Martin Breuer

Abschied

Abschied

 
Einmal kam eine ältere Dame zu ihm. Sie schritt zögernd auf ihn zu, auf eine Art und Weise, die ihn ihr Unbehagen deutlich anmerken ließ.
Ihre Haut war faltig, ihre Knochen wirkten gebrechlich und ihr Gesicht war blass.
„Gute Frau, sagen sie mir, was ihnen auf dem Herzen liegt, und ich werde sehen, wie ich ihnen helfen kann“, begann der Pfarrer, doch die Frau blieb stumm.
Sie wirkte abwesend. Der Pfarrer wartete und als sie ihre Augen wieder auf ihn richtete, fragte er erneut, diesmal ruhig und leise: „Wie kann ich ihnen helfen?“.
Die Alte schaute ihn mit leeren Augen an und begann zu erzählen. „Mein Mann hat Lungenkrebs. Er wird bald nicht mehr sein, aber ich kann und will nicht ohne ihn.“
Sie sprach diese Zeilen so teilnahmslos, als würden sie sie nicht betreffen. Dann wandte sie langsam ihren Kopf ab und begann zu schluchzen.
Der Pfarrer ging einen Schritt auf die Dame zu, legte eine Hand auf ihre Schulter. „Hören sie gute Frau, was sie erleben, ist der natürliche Lauf der Dinge.
Dass sie nicht damit umzugehen wissen, ist nur menschlich. Dass sie vielleicht an Gottes Gerechtigkeit zweifeln ebenfalls, doch tun sie sich einen Gefallen:
Verlieren sie nicht den Mut. Wie heißen sie gute Frau?“ Sie schaute ihn fragend an und antwortete leise. „Gerber. Es ist der Name meines Mannes.“
Der Pfarrer nickte ihr zu und fragte: „Woher stammt die Perlenkette die sie tragen, wenn ich fragen darf?“. Die Frau schaute ihn irritiert an.
„Frankreich. Paris, meine ich. Sie ist das Hochzeitsgeschenk meines Mannes. Ich trage sie seit, seit eigentlich schon immer.“ Der Pfarrer fuhr fort.
„Haben sie Kinder?“. Die Frau antwortete: „Eine Tochter, vierundzwanzig, und einen Sohn, dreißig, selber schon Vater eines Sohnes.
Der Kleine kommt sehr nach seinem Großvater.“ „Was empfinden sie, welche Bilder gehen ihnen durch den Kopf, wenn sie an ihren Ehemann denken?".
Die Frau setzte sich auf eine der Bänke und dachte nach. Wenig später kam der Pfarrer zu ihr. Sie erzählte „Ich denke an so Vieles.
Ich denke an Urlaube, die Zeit mit den Kindern und vor Allem, an seine Geschichten. Immerzu hat er Geschichten erzählt.
Er wirkte so glücklich dabei, und wir waren es auch. Wieder und wieder erzählte er seine immer gleichen Geschichten und jedes Mal,
fand er ein noch schöneres Wort oder erfand eine weitere kleine Einzelheit. Mein Sohn kennt sie alle auswendig.“ Sie lächelte so glücklich,
wie es nur eine Liebende tun kann. „Was spüren sie?“ fragte der Pfarrer nur. „Ich weiß es nicht. Ungewissheit vielleicht?“ „Sicherlich“, begann der Pfarrer.
„Doch merken sie, wie viel von ihm er doch zurücklässt? Wenn ihr Mann bald von uns gehen sollte, Frau Gerber, so geht nur ein kleiner Teil von ihm.
Sein Körper, seine Knochen werden beerdigt werden, doch ist dies doch nur ein viel kleinerer, unwichtigerer Teil als der der ihnen noch bleibt.
Sie werden Zeit ihres Lebens seinen Namen tragen, sie werden weiterhin seine Kette um ihren Hals hängen haben, sie werden zusehen,
wie ihre und seine Enkel aufwachsen und werden sehen, wie ihr geliebter Mann in seinen Geschichten und in ihren Erinnerungen ihr Leben lang bei ihnen sein wird.
Sei es auch nicht körperlich, so bleibt er im Geiste und haben sie Sehnsucht, so suchen sie nach den Zeichen seines Lebens, sie werden fündig werden.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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