Manfred Bieschke-Behm

Das Gipsbein oder Wer glaubt, alles erlebt zu haben, der irrt

Meinhard tut sich schwer über das, was ihm im Urlaub passiert ist, zu sprechen. Wenn überhaupt, möchte er nur  über die schönen Dinge und nicht über das Unangenehme sprechen. Aber, da sein eingegipster Fuß nicht zu übersehen ist, muss er es sich gefallen lassen, dass es seine Arbeitskolleginnen und Kollegen ganz genau wissen wollen, wie er zu seinem Gipsbein kam. Gerade erst vor einer halben Stunde fragte ihn Paul Schneider: „Mensch Meinhard! Was ist dir denn passiert?“ Ilse Fröhlich fragte Meinhard auf den Weg in die Kantine, ob er seinen Fuß im oder nach dem Urlaub gebrochen hat.
Mehr oder weniger geduldig erzählt Meinhard immer wieder die Geschichte seines Missgeschickes. Am liebsten würde er seinen eingegipsten Fuß verstecken, um endlich Ruhe vor den neugierigen Fragen zu haben. Andererseits findet Meinhard es auch wohltuend, Anteilnahme zu spüren.
 
Gerade als Meinhard seinen Teller zur Seite schieben wollte, kam sein Vorgesetzter. Er bat  darum sich zu ihm setzen zu dürfen, um sozusagen aus erster Hand von dem Missgeschick zu erfahren. Nun kam Meinhard nicht umhin, erneut von seinem Ereignis zu berichten: Wie jedes Jahr, so auch in diesem, bin ich zum wandern in die bayerischen Berge gefahren. Das Wandern ist meine Leidenschaft und ganz besonders haben es mir die Wanderungen in die Bergwelt angetan. Gerne fahre ich immer wieder in die gleiche Gegend obwohl ich so gut wie jeden Grashalm, jeder Baum und Strauch kenne und jedes Mal überrascht es mich Neues zu entdecken. Gerne wandere ich ohne Begleitung. Ich möchte mich ganz auf die Natur konzentrieren und mich nicht von Mitwanderern ablenken lassen. Meinhard erzählt seinem Chef an dieser Stelle, dass diese Vorgehensweise ihm beinahe zum Verhängnis wurde. Der Vorgesetzte schaut ihn erstaunt an, sagt aber nichts, denn er möchte  die Berichterstattung nicht durch neugieriges fragen unterbrechen. Meinhard sieht das erstaunte  Gesicht seines Vorgesetzten, geht aber nicht darauf ein, sondern fährt mit seinem Bericht fort. Nachdem ich schon einige Stunden unterwegs war, stolperte ich über einen Stein. Ich verlor dabei mein Gleichgewicht und rutsche einen Abhang hinunter. Mühsam versuchte ich mich an Gras-büschel und Wurzelwerk festzuhalten, um ein weiteres  Abrutschen zu verhindern. Leider gelang es mir nicht, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Im Gegenteil. Ich rutsche immer weiter den Berg hinunter Richtung Tal. Ein Felsvorsprung hielt mich letztendlich davon ab, das Tal schneller zu erreichen, als ich es vor hatte. Bei dem Aufprall auf dem Felsvorsprung brach ich mir mein Bein, was ich zunächst weder vermutete noch erkennen konnte. Was ich wahrnahm, waren höllische  Schmerzen und eine aussichtslose Situation.  Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte ich und spürte dabei, wie ich anfing, mich mit meinem Schicksal abzufinden. Bisher getätigte Hilferufe  waren vergebens. Ich spürte  plötzlich eine unangenehme Kühle. Die Sonne fing an für den Mond Platz zu machen, was zur Folge hatte das es sich abkühlte und Dämmerung einsetzte. Mein verletztes Bein schmerzte zunehmend mehr. Im Bein selbst verspürte ich ein Puckern und große Hitze. Beides ließ nichts Gutes ahnen. Ein letztes Mal wollte ich um Hilfe rufen und dann abwarten, was mit mir passiert. Ich rief um Hilfe und bekam Hilfe. Eine zufällig vorbei kommende Wandergruppe, die sich für die Übernachtung auf den Weg zum Schutzhaus befand, hörte meinen Hilferuf und schaffte es, mich aus meiner missliche Lage zu befreien. Zwei kräftig wirkende Männer nahmen mich zwischen sich, sodass es mir gelang auf einem Bein humpelnd das Schutzhaus zu erreichen. Dort angekommen wurde ich erstversorgt. Meine freundlichen Helfer schafften die Bergwacht herbei, die mich in das nächstgelegene Krankenhaus beförderten. Ich höre noch heute, wie der eine Sanitäter zu mir sagte: „Da haben sie aber verdammtes Glück gehabt. Normalerweise sind zu dieser Zeit keine Wanderer mehr unterwegs. Nur weil die Wandergruppe sich anfangs verlaufen hatte, kamen sie zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle vorbei.“ Dann sagte er noch: „Wer glaubt, alles erlebt zu haben, der irrt.“ Ich wollte darauf etwas erwidern, bin aber eingeschlafen und erst im Krankenhaus wieder wach  geworden. „So“, endet Meinhard, „nun kennen sie die ganze Geschichte.“ „Ja, jetzt kenne ich die ganze Geschichte. Ich wünsche ihnen gute Besserung und hoffe, dass sie ihre Geschichte nicht noch all zu oft erzählen müssen.“ „Danke für die Genesungswünsche“, sagt Meinhard zu seinem Vorgesetzten und denkt dabei, du bist ganz bestimmt nicht der Letze, dem ich meine Geschichte von der verhängnisvollen Bergwanderung erzählen muss.
 
Humpelt bringt Meinhard seinen leeren Teller zur Ablage und begibt sich zum Fahrstuhl. Mit ihm steigt die Sekretärin seines Vorgesetzten ein. Sie sieht das Gipsbein und fragt: „Wie ist denn das passiert?“ Am liebsten hätte Meinhard gesagt: „Fragen sie doch ihren Chef, dem habe ich gerade meine Story erzählt.“ Stattdessen fängt Meinhard an, seine Geschichte erneut zu erzählen. Gerade, als er an der stelle angelangt war, wo ihm der Stein zum Verhängnis wurde, hielt der Fahrstuhl an. Die Sekretärin war am Ziel und stieg aus. Kurz bevor sich die Fahrstuhltür wieder schließen wollte, drehte sich die Sekretärin um und sagte zu Meinhard: „Ihre Geschichte müssen sie mir unbedingt zu Ende erzählen – vielleicht morgen.“ „Klar, mache ich“, rief Meinhard der Sekretärin hinterher. „Morgen erzähle ich ihnen das Ende meiner Geschichte.“ Den letzen Satz hatte die Sekretärin nicht mehr hören können, denn die Tür war längst geschlossen und der Fahrstuhl fuhr nach unten. Meinhard kommt unten an, steigt aus und denkt: Hoffentlich haber ich jetzt Ruhe vor den Neugierigen. Noch während er so denkt, kommt in Moritz Göhler humpelt entgegen. Moritz Göhler hat wie er ein Gipsbein. Sie schauen sich an, fangen an zu lachen und versprechen sich nicht nach der Ursache zum Gipsbein zu fragen.


 

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