Wolfgang Scholmanns

Hüte aus dem Zauberwald

Der rotorange Ball der Sonne hat das Tagerwachen angekündigt und eine stille, mondlose Sommernacht verabschiedet sich. Heftige Regenfälle haben vor ein paar Tagen den Boden getränkt und die Pilzmyzelien werden bestimmt einige Fruchtkörper ans Tageslicht befördert haben. 
Ich bin Hobbymykologe und beschäftige mich schon seit 30 Jahren mit diesen kleinen Wald- und Wiesenbewohnern. Damals bin ich durch einen Freund, auf dieses Hobby gestoßen. Rainer, so hieß mein damaliger Freund, hatte sich ein Pilzbbestimmungsbuch gekauft. Zunächst einmal wollte er sich die Merkmale der tödlich giftigen genauestens einprägen, um eine Verwechslung mit ähnlich aussehenden Speisepilzen ausschließen zu können. Oft zog er jetzt in die Wälder und brachte so manches Mal auserlesene Köstlichkeiten mit. Eines Tages nahm er mich mit in sein Zauberreich, zeigte mir Stellen, wo die leckersten Speisepilze standen, erklärte mir auch die Merkmale der giftigen Doppelgänger und sagte zwischendurch immer wieder: „Niemandem unsere Pilzgebiete verraten.“ 
Ich wurde neugierig, holte mir aus der Stadtbücherei einige Pilzbestimmungsbücher und verschwand für einige Zeit hinter den in Hexenringen wachsenden, symbiotisch oder parasitisch lebenden, usw. Pilzarten. Pilzseminare, Exkursionen, das Arbeiten mit ausgesuchtem Studienmaterial über die Mykologie (Wissenschaft von den Pilzen) und dreißigjährige praktische Erfahrung, haben mich zu einem ziemlich guten Kenner  auf diesem Gebiet gemacht. Die Abkürzung die ich nehme, ist ziemlich urwüchsig. Zwischen hohem Bewuchs von Erlen und Weiden führt ein schmaler Pfad zum Hauptweg des Waldes. Der Boden ist feucht und zuweilen liegen trübe Pfützen vor meinen Füßen. Immer dichter treten die Büsche aneinander und schließlich verschwindet jede Spur eines Weges. Da ich diesen Wald kenne wie meine Westentasche, weiß ich jedoch, dass ich gleich den Hauptweg betreten werde. Das Unwetter in der letzten Woche hat einige Bäume aus ihrem Wurzelhalt gelöst, sodass diese sich immer mehr zu Boden neigen. Ab und zu vernehme ich ein leises Ächzen und staune, wie ihr Wurzelwerk die moosbedeckte Walderde immer mehr aufreißt. Der Ränder des Hauptweges sind mit wunderschönen Waldblumen geschmückt und es ist herrlich anzusehen, wie ihre Formen und Farben aus noch jungem Morgenduft hervortreten. Ein Rudel Rotwild, dass größte heimische Schalenwild, kreuzt meinen Weg. Die nachaktiven Tiere werden wohl jetzt ihre Schlafplätze aufsuchen. Der stolze Hirsch hebt seinen Kopf und sein mächtiges Geweih leuchtet gespenstisch, im Schein der durch das lichte Blätterdach dringenden Morgensonne. Ich sehe ihm und seinem Rudel nach, bis sie vom Schlund des dichten Waldes verschlungen werden. 
Nach einigen hundert Metern erreiche ich mein Ziel. Es  ist ein Heidegebiet, welches mit seinem Lärchen-, Fichten- und Birkenbestand ein guter Standort für verschiedene Pilzarten ist. Das Lächeln einiger brauner Hütchen berührt meine Augen und tiefes Wohlsein bewegt meinen Geist. Zwanzig, ja vielleicht auch dreißig oder noch mehr Birkenpilze begrüßen mich. Sie sind noch jung, was ich an dem festen Fleisch erkenne. Birkenpilze sind gute Speisepilze, die mir schon zu manch leckererm Schmaus verholfen haben. Zwölf Stück schneide ich ab und lege sie in meinen Korb. Nur keinen Raubbau treiben und immer einige Exemplare stehen lassen! Ich weiß zum Beispiel von einigen, früher ergiebigen Pilzgebieten, dass dort wegen übermäßigen Sammelns, heute kein Steinpilz, Birken-, oder Maronenröhrling mehr gefunden wird.  Na ja, keiner ist vielleicht übertrieben, aber eine vernünftige Mahlzeit bekommt man dort nicht mehr zusammen. Deshalb rate ich jedem, der diesem Hobby nachgeht dazu, nicht in Massen sondern in Maßen zu sammeln, damit nicht irgendwann ein Pilzwachstum gänzlich ausbleibt. Pilze spielen eine wichtige Rolle in der Ökologie.  Ein paar Schritte weiter, finde ich einige festfleischige Exemplare des Maronenröhrlings. Dieser ausgezeichnete Speisepilz wird immer noch von einigen unerfahrenen Pilzsammlern, die es ja zuhauf gibt, mit dem Steinpilz verwechselt, obwohl einige Merkmale eine sichere Unterscheidung erlauben. Aus der vom warmen Morgenlicht überfluteten Lichtung, steigen dünne Nebel auf, die ein vielgestaltiges Farbenspiel zeigen. Ich bleibe einen Moment stehen und genieße diesen Anblick, der mich immer wieder aufs Neue fasziniert. 
Drüben, hinter der Lichtung, finde ich einige Scheidenstreiflinge. Der Scheidenstreifling ist ein ziemlich kleiner Pilz, der aber in der Nähe von Birken recht häufig erscheint. Für ein Mischpilzgericht ist er gut geeignet und ich nehme einige Fruchtkörper mit. 
Die Sonne steigt höher und durch die ansteigende Temperatur und die hohe Luftfeuchtigkeit, entwickelt sich das Klima des Waldes zu einer unangenehmen Schwüle. Ich bin ziemlich gut verpackt, trage hohes Schuhwerk und lange Socken, die ich über die Hosenbeine gestülpt habe. Eine Jacke trage ich auch, was einigen Leuten, bei diesen Temperaturen, wohl etwas seltsam vorkommt, aber ich möchte mich möglichst vor den hinterlistigen Angriffen der blutsaugenden Zecken schützen. 
Meine Schritte werden langsamer, nicht weil ich etwa erschöpft bin, sondern weil an einer Stelle des Heidegebietes angekommen bin, wo ich schon oft Steinpilze gefunden habe. Dieser Pilz lockt jedes Jahr viele Pilzsammler in den Wald. Er ist wohl einer der begehrtesten Speisepilze überhaupt und ist auf dem Markt nur für sehr viel Geld zu bekommen. Für manchen Sammler ist er sozusagen der kapitale Hirsch und die Jagd erfolglos, wenn er nicht einige Exemplare dieser  Köstlichkeit gefunden hat. Er ist leicht zu bestimmen und daher wird er auch von Leuten, die sonst kaum etwas von Pilzen verstehen, gesammelt. Der versierte Pilzsammler nimmt natürlich auch gerne Steinpilze mit nach Hause, aber wenn es mal nur wenige  oder gar keine gibt, kennt er noch genügend andere Pilzarten die er sammeln kann. 
An der einzelnen Eiche, die bestimmt schon einige hundert Jahre auf dem Buckel hat und zwischen deren Wurzeln schon Jahrzehnte lang  ein von Moos und Efeu bewachsener Stein liegt, finde ich zwei der begehrten Pilze. