Marcel Hartlage

Das Demutsprinzip

Wenn einer von ihnen in Trainingshose kommt, dann weißt du, dass er neu ist, weil die, die schon länger dabei sind, wissen, dass Trainingshosen dumm sind. Die, die schon länger dabei sind, tragen Jeans oder so, dazu festes Schuhwerk, manchmal mit Stahlkappen, und meist einen dicken Pullover mit Kapuze, wegen dem Rollsplit und den Kieselchen und das alles. Ein paar wickeln sich auch Bandagen um die Handgelenke oder tragen Halbhandschuhe. Schlagringe sind verboten.
Der Neuling trägt eine von Adidas. Die Streifen leuchten wie Warnschilder. Das Publikum jubelt und kesselt ihn und den Anderen ein, klatscht und brüllt, wie eine Horde Hooligans. Die Schatten wedelnder und jubelnder Arme fallen an die Betonwände des Kellers und flackern wie die Silhouetten eines Kaminfeuers, und hin und wieder rotzt und spuckt jemand im Publikum auf den Boden. Ein paar rauchen, andere trinken Bier aus Flaschen oder Dosen oder geben einen Joint rum. Es riecht nach Deo und Schweiß und dem schwülen Dunst von Stickigkeit. Der Typ neben mir hat sich Bier auf die Brust geschüttet und leckt es sich gerade von den klebrigen Fingern.
Dann höre ich, wie sie anfangen. Es beginnt immer ganz plötzlich, ohne viel Getue oder Drumherum. Das Publikum beginnt exzessiver zu brüllen, das Grollen der Jungenstimmen wird tiefer. Daran erkennt man’s meistens.
Ich schaue in den Kreis. Zwei Sekunden Taxierung, zwei Sekunden Überlegung. Dann prescht der Neuling vor und versucht einen Aufwärtshaken. Sein Standfuß bröckelt über den Rollsplit. Der Andere weicht mühelos aus und zieht gleich darauf das linke Knie ran, bis hoch zum Kinn. Die Schnappbewegung folgt. Sein Fußballen trifft den Neuling mittig der Brust, und noch bevor der merkt, wie ihm eigentlich geschieht, stößt er schon ein Röcheln aus und taumelt zwei Schritte nach hinten. Seine Augen sind geweitet, er ächzt mit offenem Mund nach Luft, das Publikum zeigt auf ihn und lacht ihn aus. Jemand rülpst. Bierflaschen klirren. Der Andere macht einen Schritt vor und hebt die Fäuste. Er wartet.
Der Neuling kriegt sich zu fassen, aber man sieht ihm an, dass es wehtut. Ein Frontkick auf die Brust kann, wenn er richtig trifft, ziemlich scheiße sein, sogar verheerend, und ich, ich kann mir beinahe auf Anhieb vorstellen, was dem Neuling in seiner von Schmerz verzerrten Geistesabwesenheit durch den Kopf geht, so wie immer, wenn ich ‘nen Neuen in Trainingshose sehe, und ja, ich hab Mitleid. Der kleine Scheißer hat sich vorgestellt, was glorreiches zu sehen, an was glorreichem und ehrenvollem teilzunehmen, aber jetzt, wo er merkt, dass nichts daran glorreich und ehrenvoll ist, jetzt, wo er mit dem Schmerz konfrontiert wird, nistet sich etwas in ihm ein, und das kann er so wenig verhindern wie das Ziehen in seinem Solar Plexus. Dem Hochmut folgt Schmerz, dann kommt die Erkenntnis, dann kommt die Angst, und dann wird er weich, wie ein Eis, das in der Sonne schmilzt. In dem Augenblick, in dem er nach Luft schnappt, leicht gekrümmt dasteht und zu Boden schaut, in diesem einen Augenblick rasen unendlich viele Bilder durch seinen Kopf – von Vin Diesel aus Fast and the Furious bis hin zu Donnie Yen in Ip Man –, und er erkennt, dass es in echt anders ist, und dass es in echt weder Rechtfertigungen noch Begründungen für einen Sieg gibt und dass nur Erfahrung und Können zählt. Das alles weitet sich in ihm wie der Schmerzimpuls in seiner Brust, so schallwellig wie Wasser, wie wenn man einen Kieselstein in einen Bach wirft.
Unser Neuling gibt natürlich noch nicht auf – was folgt sind ein paar Sekunden Besinnung, dann setzt er wieder an, aber diesmal ist auch der Andere – jetzt, nachdem er den Neuen auf die Probe gestellt hat – zielsicherer, selbstbewusster, und dem Anpirschen folgt ein brüllender Hechtstoß ins Getümmel. Er hastet nach vorn und setzt zwei Geraden an, links, rechts, und beide treffen, weil Neuling nicht schnell genug ist, sie zu parieren; als die Linke seine Wange trifft, duckt er sich noch, da treffen ihn schon die Fingerknöchel der anderen oberhalb der Schläfe. Zwei weitere Schläge folgen, einer auf die Stirn, der andere durch die Armblockade aufs Kinn. Neulings Kopf fliegt hoch, wieder taumelt er zurück, aber der Andere packt ihn schon am Nacken und versetzt ihm einen weiteren Schlag auf die Nase. Jedem seiner Schläge folgen Beifall und Applaus und Gekreische, die Masse steigert sich in einen ekstatischen Rausch – „Ich will Blut sehen!“, schreit einer von ihnen –, und kurz darauf sehe ich, wie dem Neuling zwei dickflüssige, kirschrote Blutfäden von der Nase auf die Lippen tropfen, wie er hechelnd und mit vorgezogenem Unterkiefer dasteht, und einen Moment steht er da wie irgendwer, der sich vollgekleckert hat. Ich glaube, so was ähnliches hab ich mal in ‘nem TV-Spot gesehen, bin mir aber nicht sicher. Ich gucke kein Fernsehen mehr.
