Plötzlich windet sich eine Straßenbahn aus der letzten engen Kurve vor dem Hauptbahnhof, jenem Ort, an dem die Linie Zwei endet. Hastig läuft sie geradewegs auf Steve zu, läuft ihm aber nicht in dessen Arme, die so auffangbereit sind wie die eines routinierten Goalkeeper, der gewillt ist aus einem strammen Schuss eine sichere Beute zu machen. Doch Cindy bleibt spürbar auf Distanz, indem sie seine Arme mit einem leichten Druck an seine Gesäßtaschen zwängt und sagt:
„Steve – sei mir doch bitte nicht böse. Ich...“
„Was soll denn das! Weshalb soll ich dir denn böse sein?“, fällt Steve seiner Auserwählten fassungslos ins Wort. Schutzlos wandern seine schmal gewordenen Augen auf den Gürtel ihrer mit tollen Blümchen drapierten Hose, die besonders gut zu ihrer Figur passt.
„Steve – die Sache mit uns habe ich mir gestern in aller Ruhe nochmal durch den Kopf gehen lassen. Mit uns, mit uns, mit uns, wird das mal nichts!“ Ihre Stimme klingt erregt und doch so traurig.
„Warum denn? Wir haben uns doch so sehr geliebt. Das kann doch nicht dein Ernst sein!“,entschlüpft es dem Munde dieses ansonsten so besonnenen Gesellen zornig.
„Als du mich gestern noch angemailt hast, warst du doch noch Feuer und Flamme, hast mir beteuert, wie sehr du mich doch liebst!“
„Habe ich auch!“, wispert Cindy, deren Kopf sich leicht gesenkt hat, entschuldigend.
„Weißt du Steve – wenn das so stürmisch beginnt, dann wird das mal nichts!“
„Bist du dir da wirklich so sicher? Was ist auf einmal so plötzlich in dich gefahren?“, fragt Steve wild gestikulierend.
„Steve, ich weiß es leider selbst nicht!“
Beide schweigen stur und werfen sich missbilligende Blicke zu.
„Hast du dir etwa einen anderen ausgeguckt?“ Er schluckt mehrfach, um mit aller Macht zu verhindern, dass zahllose Tränen sich unaufhaltsam ihren Weg bahnen.
„Nein Steve, das ist es nicht. Weißt du...Ich hab' andere Vorstellungen von einer Liebe. Liebe spielt sich doch nicht nur im Bett ab. Für mich zählen zuerst die inneren Werte. Das füreinander einstehen, wenn es einem mal grottenschlecht ergeht!“
Der Junge legt tröstend seine wärmende Hand an den Nacken des Mädchens. Doch zügig schiebt sie diese auch wieder zurück.
„Der selben Meinung bin ich doch auch!“
„Daran zweifle ich aber sehr! Ich habe eher das Gefühl, dass du am liebsten noch am selben Tag mich vögeln wolltest. Du warst doch so hammergeil, mindestens genauso geil wie ein Affe!“
Steve schweigt. Am liebsten würde er seinen Endlosfrust inbrünstig in den Himmel schreien,. Doch diese Fähigkeit schien Gott ihm nicht in die Wiege gelegt zu haben. Überbordende Schuldgefühle frisst er meistens bedenklich still in sich hinein. Kann denn der Siebzehnjährige überhaupt nichts mehr auf die Reihe kriegen? Frönte er seine Zurückhaltung, hatten ihn die Mädchen ungnädig abserviert und als er das erste Mal entschlossen aus seiner Haut sich pellte, musste er sich den schrecklichen Vorwurf total geil zu sein, gefallen lassen.
