Manfred Bieschke-Behm

Die Tür



Winston Smith bemerkte, als er den Raum durch die große Doppelflügeltür betrat, wie sich ganz langsam Staubpartikel auf den Fußboden niederließen. Er sah sich um und beobachtete wie sich kleinste Staubkörner auf die ihn freundlich anlächelnden zwei Engelsköpfe, die den Türrahmen zierten, festsetzen. Die geschnitzten Köpfe besaßen weit aufgerissene Augen, die, so glaubte er, ihn beobachteten und in seinem Tun verfolgten. Fast zufällig entdeckte er noch eine widerlich grinsende Teufelsfratze, die den aufwendig aber überladen geschnitzten türeinfassenden Rosenholzrahmen dekorierte.
Die Sonne , die es  nur mit Mühe schaffte einen Sonnenstrahl durch die Butzenglasscheiben eines der drei großen Fenster, die sich  an der gegenüberliegenden Wand zur Tür befanden, hindurch zu drücken, ergab ein irreales Bild. Winston Smith verfolgte mit starren Augen den staubdurchwirkten Sonnenstrahl und bemerkte, dass der Lichtstrahl genau dort wo sich Engelsköpfe und Teufelsfratze befanden, endete. Plötzlich glaubte Winston Smith in dem staubdurchwirkten Sonnenstrahl einen Erinnerungsschweif zu erkennen. Sofort wurde im klar, wie er die makabere Situation zu deuten hatte. Es war das Gebot der Stunde sich daran zu erinnern, was sich vor Jahren in sein Gehirn eingebrannt hatte: Schutzengel - er glaubte das die beiden Engelsköpfe Schutzengel darstellten – helfen beim Verarbeiten schmerzhafter Erinnerungen und der Teufel ist das Symbol für das Feuerschüren schmerzender Lebensgeschichten.
 
Winston Smith wollte, ja er musste vergessen, wollte er in Frieden weiterleben. Er war sich aber auch bewusst, das Vergessen allein nicht ausreicht um Belastendes loszuwerden. Wieder einmal fühlte sich Winston Smith als sein eigener Gefangener dem mit schmerzhaft spürenden Eisenfesseln an den Füssen, ein uneingeschränktes vorwärtskommen unmöglich war. Wieder einmal war er in der Situation, dass seine Vergangenheit ihn einholte und damit die Gegenwart unerträglich machte.
 
Plötzlich vernahm Winston Smith ein Geräusch. Aufbrausend, durchdringend, machtvoll, zügellos, angst einflößend. Den scheußlichen Wind, den er noch vor wenigen Minuten vor dem Betreten des Haus unangenehm am ganzen Körper spürte, hatte sich zu einem unkontrollierten Sturm entwickelt. Mächtig versuchte sich das Ungetüm Einlass in den mit schweren dunklen Eichenmöbeln vollgestellten Raum zu verschaffen. Wie wild drückte der aufbrausende Sturm gegen die Butzenglasverzierten Fensterscheiben. Das mittlere der drei Fenster war besonders kunstvoll ausgestattet. Aus vielen farbunterschiedlichen bleiverglasten Glasmosaikteilen war eine Mittelalterliche Szene dargestellt. Winston Smith glaubte die Hinrichtung eines Ketzers zu erkennen. Gerade, als er auf die Nachbildung des brennenden Scheiterhaufens blickte, fielen Flammen darstellende Glasteile aus ihrer bleiumschlossenen Bestimmung laut klirrend auf den Boden. Winston Smith war zu Tode erschrocken. Unsicher blickte er auf die feuerroten Scherben die verstreut auf den mit Intarsien ausgestatteten Holzfußboden lagen. Er glaubte das Züngeln von Flammen wahrzunehmen. Erschrocken wich er zurück, denn er wollte auf keinen Fall den Flammen zum Opfer fallen. Nachdem er sich versichern konnte, dass es sich nicht um tatsächliche Flammen handelte blickte er auf das beschädigte Fester. Winston Smith entdeckte ein großes Loch im Fenster. Sofort spürte er einen unangenehm kühlen fast schmerzenden Luftzug in seinem Gesicht. Schützend bedeckte er mit beiden Händen sein Gesicht und wandte sich angewidert ab. Nachdem er sich beruhigt hatte, richtete er Hilfe suchend seinen Blick auf den rosenholzverzierten Türholzrahmen. Irrte er oder war es Wirklichkeit? An der Stelle, wo ihn bis vor kurzem noch eine Teufelsfratze grimmig glotzte, befand sich jetzt ein mild lächelnder dritter Engelskopf. Dieser hatte seine Augen geschlossen. Was hatte das zu bedeuten?  
Winston Smith fand keine Antwort. Noch einmal blickte er irritiert zum beschädigten Fenster um festzustellen, dass es keine Beschädigung gab. Auch die feuerroten Scherben, die eben noch zu seinen Füssen lagen, gab es nicht mehr. Sein Gesicht, das gerade noch schmerzhaft empfunden wurde, war jetzt warm und entspannt. Der ganze Raum, der ihm anfangs unheimlich war, wirkte auf wundersamer Weise einladend und überhaupt nicht Angst einflößend. Die drei Engelsköpfe im Türbogen gaben ihn Sicherheit. Die sehenden deutete er als aufmerksame Beschützer. Der Engel mit den geschlossenen Augen bescherte ihn innere Ruhe und Frieden.
Gerade als Winston Smith im Begriff war den Raum frei von negativen Gefühlen durch die große Flügeltür zu verlassen, hörte er eine Stimme sagen: „Manchmal ist es gut den Raum seiner Vergangenheit zu betreten, denn nur so ist es möglich seine Wahrheit zu entdecken.“
Winston Smith drehte sich nicht um. Er drückte die schwere Türklinke herunter und verließ den Raum. Er wusste nicht, weshalb er den Raum überhaupt betrat aber er wusste, dass es notwendig war.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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