Hans K. Reiter

Im Tal der Sehnsucht - (3) Die Spirale

Im Taxi war die Welt irgendwie anders, empfand sie. Merkwürdig. Du sitzt auf der Rückbank rechts, diagonal vorne links sitzt ein Mensch, den du in deinem Leben noch nie zuvor gesehen hast. Du sagst ihm, wohin du willst, und er fährt los. Fast augenblicklich entwickelt sich eine besondere Atmosphäre, etwas Vertrautes umgibt dich. Du kommst ins Gespräch. Banales, denkst du, er soll dich in Ruhe lassen, warum nur müssen alle Taxifahrer der Welt quatschen? Aber du steigst darauf ein und plötzlich ertappst du dich, wie du diesem wildfremden Menschen Dinge erzählst, ganz persönliche Dinge. Du verstehst es nicht, aber du redest weiter, gibst Meinungen von dir und vertrittst Ansichten, die mit dir gar nichts zu tun haben, aber du sagst es, so, als  wäre es dir wichtig. Später, wenn du ausgestiegen bist und diesen Kosmos verlassen hast, fragst du dich, was da die letzten Minuten vorgegangen war, wieso du Dinge gesagt hast, die dir fremd sind, die dir gar nicht entsprechen, deren Gegenteil deine Überzeugung sind.

Sie sprach über Alkohol und sagte, sie könne Leute, die trinken, nicht verstehen. Sie sagte auch, man müsse hart durchgreifen  bei solchen Typen, Kulanz würde ihnen nicht helfen und nur das Gegenteil bewirken. Der Fahrer sagte nichts und ließ sie reden oder doch, ab und zu warf er ein aufmunterndes Wort ein, und sie redete weiter, redete sich die Seele aus dem Leib, redete Stuss ohne Ende.

Zwei Stockwerke. Sie nahm die Treppe, verschmähte den Lift. Wie oft hatte sie sich nach einer helfenden Hand gesehnt, nach einem Menschen, der Verständnis für sie gehabt hätte, der nicht auf sie herabgeblickt und wegen ihres Trinkens schon von vorne herein verdammt hätte. Was war in ihrem Gehirn bloss vorgegangen, gerade auf der Fahrt, im Taxi.

Ihre Brust zog sich zusammen, schnürte sie ein. Das war nicht sie gewesen. Wie kam sie dazu, Dinge zu verabscheuen, die ihre eigene Situation reflektierten. Tränen stiegen in ihre Augen, entrangen ihr ein Schluchzen, forderten ihr Selbstmitleid heraus, drückten sie nach unten, machten sie zu einem Häufchen Elend. Ihre Hände fingen an zu zittern, der ganze Körper schien sich ihrer Kontrolle entziehen zu wollen, wollte sich aufbäumen, um dann in sich zusammenzusacken. Ein winziger Funke ihres Verstandes machte sich ganz plötzlich bemerkbar und sagte, du darfst es nicht zulassen, halte dagegen!

Sie griff in ihre Tasche mit den Yogasachen, suchte nach der vertrauten Flasche, ihre Hände griffen ins Leere, Panik, keine Flasche, Abgrund ... kein zurück! Wieder dieser Funke, im Widerstreit mit ihr selbst, lass es nicht zu, du darfst nicht ... Die Hand aus der Tasche, Griff zum Hals, keine Luft, kein Atem, Beklemmung, ihr Herz raste, Stufe, hinsetzen, einen Augenblick nur.

Das Licht im Treppenhaus erlosch. Das rote Signallicht des Drückers, viel zu weit entfernt, Dunkelheit. Sie rafft sich hoch, zieht sich am Geländer nach oben. Noch eine Treppe, die Wohnung ihres neuen Freundes, nur noch ein paar Meter, dann hätte sie es geschafft. Unvermittelt peitscht eine Woge durch ihren gepeinigten Körper, lässt sie für einen Augenblick innehalten, manifestiert sich in der Nähe des Solarplexus, verleiht ihr Kraft. Kraft, die ihr schon fremd geworden war. Jetzt erst konnte sie es einordnen. Sie verspürte erstmals seit langem wieder so etwas wie Glück. Ja, es war ein unbändiges Gefühl von Glück, das jetzt begann, sich langsam auszubreiten und alle Fasern ihres Körpers einnahm.

Sie erreichte den Druckknopf, Licht, dann machte sie kehrt. Jetzt nicht zu diesem Mann, der ihr zwar Freund war, aber sie fühlte, sie müsse nach hause und alleine sein. Ein paar Kilometer durch die Nacht, zu Fuss. Niemand unterwegs, vereinzelt ein Fahrzeug, keine Passanten. Sie genoss es, fühlte sich befreit, hatte es geschafft ohne einen Tropfen aus der Flasche. Sie musste hart bleiben, durfte niemals mehr nachgeben.

Sie registrierte die Unordnung in ihrer Wohnung, aber sie war hier, in ihren eigenen vier Wänden. Im Schlafzimmer ging es einigermaßen. Sie riss die Fenster auf, saugte gierig die frische Luft in ihre Lungen und empfand mit einem Mal eine wohltuende Mattigkeit. Angezogen legte sie sich aufs Bett und begann unbewusst damit, die einzelnen Partien ihres Körpers nach den Regeln zu entspannen, die sie in der Therapiegruppe gelernt hatte. Es gelang ihr sehr schnell, den Zustand der Schwere und damit einhergehend, den der Leichtigkeit zu erreichen. Sie sah die Wand, schritt hindurch, sah die Wiese, ging auf sie zu, schritt darüber hinweg, liess sich noch tiefer fallen und befand sich augenblicklich an diesem wundersamen Ort der absoluten Ruhe, den sie das Meer der Ruhe genannt hatten.

Für eine Weile genoss sie diesen unendlichen Frieden, dann schritt sie weiter, einer Eingebung folgend, ließ sich unendlich tief fallen, schwebte über das Meer der Ruhe hinweg direkt auf eine Dimension von Farben zu, wie sie sie niemals zuvor gesehen hatte. Schleier von Farben wurden abgelöst durch Flächen, um wieder in neue Schleier einzumünden, die sich in gewaltigen, Wolken gleichen Gebilden verloren. Weit entfernt nahm sie einen hellen Schein wahr. Ein Schein, der trotz seiner gewaltigen Strahlkraft ausnehmend sanft wirkte und sie magisch anzog. Unwiderstehlich, einer Spirale gleich, wie sie jetzt feststellte, je näher sie kam, und diese Spirale drehte sich, nach rechts, von ihr weg, forderte sie auf, näher zu kommen, einzusteigen und sich dem Lauf der Bewegung hinzugeben.

Sie schwebte unmittelbar davor, sah, wie alles um sie in dieser Spirale entschwand, gleichsam aufgesogen, fühlte sich von einem Luftstrom getrieben, unaufhaltsam direkt auf den riesigen Mund der Spirale zu. Das anfängliche, unsägliche Gefühl eines nicht gekannten Glückes wandelte sich nunmehr in abwehrende Panik. Nein schrie etwas in ihr, nicht da hinein, du bist nicht vorbereitet, kennst das Ende nicht ... 

Ihr Widerstand schwand, erlahmte, wurde bedeutungslos angesichts der gewaltigen Kraft, der sie sich nicht mehr entziehen zu können schien. Irrational war sie gefangen in den von ihr selbst geformten Vorstellungen, als Mensch ihrer  Selbstbestimmung beraubt, nur noch ein vom Gehirn gesteuertes Wesen ohne Bewusstsein.

Fortsetzung folgt !

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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