ich, „unter welchem Kreuz wohl die größeren Verbrechen begangen worden sind, zumindest gemessen an der Qualität sind die Verbrechen, die unter den beiden unterschiedlichen Kreuzen begangen wurden, kaum zu unterscheiden.
Solche Gedanken dürfen uns aber, so meine ich, niemals von unserer unheilvollen Vergangenheit reinwaschen.“

 „In dieser, wie Sie sagten, unheilvollen Vergangenheit, bin ich aufgewachsen, ich habe als Jüdin die schmerzlichen Erfahrungen gemacht, ausgeschlossen und entrechtet zu werden, wie eine Eisscholle auf der man steht und an der täglich ein Stückchen abschmilzt, bis man eines Tages im kalten Meer versinkt, so habe ich es gefühlt. Fast jeden Tag haben wir erfahren, daß jemand aus unserer Nachbarschaft abgeholt worden ist oder es geschafft hat, ins Ausland zu emigrieren. Viele unserer Mitmenschen, die Deutschland geliebt, bereichert und gefördert haben, verschwanden, die Wenigsten habe ich nach dem Krieg wiedergesehen."

„Wenn ich an diese Zeit denke“ sagte ich, „habe ich ein ganz bestimmtes Bild vor Augen: ich sehe Deutschland als großen, stolzen, Heißluftballon, die Gondel, das ist das Land in dem die Bevölkerung sitzt, der Ballon, das Produkt aus der geistigen und körperlichen Kraft des Volkes, die Halteseile, das sind die herausragenden Menschen, Politiker,  Unternehmer, Mediziner, Wissenschaftler, Künstler, das sind Menschen, wie  Bismarck, Siemens,  Sauerbruch, Liebermann, Einstein, Goethe, Kant und Bach.
Und irgendwann ruft dann jemand aus dem Volk: „wir brauchen keine jüdischen Halteseile“ und man beginnt die „jüdischen“ Seile zu durchtrennen.
Erst sind nur wenige dabei, aber es werden immer mehr, die sich dem Aufruf anschließen. Viele wichtige Halteseile werden durchtrennt und plötzlich beginnt der Korb zu kippen, das Heißluftgebläse rutscht weg und fällt herunter. Nun fängt der Ballon an zu sinken, erst langsam, dann immer schneller.
Hastig beginnt man Ballast abzuwerfen, doch der Korb sinkt unaufhaltsam, schlägt hart auf dem Boden auf und zerbricht.
Viele werden durch den Aufprall getötet oder schwer verletzt, nur wenige überleben - und - die Ballonhülle schwebt langsam hernieder und breitet sich wie ein Leichentuch über alles aus.“

Meine Gesprächspartnerin senkte ihren Blick auf ihr Glas, setzte es behutsam an die Lippen und trank den kleinen, noch verbliebenen Schluck aus, nickte langsam und forderte mich auf, wieder unsere Plätze aufzusuchen.

An unserem Platz angekommen, überprüfte sie unauffällig ihr Gepäck, nahm eine Zigarette, zu der ich ihr Feuer reichte, blies eine leichte Rauchwolke gen Wagendecke und sagte: „ihre bildliche Deutschlandbeschreibung gefällt mir, sie macht sehr deutlich, was sich dieses Land selbst angetan hat.
Den Schmerz aber, den wir erlitten haben, kann niemand in einem Bild oder einer Beschreibung wiedergegeben, das ist genauso unmöglich, als wolle man den Tot beim Sterben beschreiben – ich will damit sagen, wer es gefühlt hat weiß es, die anderen können darüber nur spekulieren.
 
Vorhin hatten Sie mich nach dem Teddybär gefragt. Dieser Bär gehörte meiner Schwester, Hannah, sie war 2 Jahre älter als ich und hatte diesen Bären von unsere Großmutter zu ihrer Geburt bekommen.“

Sie machte eine kurze Pause. Ihr Blick war dabei starr auf den Bären gerichtet und  ich merkte, es fiel ihr schwer, weiterzusprechen. Zögernd fuhr sie fort:
„ ich war gerade 7 Jahre alt geworden, als auch wir abgeholt wurden: mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, meine Großmutter und ich. Als wir unsere Wohnung verließen, sah ich noch, wie die Nachbarn in unsere Wohnung gingen, vermutlich haben sie sich unserer Sachen angenommen.

Man fuhr uns auf einem offenen Lastwagen durch die Stadt zum Bahnhof Grunewald. Hier standen schon viele Menschen beisammen, dicht gedrängt, denn der Bahnsteig war sehr schmal. Viele Soldaten passten auf, dass niemand flüchten konnte und manchmal schlugen sie sogar mit dem Gewehrkolben auf die Männer ein. Ich hatte furchtbare Angst und hielt die Hand meiner Mutter ganz fest um sie nicht in diesem Gedränge zu verlieren. Mein Vater trug meine Schwester auf den Schultern, sie hatte Fieber und war zu müde um selbst laufen zu können.
Wir wurden mit vielen anderen Menschen in einen Bahnwaggon getrieben und kamen, hier muß man ja aus heutiger Sicht sagen, glücklicher Weise, nach Theresienstadt.
Es war ein sehr kalter, regnerischer Novembertag als wir den Zug bestiegen, der Waggon war sehr zugig und wir froren, denn wir hatten  in der Eile nur wenige warme Sachen einpacken können.
Fast dunkel war es im Wagen, Babys schrien vor Hunger, viele Ältere weinten, beteten oder saßen, wie abwesend wirkend, angelehnt an der Seitenwand auf dem spärlich mit Stroh bedecktem Boden.
Die Fahrt dauerte sehr lange, fast 2 Tage, oftmals unterbrochen durch stundenlanges Stehen auf einem Seitengleis oder an einem Bahnhof.
Als wir in Theresienstadt  ankamen, wurden uns Schlafplätze in den Baracken zugeteilt und, obwohl  wir alle sehr durstig und hungrig waren, schliefen wir doch vor Erschöpfung schnell ein.

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, fiel Schnee und  ein eisiger Wind kam auf. Meine Schwester hatte eine sehr schwere Grippe bekommen, sie hatte hohes Fieber und war trotz der Kälte naßgeschwitzt. Ein älterer Arzt, der mit uns zusammen aus Berlin angekommen war, untersuchte sie und machte ein sehr besorgtes Gesicht. Er sprach flüsternd mit meinen Eltern, aber ich hörte wie er dabei etwas von schwerer Lungenentzündung sagte.
Da er keine Medizin bekommen konnte, machte er ihr kalte Umschläge um das Fieber zu senken.

Am folgenden Abend setzte bei meiner Schwester ein schwerer Husten ein und ihr Atem ging in ein verkrampftes Keuchen über.

Meine Mutter saß bei ihr und hielt ihre Hand fest an ihr Gesicht gedrückt.
So muß sie die ganze Nacht bei ihr gesessen haben, denn, als ich am Morgen aufwachte, hielt sie noch immer die Hand meiner Schwester fest umschlungen und weinend sagte sie mir, das Hannah in den Morgenstunden gestorben ist.“--

Während sie mir so ihre Geschichte erzählte, hatte sie den Teddybären aus dem Netz geholt und streichelte mit einem abwesenden Blick über sein kärgliches Fell.---

„Wir durften unsere Toten nicht bestatten – wir mußten sie auf die Strasse legen, dort wurden sie mit einem Leiterwagen abgeholt, so - als würde man - den Hausmüll entfernen.--

Haben Sie Kinder?“ fragte sie mich und als ich nickend antwortete, fuhr sie fort „können Sie sich vorstellen, ihr totes Kind auf die Strasse zu legen, damit es  - wie Müll abgeholt wird?“
Ich schüttelte den Kopf, der Gedanke daran schnürte mir die Kehle zu.

„So trugen wir meine Schwester auf die Straße, meine Mutter legte ihr die beiden Hände gekreuzt auf die Brust und den Teddybären dazwischen. Mein Vater versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber die Tränen verschluckten seine Worte.--

Man hob sie später auf, indem man sie bei den Schultern und den Beinen packte und  warf sie dann auf den Karren.
Dabei rollte das Bärchen herunter und blieb am Bordstein liegen. Als die Leute sich mit dem Karren entfernt hatten, lief ich auf die Straße, nahm den Teddybären und presste ihn fest gegen mein Gesicht, so als würde ich meine große Schwester drücken“---

Sie kramte in ihrer Handtasche, holte ein Papiertaschentuch heraus und - wie eine Mutter ihrem Kind – so tupfte sie mir, einem erwachsenen Mann, meine Tränen ab.

„ Seien Sie glücklich und dankbar,“ sagte sie, „daß Sie mit ihrer Familie in dieser Zeit leben dürfen, verzweifeln Sie niemals aus materiellem Anlaß, denn nur der Verlust eines geliebten Menschen ist wirklich endgültig und schmerzvoll, besonders, so wie ich ihn erlebt habe.“ --

Als sie in Hannover ausstieg, blickte ich ihr lange nach, ihr und ihrem Teddybären, der wieder aus dem Seitenfach ihrer Reisetasche lugte. Es waren 2 bewegte Stunden die ich mit ihr verbringen durfte, Stunden aber, die mich sehr nachdenklich gemacht haben.




***



Nachwort


Diese Erzählung ist frei erfunden, sie wurde aber beeinflusst durch meinen Besuch in der Alten Synagoge, bei der Betrachtung der Habseligkeiten von Menschen, die einzig aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit vernichtet wurden.

Wahr jedoch ist die Begegnung mit der ältere Dame und ihrem Teddy, ich habe sie wirklich auf dem Bahnhof getroffen – aber -  vielleicht ist es ja tatsächlich ihre Geschichte, die ich, in Erinnerung an unsere Vergangenheit gleichsam all´ Denen widmen möchte, die auch heute noch in Deutschland aufgrund  ihrer Abstammung, Hautfarbe oder auch nur wegen ihrer Obdachlosigkeit auf offener Straße verfolgt, misshandelt und sogar umgebracht werden.......


 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Wolfgang Letz).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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