Der Rest ist eine Sache von kinetischer Energie, von Unaufhaltsamkeit und Schwerkraft. Neuling hat ausgedient und kann nicht mehr viel tun außer mit schlappen Armen und unsicherem Stand zu blocken, und ich bin nicht mal sicher, ob er das noch bewusst macht. Der Andere gibt ihm noch ein paar Schläge, alle nicht wirklich gravierend, aber dann, als das Blut schon bis auf sein Gesicht spritzt, sehe ich, wie er dem Neuling die Unterarme auf die Schultern legt und den Kopf mit einem Ruck gegen sein Knie haut. Zisch-boom, wie der unmittelbare Einschlag von ‘ner Interkontinentalrakete, und dann segelt unser Freund in Trainingshose nach hinten und fällt endgültig zu Boden. Begleitet wird sein Sturz von Applaus, spöttischem Gelächter und ein paar Aufstöhnern, nach dem Motto Oh mein Gott, das haben wir ja noch nie gesehen, und dann, als er mit flattrigen Augenlidern an die Kellerdecke starrt und die Glühbirne zu beobachten scheint, lachen sie ihn aus, während sie dem Anderen zujubeln und preisen, als hätte er ihnen allen ein Geschenk gemacht. Ich klatsche und juble auch.
„Du bist draußen“, sagt der Andere zu dem Neuen. „Du bist draußen, also verpiss dich.“
Der Neuling stöhnt und hält sich die Nase. Er antwortet nicht und spuckt Blut, stöhnt und spuckt Blut. Er weint nicht, weil Schmerz und Schock das verhindern; seine Augen sind nur ein bisschen feucht, weil sein Nasenseptum verbogen ist, aber ansonsten steht er unter Antitränengarantie. Weinen wird er später.
„Zieh ab“, sagt der Andere noch einmal, lässt seine Fingerknöchel knacken uns sagt es noch einmal. „Zieh ab.“ Ein Paar im Publikum stimmen mit ein und beginnen einen Chor gegen den am Boden liegenden Neuling. Der, noch immer leicht benommen, schafft es nur mühselig, zu realisieren, was passiert, aber mit jeder weiteren Sekunde der Erkennung wandelt sich sein verzogener Gesichtsausdruck von Schmerz in Verzweiflung, und schon bald hat er sich wieder halbwegs gefasst, zumindest soweit, dass die Benommenheit nachlässt. Ich höre, wie er nuschelnd zu betteln beginnt – bitte, bitte nicht, o bitte gebt mir noch eine Chance –, aber das Publikum und der Andere ignorieren ihn, fordern ihn immer nur weiter auf, dass er das Weite suchen soll. „Verpiss dich“, „Verzieh dich“, „Hau ab du Fotze“, dringt es von überall her, und schnell folgen Buhrufe und niederträchtige Herablassungen. Sie brechen ihn, wie seine Nase gebrochen wurde.
Es dauert nicht lange, bis sich unser Neuling in Adidas-Trainingshose aufrappelt und träge Richtung Treppe humpelt. Das Publikum, zu einem Gang geöffnet, schaut ihm hinterher und begleitet seine müden, schlürfenden Schritte weiterhin mit der ununterbrochenen Symphonie der Erniedrigung. Dann, zwei Minuten später, fallen die Luken oben zu, und der Neuling ist in die Nacht verschwunden, zurück an der Oberfläche, zurück im gehobenen Kreise, zurück an der Spitze.
 „Er taucht wieder auf“, sagt der Andere zu mir, nachdem zwei Weitere in die Mitte des Kreises gegangen sind und dem Publikum neue Darbietungen schenken. „Wir werden ihn wiedersehen.“
„Bist du sicher?“, frage ich, obwohl ich weiß, dass er recht hat.
„Ja“, sagt er, und dann schweigen wir und schauen weiter dem Geschehen zu. Ja. Ein simples Ja, und ich weiß, dass es stimmt. Unser Neuling wird wiederkommen. Wenn sie verstehen, dann kommen sie immer wieder, und die meisten tun es, wenn sie sich erneut vor den Fernseher setzten und dem Stunt-Double beim rumkaspern zuschauen oder die Werbespots von Apple oder Nike oder den Playboy-Parfums oder sonst wem verfolgen und sich fragen, was das da überhaupt für ein Scheiß ist, mit dem sie da tagtäglich konfrontiert werden – und dann, wenn sie sich das gefragt haben, dann tauchen sie irgendwann wieder hier unten, ganz unten im Keller auf, am unteren Ende von Allem, und dann, wenn sie das tun, dann haben sie erkannt und verstanden. Dann kommen sie wieder.
Meistens in Jeans.

Eine kleine Hommage an "Fight Club", sowohl an den Film
als auch an das Buch, weil mich die
gesellschaftskritischen Aspekte doch sehr angesprochen,
und vor allem zum Nachdenken angeregt haben.
Marcel Hartlage, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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