„Steve...Was das Intellektuelle angeht, leben wir doch in zwei total verschiedenen Welten. Du lernst gerade mal Lagerist und ich mache derzeit das Abi und habe außerdem noch vor, Germanistik zu studieren.“
Cindy atmet tief durch und schwört ihm in höchsten Tönen ein:
„Und außerdem möchte ich mal Schriftstellerin werden, keine x-beliebige Nullachtfuffzehn-Autorin, sondern eine gefragte Bestsellerautorin, deren Bücher um die ganze Welt gehen. Und da brauche ich einen coolen Typen,einen, der, wenn es auch mal brennen sollte, nicht gleich Schiss in den Hosen hat."
„Aber das hast du doch nicht erst heute gewusst!“
Er schaut ihr tief in die Augen, die das Geschehene so unscheinbar reflektieren, als gänge es nur um
irgendwelche belanglosen Kinkerlitzchen.
„Cindy!“... Der Junge verliert das Wort und sein welker Blick streut ins Leere.
„Bitte, bitte, bitte! Lass mich doch bitte nicht im Tisch!“, fleht er mit dem letzten Mute der Verzweiflung und legt erneut behutsam seine rechte Hand auf ihre Schulter. Doch Cindy nimmt diese ebenso behutsam – fast schon fürsorglich – wieder zurück. Währenddessen saugen ihre schönen adriablauen Augen einen ebenso schönen, einen weit umspannenden Regenbogen am Himmel, der sich klammheimlich in das tiefe Schwarz jener abziehenden Gewitterwolken, in denen noch einzelne - wunderschön anzuschauende – Blitze zucken, gemogelt hat.
„Schau doch mal zum Himmel! Ist er nicht schön, dieser Regenbogen?“
Aber nur kurz wandern seine todtraurigen Augen hinauf, zu diesem prachtvollen Geschenk der Natur.
„Er ist wunderschön!“, sagt Steve, in dessen Herzen ein winziges Fünkchen der Hoffnung wieder glimmt. Wieso diese Frage? Deutet diese womöglich sogar auf einen plötzlichen Sinneswandel ihrerseits hin?
„Steve! Wenn du willst können wir doch zum Abschied noch ein wenig durch die „Straße der Nationen“ bummeln und in aller Ruhe noch eine Tasse Kaffee trinken, von mir aus auch einen Cappuccino. Oder ein köstliches Eis, das wäre doch noch was!“
„Aber das nur, wenn du nicht von mir gehst!“,stellt Steve mit erdrückender Stimme unmissverständlich klar.
„Da muss ich dich leider enttäuschen!“
Steve schluckt und schluckt, um ja keine Tränen vergießen zu müssen.
„Na dann ist es eben so!“, wimmert das Häufchen Unglück resignierend. Und nun geschieht das, was er mit aller Macht zu verhindern versucht hat. Erste Tränen rollen unaufhaltsam aus seinem Bleichgesicht. Jetzt macht auch Cindy einen todtraurigen Eindruck. Sie schaut hinauf zum Himmel und sagt wieder dieses: „Schau doch mal! An den ersten Regenbogen hat sich sogar noch ein zweiter gereiht.“
Steves legt den Kopf in seinen Nacken. Doch seine von Tränendunst genässten Augen nehmen dieses atemberaubende Geschenk des Himmels nur schemenhaft wahr.
„Ich sehe es!“, lispelt der Junge mit tränenerstickender Stimme.
„Möge diese Regenbögen am Himmel dir jenes Glück bescheren, nachdem du dich immer gesehnt hast!“
Worte, die aus den Tiefen ihres Herzens gedrungen sind?
Er glaubt es ihr schon, zumal er im Stillen erneut mit sich selbst hadert. Vollends verständlich, zumal sich in seinem bisherigen Leben schon zahllose Schicksalsschläge aneinandergereiht haben.
„Und dir möge dir dieser Regenbogen ebenfalls neues Glück schenken!“ Wieder ergießt sich ein Schwall von Tränen aus Steves Augen.
Ausgerechnet in jenem Augenblick, in den wohl schmerzhaftesten Minuten und Sekunden seines noch so jungen Lebens, holpert eine Tram auf total verschlissenem Gleis an die beiden heran.
