Marc Schmidt

Alles Gute kommt von oben...

Der Turm glänzt silbern im Sonnenlicht. Ihm zu Füßen liegt eine weißblaue, spiegelnde Oberfläche, die aussieht, als wären hunderte kleine Sonnen darin versunken. Das hervorstehende Brett wurde bereits tausende Male durchgebogen; hat dicke und dünne, lange und kleine, junge und alte Menschen ein paar Zentimeter in die Luft befördert und dann tief fallen lassen.
Es knarrt erneut, senkt sich und schnellt nach oben. Wie eine Kanonenkugel schlägt ein braungebrannter, durchgestreckter Körper mit einem peitschenden Knall ins aufspritzende Wasser. Für einen Moment beobachte ich den Sprühregen, der über die Wasseroberfläche rieselt und immer feiner wird. Kleine Regenbogen schweben in der Luft.

Es ist herrlichstes Sommerwetter und ich sitze erschöpft auf einer Holzbank am Kopf des Schwimmbeckens. Von hier aus hat man eine perfekte Aussicht auf den Sprungturm. Es gibt den „Einer“ (der aktuell gesperrt ist) und den „Dreier“. Eine Schlange von schlotternden und tropfenden Kindern steht an und wartet auf den großen Moment des Sekundenfliegens.
Neben mir sitzt ein grauhaariger Mann in unangenehm engen Badeshorts. Er ist mir bereits vorhin aufgefallen, als ich ein paar Bahnen gezogen habe; irgendwie ins Auge gestochen. Sein mächtiger Kugelbauch glänzt in der Sonne. Ein feingliedriges Goldkettchen verschwindet in einem Dickicht aus grauen Brusthaaren, die vom Wind zum Tanzen aufgefordert werden. Seine kleinen Kugelaugen, die tief in seinem mittlerweile rötlichen Gesicht versunken sind, folgen aufmerksam dem Treiben im Schwimmerbecken. Platsch. Neuer Sprühregen schwebt über dem Bereich des Schwimmerbeckens, der extra für den Sprungturm abgesperrt ist. Ein freudestrahlender Jungenkopf taucht prustend auf. Er blickt stolz zu seiner Mutter als wäre es der erste Sprung vom Dreier in seinem Leben gewesen.
Mein Nebenmann verzieht die Mundwinkel. Sein fliehendes Kinn wird nervös hin und her geschoben. Sein grauer Schnäuzer flattert über seinen schmalen Lippen. Er sieht erregt aus, blickt mich besorgt an. Platsch. Dieses Mal ist das Geräusch näher. Es sind Jungs, die vom Beckenrand springen. Einer steht im flacheren Bereich des Schwimmerbeckens und die anderen springen über ihn. Gerade ist einer nur wenige Zentimeter über dem Kopf des anderen im Wasser gelandet. Platsch.

Ein Bademeister, versteckt hinter einer riesigen schwarzen Sonnenbrille nähert sich uns bei einem seiner Kontrollgänge. Platsch. Der Kugelbauch verlagert seinen Schwerpunkt nach vorne, stemmt sich mit knackenden Knien in die Höhe. Der Bademeister hat vollstes Verständnis für seine Klagen. Natürlich, das gehe nicht; ist verboten; selbstredend; darum werde er sich persönlich kümmern. Zwei Gleichgesinnte im Kampf für Recht und Ordnung. Sittenwächter der nicht zu tolerierenden Freude.
Der Bademeister fliegt quasi zum Beckenrand, froh um eine Aufgabe. Er muss erleichtert sein, an ein paar Halbwüchsigen endlich wieder seine Macht zur Schau stellen zu dürfen. Die Beckenspringer werden zurechtgewiesen. Ihre verschreckten Mienen spiegeln sich auf der Sonnenbrille. Die Glatze des Bademeisters glänzt im hellen Licht. Der Grauhaarige genießt das Schauspiel. Platsch. Die Jugendlichen weiter hinten zelebrieren den Sprungturm. Die Beckenspringer werden von ihren Jubelschreien angelockt und schwimmen auf besondere Empfehlung des Bademeisters in die Richtung des Turms.
Der Bademeister lässt sich bei meinem Nachbarn über ihr unmögliches Verhalten aus. Platsch. Ein Nachzügler der Beckenspringer ist seinen Freunden gefolgt. Leider vom Beckenrand. Der Bademeister hat eine Art sechsten Sinn und sich genau im richtigen Moment umgedreht. Das rote Gesicht meines Nachbarn starrt ihn erwartungsvoll an, setzt ihn unter Zugzwang.

Ein Bademeister ist wie ein Schaffner: Er mag seine Aufmachung (wäre es nicht so heiß, trüge er bestimmt ebenfalls eine eindrucksvolle Uniform) - und er mag die damit einhergehende Machtstellung, andere zu kontrollieren. Was er nicht mag, ist eine Infragestellung seiner Autorität – besonders von aufmüpfigen, vorpubertären Jungen. Ein gellender Pfiff. Hektisches Winken. Ein Zeigefinger sticht wie ein Dolch durch die leichten Wellen. Der Beschuldigte schwimmt an den Rand; Ich denke an ein Auto, das von der Polizei angehalten wird. Die angestaute Wut des Tages, des stupiden Nichtstuns und des blöd in der Sonne Herumstehens ergießt sich auf den nachgesprungenen Beckenspringer. Von oben nach unten. Geklärte Verhältnisse. Mein Nachbar grunzt und lässt sich zufrieden auf seinem Frotteebadehandtuch nieder. Platsch.
Gnadenlos wird der Übeltäter des Beckens verwiesen. Rote Karte. Badespaß vorüber. Der Junge schleicht, über die Ungerechtigkeit leise fluchend, wie ein geprügelter Hund davon. Platsch. Der Bademeister und sein Bruder im Geiste lassen sich über den Leichtsinn der Jugend aus. Unerhört; was sich daraus für Gefahren ergeben können; die waren letzte Woche schon so frech.

Der Bademeister hat seine Schuldigkeit getan und verschwindet in den Schatten. Das Gesicht von meinem Nachbarn ist eine Spur rötlicher geworden, schwebt wie ein kleiner Ballon auf seinem Kugelkörper, auf dem erste Schweißtropfen herabperlen. Ohne zu duschen steigt er die Beckentreppen herab, bis sein Kugelbauch unter Wasser verschwindet. Platsch. Mädchengekreische. Sie wurden Opfer einer besonders gekonnten Arschbombe mit vielen Spritzern.  Nach zufriedenstellendem Kontrollblick auf den leeren Beckenrand fängt Graukopf gemächlich damit an, weitere Bahnen zu ziehen.

Auch ich habe genug geruht. Langsam erhebe ich mich und kühle meinen Kopf unter der Dusche. Die löchrigen Metallstufen hinauf zum Dreier glänzen von all den nassen Füßen, die sie heute bereits bestiegen haben. Die Griffe der Leiter sind glitschig. Ich muss fest zupacken, um nicht abzurutschen. Ich bin lange nicht mehr gesprungen – mindestens zwanzig Jahre. Ohne lange darüber nachzudenken klettere ich hinauf. Oben hat man einen fantastischen Überblick. Unter mir  erstrecken sich Inseln von kleinen Sonnenschirmen, eine Landschaft aus bunten Handtüchern, auf denen sich hunderte halbnackte Leiber in der Sonne rösten lassen.
Vom Beckenrand fliegen erwartungsvolle Blicke nach oben. Ich verspüre den albernen Druck, einen großartigen Sprung vollführen zu müssen. Im Geiste sehe ich mich einen Auerbach- oder einen gehockten Delphinsalto vollführen. In meinem Alter! Lächerlich! Ich laufe an. Das Brett wippt leicht unter meinen schweren Schritten. Ich sehe das rote Gesicht unter dem grauen Schopf klar und deutlich. Ich zögere kurz, nehme Anlauf und fliege. Ich trotze mit rudernden Armen dem sausenden Wind und rechne jede Sekunde mit dem harten Aufprall. Meine Haut und meine Knochen sind mir egal. Alles was zählt, ist dieser graue Haarschopf mit dem roten Gesicht, der von dem Kugelbauch über Wasser gehalten wird.

Derart weit zur Seite ist glaube ich noch niemand vor mir gesprungen. Vielleicht hat mich eine von Gott gesandte Böe getragen. Ich bin die himmelfallende Rache aller Beckenspringer dieser Welt. Krachend lande ich auf dem betonharten Wasser. Meine Unterschenkel schmerzen augenblicklich. Ein Ziehen und Brennen an meinem Gesäß und meinem Bauch, den ich instinktiv angespannt haben muss. Ich weiß nicht, wie ich genau aufgekommen bin, doch als ich wieder die Oberfläche durchstoße und scharf einatme, höre ich Geraune und Gemurmel. Ich schwimme weiter, als wäre nichts geschehen.
Hinter mir ein Prusten und Schnaufen. Ich kann es mir nicht verkneifen und drehe mich um, sehe einen rötlichen Kopf mit zwei zusammengepressten Augen. Die grauen Haare und der Schnäuzer sind wassergetränkt. Ich verschlucke mich grinsend und schwimme dem Beckenrand entgegen. Eine undurchdringliche schwarze Sonnenbrille beobachtet jeden meiner Züge. Eine leuchtende Glatze erwartet mich.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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