Frank Tichy

Die Brüder Ungleich

Dirk und Walter waren Brüder und da sollte man meinen, dass sie sich ähnelten. Die Beiden unterschieden sich allerdings so weit voneinander wie die Anfangsbuchstaben ihrer Namen in der Reihenfolge des Alphabets.
Allein bei ihrem Anblick hätte nicht einer vermuten können, dass sie in einer entfernten verwandtschaftlichen Beziehung standen, geschweige denn Brüder waren. Der kleine Dirk hatte glattes, blondes Haar und hellblaue Augen, während Walter großgewachsen und die Farbe seines lockigen Haars genauso dunkel war wie die seiner Augen.
Erst ihre völlig verschiedenen Charaktere aber ließ jeden ganz erheblich an der Wahrheit der Tatsache, dass Dirk und Walter Brüder waren, zweifeln. Dirk war der immer Sanftmütige, wohingegen Walter mit Worten und Taten Streit suchte, wo er auch hinkam.
Weil nun also Gemeinsamkeiten kaum vorhanden waren, wurden sie von allen Leuten ihres abgelegenen, in eine wunderschöne Landschaft gebetteten Heimatdorfes die Brüder Ungleich genannt.
Je mehr nun die Brüder Ungleich heranwuchsen, desto deutlicher zeichnete sich auch die Absehbarkeit des Zeitpunktes ab, ab dem sie getrennte Wege gehen würden. Als ihre Eltern sich zum ersten Mal in ihrem Leben Urlaub gönnten und mit dem Zug ans Meer fahren wollten, dabei aber ums Leben kamen, weil der Zug entgleiste, wurde das zu Erwartende nur noch beschleunigt. Dirk hatte die Ruhe seines Heimatdorfes dringend nötig, um seine große Trauer zu verarbeiten. Doch Walter langweilte sich immer mehr.
"Dirk! Ich gehe in die große Stadt.", sagte Walter eines Tages zu Dirk, eine Tasche, die seine wichtigsten Habseligkeiten beinhaltete, schon in der Hand.
Dirk liebte seinen Bruder. Doch obwohl oder gerade weil ihm die Trennung sehr große Schmerzen zufügen würde, war er schon lange auf diese Nachricht gefasst.
"Ich habe schon lange erwartet, dass du das tun wirst.", antwortete Dirk kaum hörbar und gegen seine Tränen kämpfend.
"Sei nicht traurig!", war alles, was Walter an Worten des Trostes für Dirk übrig hatte. Dann ging er seines Weges.
Dirk stand lange in der Eingangstür des Hauses, das die beiden Brüder nach dem Tod ihrer Eltern allein bewohnt hatten, und starrte in die Ferne, die Walter zu sich geholt hatte. Große Einsamkeit befiel ihn wie eine träge, schwere Last, die er nicht einfach abschütteln konnte.
Er hatte den plötzlichen Tod seiner Eltern lange nicht verschmerzen können und nur ein Bruder, der stärker gewesen zu sein schien, hatte ihm einigermaßen ein Zurechtkommen in seinem neuen Leben ermöglicht. Vor dem Gesetz war Dirk längst volljährig gewesen, doch gefühlsmäßig war er erst mit dem Tod seiner Eltern in das harte Erwachsenenleben gestoßen worden. Er war froh, durch die Übernahme des Lebensmittelgeschäftes seiner Eltern wenigstens eine Arbeit gefunden zu haben, die ihm großen Spaß bereitete, auch wenn sie nicht viel Geld einbrachte.
Walter hatte nie etwas mit dem Geschäft zu tun haben wollen. Wie viele hatte er in einer nahegelegenen Großmolkerei gearbeitet, in der die immense Lautstärke zahlreicher Maschinen das Gehirn eines jeden dort Arbeitenden überschwemmte und immer mehr dessen Bewusstsein auslöschte. Dafür hatte er gutes Geld bekommen, das er jeden Abend zu einem Großteil in der ortsansässigen Wirtschaft wieder ausgegeben hatte.
Jetzt war Walter nicht mehr da und Dirk fragte sich, woher er nun an Weihnachten oder in sonstigen Momenten, in denen die Erinnerung an seine Eltern und seinen Bruder so stark sein würde, dass es schmerzte, sie nicht bei sich zu haben, Stärke nehmen sollte.
Die Leute im Dorf mochten Dirk. Sie kauften gerne in seinem Geschäft ein, denn er hatte immer und für alle freundliche Worte übrig und versuchte auch zu helfen, wenn einer mal Sorgen hatte. Jetzt zahlte sich seine Nettigkeit aus. Die Leute halfen ihm in seiner schweren Zeit der Einsamkeit. Sie besuchten ihn abends oder luden ihn an Sonntagen zu sich ein. Die starke Gemeinschaft des Dorfes machte es möglich, dass Dirk immer mehr daran gewöhnt war, allein im Haus zu leben.
