Der Soldat sah den Mann gleich, nachdem er den ersten Brückenpfeiler passiert hatte. Es war eine von den wenigen Brücken, die noch ganz war, die noch nicht zerbombt war. Direkt neben ihr wuchs Löwenzahn, der mal zu Pusteblumen werden würde. Der Wind stricht zart über die wiesen. Der Mann hatte einen schwarzen edlen Anzug an. Einen, zu dem man normalerweise einen Zylinder trug. Geistesabwesend, einen Grashalm kauend, saß er am Brückenpfeiler.
"Was machen Sie hier?", fragte der Soldat.
"Ich ? Ich warte darauf, das die Sonne untergeht. Und wenn sie dann untergegangen ist, warte ich darauf, dass sie wieder aufgeht."
"Haben sie keine Familie?"
"Ich hatte. Doch sie sind tot. Mein Haus steht auch nicht mehr. Es wurde zerbombt. Die einzigen, die überlebt haben sind Ruschka und ich. Ruschka ist meine Katze müssen Sie wissen. Sie ist schön. Wunderschön. Ich habe sie immer so geliebt. Wie ein Kind. Jetzt ist sie nicht mehr bei mir. Ich habe sie laufen lassen. Glauben Sie, Katzen können für sich allein Sorgen?"
Als er diese Frage stellte, bildeten sich tiefe Sorgenfalten in seinem Gesicht. Er war alt. Seine Mundwinkel hingen herunter. Er sah aus wie jemand, der nicht mehr viel vom Leben erwartet. Doch seine Augen, um die sich auch Falten gebildet hatten, strahlten noch immer in einem fast unnatürlich wirkendem hellblau.
"Ich denke schon."
Erleichterung breitet sich in seinem Gesicht aus. Ihm schien sehr viel an der Katze und ihrem Wohlergehen zu liegen.
"Das ist gut, ich könnte es mir nämlich nie verzeihen, wenn ihr etwas passieren würde."
"Ich kann Sie zu einer Pflegestation bringen, dort werden Sie versorgt."
"Nein, ich bleibe hier."
"Aber Sie können doch nicht hier sitzen bleiben. Sie brauchen doch eine Unterkunft und Nahrung."
"Nein, mir reicht es die Sonne zu sehen, wie sie wandert. Und zu wissen, dass es Ruschka gut geht."
Der Soldat merkte, das er es nicht schaffen würde den alten Mann zu überreden.
Deshalb legte er die Finger an den Helm zum Gruß und ließ ihn allein, diesen alten Mann, dessen einzige Hoffnung es war, das Katzen für sich allein sorgen konnten.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2001.
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