Irene Beddies

Wendel, das Gespenst: Schwarz

 

Einmal geschah es: das kleine Gespenst musste wieder im Wald übernachten. Wendel verkroch sich kurzerhand unter einen dicken Busch. Am nächsten Morgen schien die Sonne vom blauen Himmel.
Gegen  Mittag traf ein Sonnenstrahl ihn unter dem Busch. Er wurde auf der Stelle schwarz. Davon merkte er aber nichts, sondern schlief ruhig weiter.
Nach Mitternacht schwebte er fröhlich auf sein Dach und erwartete die Eule.Sie kam  und schaute vergeblich nach ihrem Freund aus.
„Wo bist du? Hallo, wo bist du?“, rief sie mehrmals.
„Ich bin doch neben dir. Bist du blind geworden?“
„Ich sehe dich nicht, Wendel – aber da sind zwei weiße Flecken neben mir. Bist du das mit deinen Augen?“
„Kannst du mich gar nicht sehen?“
„Nein, nur zwei weiße Flecken. Sag mal, hat dich ein Sonnenstrahl getroffen?“
Da wurde Wendel klar: „Der Busch, unter den ich mich gelegt habe, war nicht dicht genug. O je, jetzt bin ich schwarz geworden!“
Er weinte bitterlich. Er jammerte und schluchzte, aber das half auch nichts.
„Kannst du nicht sagen, wie ich wieder weiß werde?“, bettelte er.
Die Eule schüttelte traurig den Kopf. „Ich will die anderen Tiere morgen fragen, vielleicht weiß eines, was zu tun ist“, versprach sie.
 
 Noch immer war Wendel schwarz und sehr, sehr traurig.
Die Eule hatte in den letzten Tagen und Nächten kein Tier getroffen, das eine Lösung kannte, wie ein Gespenst wieder weiß wird.
Doch eines Nachts kam sie aufgeregt auf das Dach geflattert.
„Hast du gemerkt, dass die Turmuhr heute nicht geschlagen hat?“, fragte sie.
„Nicht geschlagen? Was meinst du damit? Ich habe nichts bemerkt.“
„Die Uhr hat schon seit einigen Tagen nicht mehr geschlagen. Die Glocke ist nicht mehr im Turm“, erklärte die Eule.
„Woher weißt du das?“
„Ich habe mich am Nachmittag mit dem Storch unterhalten. Er hat sein Nest auf dem Turm. Im Moment ist er sehr besorgt, denn Menschen sind neulich nahe an sein Nest geklettert und haben an der Turmuhr hantiert. Dabei haben sie die Glocke ausgebaut und  mitgenommen.“
„Hat das etwas zu bedeuten?“, fragte Wendel. „Hat es etwas mit mir zu tun?“
„Vielleicht. Vielleicht nicht. Du bist immer zur richtigen Stunde aufgewacht, ohne dass die Glocke im Turm war. Kommt dir das nicht seltsam vor?“
„Ja, komisch“, überlegte Wendel.
„Siehst du“, sagte die Eule.
Gespannt warteten sie, was weiterhin geschehen würde.
Als die Geisterstunde um war, blieb alles still. Kein „Boinggg“ ertönte. Das kleine Gespenst aber wurde sehr müde und ließ sich wie sonst in seinen Pappkarton fallen und schlief ein.
Die Eule blieb tief in Gedanken versunken zurück. Wie konnte es sein, dass ein Gespenst auch ohne Glockenschlag die richtige Zeit zum Erwachen und zum Einschlafen kannte?
 
In der folgenden Nacht verspürte Wendel ungewohnte Unruhe. Er richtete sich im Karton auf, da schlug es vom Turm zwölf Mal. Aha, nun konnte er aufstehen und auf das Dach kommen. Da saß schon voller Erwartung die Eule im hellen Mondschein.
Wendel reckte und streckte sich. Er breitete beide Arme aus und blickte den Mond an, der freundlich vom Himmel lachte. Mit den Fingern zeigte er auf den Mond und rief laut: „bitte, bitte, lieber Mond…“

„Oh, du bist wieder weiß, Wendel!“, rief die Eule freudig.-
„Ganz wirklich?“, fragte er. Dann jubelte er: „Juhuuu, ich bin wieder ein richtiges Gespenst, juhuuu!“
Er tanzte vor Glück um den Schornstein.
Nach einer Weile fragte er: „ Wie ist das passiert?“
„Das weiß ich nicht. –Vielleicht hat es wirklich etwas mit der Glocke zu tun?  Der Storch hat erzählt, die Menschen haben eine neue Glocke an der Uhr angebracht.“
„Aber warum hat mich das wieder weiß gemacht?“
„Das werden wir wohl nie erfahren“, seufzte die Eule.

© I. Beddies
           
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.07.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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