Dennoch konnte Dirk seinen Bruder nicht vergessen. Er dachte sehr oft an Walter. Er fragte sich, wie es ihm wohl gehen würde, und er hoffte, dass er gesund und glücklich war. Jeden Tag erwartete er einen Brief von Walter. Doch dieser ließ nichts von sich hören. Dirk hatte sich zwar schon gedacht, dass Walter sich nicht so schnell bei ihm melden würde, aber er war sich sicher, dass es eines Tages geschehen würde. Dirk wusste doch, dass so rauh Walter auch war, er dennoch Gefühle hatte, die dann und wann zum Vorschein kamen.
Walter fühlte sich in der riesigen Stadt wohl. Er liebte das hektische Treiben, die vielen Leute auf den Straßen, die grellen, bunten Lichter in der Nacht und das heftige Diskutieren in jeder noch so kleinen Kneipe. Nun erst merkte er wirklich, wie still und monoton doch sein Leben gewesen war, und sein Hunger nach lautem Leben schien deswegen unstillbar zu sein. Er ließ sich voll und ganz treiben vom Großstadtgetümmel und hatte daher auch seinen Bruder Dirk ganz vergessen. Arbeit hatte er in einer Brotfabrik am Rande der Stadt gefunden. Um sich die teure Miete einer Stadtwohnung besser leisten zu können, wohnte er mit zwei Arbeitskollegen zusammen. So blieb ihm noch so viel von seinem Gehalt übrig, dass er sich jeden Abend betrinken und an Wochenenden mit Mädchen vergnügen konnte. Er bemerkte nicht, dass er immer abhängiger vom Alkohol wurde und natürlich lernte er bei seinem täglichen Gang in die Kneipen auch andere Drogen kennen, bei denen sich schnell ebenfalls eien starke Abhängigkeit entwickelte. Schließlich lernte er auch die Schattenseiten des Großstadtdaseins kennen. Seine Abhängigkeit wurde von vermeintlichen Freunden ausgenutzt. Walter musste viel Geld aufbringen, um an Drogen zu gelangen, ohne die er nicht mehr sein konnte. In dieser Not beging er einen Banküberfall, bei dem Walter von der Polizei geschnappt wurde.
Da die Polizei es für besser hielt, Angehörige von Walter über dessen Situation aufzuklären, erfuhr Dirk einige Tage später, wie es Walter in der Großstadt ergangen war. So kam es zu einem Wiedersehen der Brüder Ungleich, das in der Form keiner gewollte hatte. Walter wagte es vor Scham nicht, seinen Bruder anzuschauen, und Dirk wusste zunächst nicht, wie er seinem Bruder helfen könnte. Schließlich fragte Walter, der über Dirks Ankunft überrascht war, als könnte er dessen Handlung nicht verstehen: "Habe ich noch Hilfe verdient?" In seiner leisen Stimme schwingte die Erkenntnis einer großen Schuld, die so leicht nicht mehr gutzumachen war.
Dirk erwiderte: "Sieh mich an, Walter!" Walter gehorchte ihm und Dirk fuhr fort: "Du hast einen Lebensweg gewählt, der dich ins Unglück brachte. Aber die Richtung eines Weges kann man ändern. Dabei werde ich Dir helfen oder glaubst du, dass Bruderliebe gleich zerstört wird, wenn einer mal in die falsche Richtung geht?"
Walter lächelte und mit dem Lachen entwickelte sich auch wieder Kraft in ihm, Kraft für den schweren Weg in die andere Richtung.


copyright by Frank Tichy 2000

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Frank Tichy).
Der Beitrag wurde von Frank Tichy auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Frank Tichy als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Legenden zwischen Lenden: Mittelmeer Gedichte von Dr. André Pfoertner



André Pfoertners Poeme wurzeln in der archaischen Erkenntnis, dass Erotik und Lyrik seit jeher eng miteinander verschlungen sind. Seine mit Meerwasser gesalzenen Verse kreisen um mediterrane Liebesakte zwischen göttlicher Schöpfung und irdischer Erschöpfung.
Aphrodite, Kalypso und andere bezaubernde Frauen begegnen legendären Liebhabern wie Odysseus, Casanova oder Lord Byron. Unter einer immer heißen Sonne, die von der Antike bis in die Neuzeit Hormone zum Brodeln bringt, zeigt Ischtar, die babylonische Göttin des Krieges und des sexuellen Begehrens, ihre beiden Gesichter. Die Liebenden in André Pfoertners lyrischem Mittelmeer treiben ruhelos zwischen Lust und Verlust hin und her.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Zwischenmenschliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Frank Tichy

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Norderney macht kreativ von Rainer Tiemann (Zwischenmenschliches)
Der Liebesbeweis von Rainer Tiemann (Skurriles)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen