Wolf-Rüdiger Guthmann

Die Maikäferstory

 Mit 11 Jahren bekam ich am linken Oberarm die Pockenschutzimpfung. Der Arzt und zwei Krankenschwestern kamen in die Schule und impften alle in der Aula. Wir wurden zwar darauf hingewiesen, den Arm kräftemäßig zu schonen, aber wer hört als Kind in diesem Alter schon zu und beherzigt die gutgemeinten Ratschläge. Es war Anfang Mai. Die Sonne schien seit Tagen, es waren angenehme Temperaturen und die Bäume waren alle schon grün. Und es war es in jenem Jahr eine Maikäferinvasion, die sich laut Gerücht nur alle 7 Jahre wiederholt. Wir kannten eine gut erreichbare Eiche, die über und über von diesen krabbelnden Tieren besetzt war. Und wir kannten in der Nachbarschaft einen Hühnerhof, dessen zweibeinige Bewohner bestimmt auf diese Käfer warteten. So kam, was kommen musste. Wir konnten es im Unterricht kaum erwarten, dass die Glocke endlich zum Schulschluss läutete. Auf dem Heimweg besorgten wir uns im Tabakwarenladen jeder eine Zigarrenkiste. Diese Schachteln aus dicker Pappe oder dünnem Schälholz hatten einen Klappdeckel, den man nicht verlieren konnte. Unsere Väter, Onkel und Großväter kauften nämlich ihre Zigarren nur stückweise. Und der Händler hatte hinter sich im Regal dutzende solcher Schachteln mit Zigarren aller Größen, Qualitäten und Preisen ausgestellt. Wenn eine Kiste, wie wir sagten, leer war, stellte er sie auf einen besonderen Tisch. An dem kreuzten auch die Lottospieler ihre Zahlen an und zählten später den Gewinn nach. Jedenfalls holten wir mit meinem Freund und Schulkameraden uns jeder so eine Zigarrenkiste und gingen damit auf die lange ersehnte Maikäferjagd. Die Äste der Eiche wurden mit Leibeskräften geschüttelt, die Krabbeltiere eingesammelt und dann an die großen Hühner verfüttert. Andere Lausbuben bei Wilhelm Busch haben sie bekanntlich dem Onkel unter die Bettdecke geschüttet. Aber solche Schandtaten haben wir nicht gemacht. Dafür kam, was noch kommen musste, denn die kleinen Sünden bestraft der liebe Gott sofort. Bei jedem von uns beiden schwoll nachts der linke Oberarm samt Schulter an und wir bekamen hohes Fieber. Die Erwachsenen dachten erst an eine neue Epidemie. Als wir aber einzeln gebeichtet hatten, hieß es “Gleiche Brüder, gleiche Betten”. Wir lagen gemeinsam im selben Krankenzimmer, hatten das gleiche Fieber, schliefen beide wie ohnmächtig und bekamen auch die gleichen Medikamente. Wir mussten viel trinken und von den eingenommenen Medikamenten wurde der Urin leuchtend rot. Unter dem Bett stand für jeden von uns ein schöner gläserner und damit durchsichtiger Nachttopf. „Gleiche Brüder, gleiche Betten?“ Da konnten wir beide auch gleich denselben Nachttopf benutzen. Was auch spitzbübisch geschah. Bei den großen Mengen Tee und dergleichen, die wir trinken mussten, aber auch tranken, war es kein Problem den Topf zu füllen. Und wir haben den Nachttopf solange benutzt, bis er einen Berg hatte. Als die Krankenschwester Charlotte kam, um beide Nachttöpfe zu leeren, stellten wir uns todkrank und fest schlafend. Daher weiß ich nicht, wie sie es angestellt hat, das gläserne Geschirr in den Spülraum zu transportieren. Ich kann mich nur erinnern, dass sie mächtig geschimpft und gesagt hat: „Euch scheint es ja schon wieder besser zu gehen, sodass ich euch gleich entlassen werde. Dann könnt ihr morgen wieder zur Schule gehen.“ Aber dafür fühlten wir uns viel zu schwach. Dafür hörten wir ihr aufmerksam zu, wenn sie uns spannende Geschichten aus Büchern über den U-Boot-Krieg vorlas. Da gab es den Kaleu, der sich beim Smutje beschwerte, dass seine Kaffeetasse nie voll sei. In dem engen schwankenden U-Boot war es unmöglich, die volle Tasse heil durchzubringen. Aber der Smutje wusste sich zu helfen. In der Kombüse füllte er die Tasse und nahm einen kräftigen Schluck in den Mund. Dann eilte er schnell zum Kaleu. Aber vor dem Schott, hinter dem der Kaleu saß, spuckte er die Tasse wieder voll, überreichte stolz die fast überlaufende Tasse und heimste den Ruhm ein. Schwester Charlotte wird doch nicht auch etwa…? Wir lagen bestimmt mindestens eine Woche im Bett. Eine ganz gemeine Strafe für zwei Jungen, die allmählich wieder gesunden. Als wir entlassen wurden, gab es zu unserem Leidwesen leider keine Maikäfer mehr. Ich habe nachgerechnet, wir müssten dieses Jahr an jener Stelle wieder eine Maikäferinvasion haben, wenn das Gerücht stimmt. Ich bin seit jenen Tagen erst einmal dort vorbei gefahren und habe von weitem gesehen, dass die Eiche im Laufe der Jahre so in die Höhe gewachsen ist, dass die Äste und Zweige unerreichbar sind. Deshalb brauche ich diesen Ort hier auch nicht zu benennen. Wer Maikäfer fangen und sammeln will, der suche sich gefälligst eine eigene Stelle mit einer kleinen Eiche. Allerdings sollte er sich beeilen, denn Hubschrauber sollen wegen des Eichenprozessionsspinners die Eichen mit Gift besprühen. Und wenn mein damaliger Kumpel diese Zeilen liest und sich selber wiedererkennt, kann er mir einmal einen kurzen Gruß zukommen lassen. Das Passwort ist der Ort des Geschehens.
 
28.06.2013 ©  Wolf-Rüdiger Guthmann

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