Christiane Rutishauser

Noname (Teil 3) (Das geheimnisvolle Zimmer)


Was für eine Blamage. Er hatte tatsächlich den Halt verloren und war auf dem, mit Vogelkot verschmierten Dach, abgestürzt.
Er war der Unsichtbare, der Namenlose, aber doch nicht der Abgestürzte! Andererseits, ein paar Zentimeter mehr, und er wäre tatsächlich vom Dach gefallen wie ein lockerer Ziegel. Das hätte seinen Ruf in der Stadt für alle Zeiten ruiniert.
 
Im Grunde hatte er also Glück gehabt. Aber diese Schmach. Nicht nur die Krähen, sondern auch seine Komplizin hatte den Absturz beobachtet. Jetzt hielt sie ihn natürlich für einen ungeschickten Trottel. Ihr Blick, der zwischen Belustigung und Besorgnis schwankte, traf ihn bei seiner Ehre. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. Er war kein Trottel, es war nur ein dummes Missgeschick gewesen, das ohne seine Verletzung sicher niemals passiert wäre. Hastig strich er mit der Pfote ein paar Mal übers Gesicht, um sich vom Dreck zu befreien und richtete sich dann mit der ganzen Würde und Eleganz, die er zuwege brachte, wieder auf.
 
Vom Rand des Daches hatte er einen freien Blick hinunter auf die Straße und den Platz. Die Buden waren jetzt zusammengebaut und auf einer kleinen Bühne wurden Musikinstrumente aufgestellt. Immer mehr Menschen tummelten sich da unten. Dann sah er, wie sich die schwere alte Haustüre auftat und der Hund und die Rothaarige das Haus verließen. Wahrscheinlich musste der  dumme Hund Gassi. Es war gut, dass er das Haus verließ, denn mit diesem riesigen Fleischkloß hätte er sich nur ungern angelegt.
Jetzt war es an der Zeit, die Chance zu nutzen, welche ihm das geöffnete Fenster  bot. Jetzt oder nie.
 
 
Geschickt balancierte er die Dachrinne entlang und kletterte die paar Meter, die er abgestürzt war wieder hinauf. Was für ein Kinderspiel. Endlich konnte er in die Burg gelangen, denn, dass dieses Haus eine Burg war, bewiesen doch die dicken Mauern und die verschlossenen Türen und Fenster. Es gab so eine Geschichte, die sich die Menschen erzählten, die ihm gefiel.
In dieser Geschichte wurde eine Prinzessin, weil sie etwas falsch gemacht hatte, in einer Burg festgehalten und von einem bösen, Feuer speienden Drachen mit einem nach Schwefel stinkenden Atem und riesigen krallenbesetzten Klauen und einem kilometerlangen gezackten Schwanz, der mit einem Schlag ganze Häuser zerstören konnte, bewacht. Eines Tages kam ein tapferer Ritter, kletterte über die hohe Mauer, besiegte den Drachen und befreite die schöne Prinzessin. Vor allem der Kampf des Ritters mit dem Drachen hatte ihm gefallen.
 
Die Sonne stach jetzt grell auf das Dach herab und blendete ihn, als er sich geräuschlos auf das Fenster zu bewegte. Es war merkwürdig still. Das Zimmer schien verlassen zu sein. Keine Schritte, keine Musik, keine neuen Düfte, einfach nichts. Der Vorhang war zur Hälfte zugezogen und versperrte ihm die Sicht. Er überlegte kurz, ob er es wagen sollte die Prinzessin zu rufen, verwarf diesen Gedanke aber sofort wieder. Vielleicht gab es noch einen Hund im Haus und der würde ihn hören und anschlagen. Er brannte vor Neugierde. Was war in diesem Zimmer? Wo war die Prinzessin? Warum hatte man sie gefangen genommen? Er musste es herausfinden und das konnte er nur, wenn er in das Gebäude gelangte. Vor Anspannung zitternd, schob er sich am Vorhang vorbei und spähte in den Raum, der sehr dunkel wirkte, weil seine Augen noch von der gleißenden Helligkeit auf dem Dach geblendet waren.
 
Er kannte viele Räume. All die Jahre, die er unter den Menschen lebte, hatte er schon viel gesehen: Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer,  Badezimmer, Büros, Musikzimmer, Keller, Dachböden, Lagerhallen, Räume, die allen möglichen und unmöglichen Zwecken dienten, aber das hier, war das seltsamste Zimmer, das er je gesehen hatte.  Eigentlich war es kein Zimmer, sondern ein ausgebautes Dachgeschoss und was er sah war unglaublich.
 
Er starrte in die Gesichter und  die starren Augen eines Hirsches, eines Wildschweines und eines Pferdes, deren Köpfe allesamt an die gegenüber liegende Dachschräge genagelt waren, was ihn darauf schließen ließ, dass sie ganz offensichtlich tot waren. Sie wirkten so erstaunt, als wären sie mitten in einer Bewebung erstarrt, beim Kauen, oder Luft holen, oder so.
 
Unter ihren Köpfen stand eine riesige Gefriertruhe und daneben auf ein Holzgestell gespannt, das noch nicht ganz getrocknete Fell eines Fuchses, an welchem noch der Kopf hing. Anhand des schiefen vorderen Eckzahnes und des eingerissenen linken Ohres, meinte er seinen alten Kumpel, den Stadtfuchs wieder zu erkennen. Jemand hatte ihm sein rotgoldenes Fell einfach so abgezogen wie eine Bananenschale. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Bei den Mülltonnen hinter dem italienischen Restaurant hatte er sich öfter herumgetrieben. Ja, da hatte er ihn vor ein paar Wochen zuletzt getroffen, als er sich die Reste einer Pizza Salami einverleibte. Was für ein Jammer.
 
Es gab noch weitere Tiere, die auf Regalen zur Dekoration ausgesellt waren. Sie waren tot, der Geruch des Lebens haftete nicht mehr an Ihnen, aber sie wirkten so seltsam untot. Da war ein jungen Marder im Laufschritt,  ein sitzendes weißes Kaninchen mit roten Augen, ein glänzender Fisch mit aufgesperrtem Maul, ein bunter Vogel mit einem breiten gekrümmten Schnabel, der seine Flügel ausbreitete und eine zierliche Siamkatze mit einem dunklen herzförmigen Gesichtlein, die ihn aus zwei saphierblauen künstlichen Augen, verträumt anblickte. War das die Prinzessin? Er wollte es nicht glauben. Es durfte nicht sein, dass er zu spät kam. Seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Unterkiefer zitterte vor Wut, bei ihrem Anblick. Der Tod war ihm vertraut. Er tötete um zu überleben. So war das eben. Aber das hier?  Was war mit all den Tieren geschehen und warum?
 
Direkt unter dem Fenster befand sich eine Werkbank, auf der verschiedene Werkzeuge, Materialien, Flaschen und Tiegel lagen. Einige Tierschädel aus Holz rundeten das Bild ab. Unschlüssig und abwartend stand er im Fensterrahmen. Einen Moment lang dachte er daran, sich einfach auf und davon zu stehlen. Das hier roch nach Tod und nach Gefahr. Vielleicht gab es ja noch Schlimmeres, als Feuer speiende Drachen?  Vielleicht gab es noch Schlimmeres als den Tod? Aber er musste sich Gewissheit verschaffen. Wenn sie noch lebte, dann brauchte sie seine Hilfe, um hier lebend heraus zu kommen. So viel stand fest.
 
Er sprang auf die Werkbank und schaute sich suchend um. Irgendwo musste es etwas geben, dass auf Ihre Anwesenheit hindeutete, einen Gegenstand, einen Geruch, einen Käfig, irgendetwas. All diese Tiere, die Häute, die in einer Ecke aufgestapelt lagen, die Gerüche, ihm schwirrte nach ein paar Sekunden in diesem Zimmer der Kopf und er fühlte sich seltsam desorientiert. Dann sah er das zerrissene Katzen-Halsband. Es lag mitten im Zimmer auf dem Boden. Ein schmales, schwarzes, mit Strasssteinen besetztes Halsband.  Er berührte es mit der Pfote und saugte über seine Flehmen, den am Halsband haftenden Duft auf. Was für ein wunderbarer Duft, was für ein himmlischer Geschmack. Vor seinem inneren Auge tat sich das Bild einer jungen temperamentvollen Schönheit auf, die verzweifelt um ihre Freiheit kämpfte. Sie hatte sich gewehrt, gekratzt und gebissen und sie hatte Angst gehabt, Todesangst. Das alles war erst ein paar Stunden her. Sie lebte! Er konnte es schmecken und riechen, dass sie lebte.
Der Duft ihrer Schönheit berauschte ihn wie Nektar, sein Atem ging schneller und  seine Gedanken bekamen Flügel. Sie flogen so hoch und so weit, dass er nicht bemerkte wie die Türe geöffnet wurde und jemand den Raum betrat. Dieser Jemand sah die Katze auf dem Boden, packte sie am Genick und hob sie hoch. „Wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht der Herumtreiber vom Dach ist“, brummte eine tiefe Stimme, die irgendwo aus einem Gesicht kam, dass zur Hälfte von einem dichten Bart bedeckt war.

Der jähe Absturz aus dem Paradies der Verliebten war schmerzhafter, als sein Absturz auf dem Dach. Er hing wie ein hilfloser Sack am behaarten Arm dieses Mannes, der ihn durch dicke Brillengläser musterte wie ein Stück aus seiner Sammlung.

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