„Ich nehme jetzt diese Bahn!“, sagt das Mädchen im Brustton der Überzeugung, um den qualvollen Intiutionen, denen Steve momentan hilflos ausgeliefertzu sein scheint, nicht noch neue Nahrung zu liefern.
„Leb' wohl, Cindy!“
„Du auch!“, schluchzt er bedenklich. Ein knapper Handschlag. Cindy steigt ein. Zum Schluss noch ein kurzes Winken. Die Bahn ruckt an, taucht so schnell in die endlosen Weiten der Unkenntlichkeit ein, wie sie aus denen gekommen ist. Schluss! Aus! Vorbei! - Leider leider!
Instinktiv trocknet Steve mit einem Tempo - Taschentuch die Tränenfeuchte aus seinem Gesicht...
Tausende Gedanken durchfluten Steves Kopf – stets auf der Suche nach dem Wieso, Weshalb, Warum! Doch so sehr er sich auch müht. Diesmal findet er wahrlich keine Antwort, denn seine ausgesprochene Schüchternheit kann er diesmal nicht als Grund für dieses neuerliche Desaster geltend machen.
Als er jedoch einen Monat nach diesem erschütternden Ereignis wie immer einen Blick in die örtliche Presse wirft, fällt sein ohnehin schon argwöhnischer Blick rein zufällig auf den Namen Cindy Lingberger.
Steve saugt Worte in sich ein, die ihm besonders schwer im Magen liegen, Worte, die er niemals für möglich gehalten hat, die ihn in absolute Schockstarre versetzen. „Plötzlich und völlig unerwartet ist meine liebe Tochter Cindy von mir gegangen...“
Ungläubig trommelt der Junge mit der Faust auf seine Stirn.
„Um weiterleben zu können, haben ihr die Kräfte gefehlt!“
Für Steve ein klarer Fall! Es kann sich nur um einen Suizid gehandelt haben. Was er jedoch in diesem denkwürdigen Augenblick natürlich nicht wissen kann: Cindy hatte sich eine Woche nachdem sie Steve aus ihren Augen verloren hat, auf eines der beiden Gleise geschmissen und sich vom unaufhaltsam heran rollenden Regionalexpress zerfetzen lassen. Sie wollte sich diesen schier endlosen Leidensweg nicht mehr länger antun. Ihr Vater, ein notorischer Trinker, hatte sich längst aus dem Staube gemacht. Seit dieser unbarmherzigen Zeit des Auseinanderlebens, das sogar noch in einem wüsten Scherbenhaufen ein schreckliches Ende gefunden hatte, war nichts mehr so wie es vorher einmal war.
Selbst der kleinste Fleck, eine unscheinbare Mücke an der Wand – von einer fetten Spinne ganz zu schweigen – genügte, um das Fass zum Überlaufen zu bewegen. Dieses hatte meistens zur Folge, dass sie mit ihrer Tochter ständig im Clinch lag, und selbst hochzischte wie eine Rakete. Cindy begab sich schließlich freiwillig in die Obhut einer Psychotherapeutin. Die erschütternde Diagnose lautete: „Manisch Depressive Erkrankung“!
Doch das alles hatte sie Steve nicht unters Kinn geschoben.
Ein ganzes Jahr später stollte Steve dann doch noch unter die Haube kommen! In seinem Kopf und in seinemHerzen hatte es klick gemacht. Er sucht nun die Ursachen für sein unsägliches Dilemma beim Umgang mit dem schönen Geschlecht nicht ausschließlich bei sich selbst. So droht er wenigstens nicht mehr in Selbstmitleid zu zerfließen wie kaltes Eis in gleißender Sommersonne. Apropo Eis: Im Cafe Venezia hatte er wider Erwartens sein neues Glück gefunden. Als die bildschöne brünette Lara mit einem fabelhaften Lächeln versucht hat, den Schüchternen aus der Reserve zu locken, scheint das Eis endgültig gebrochen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.06.2013.
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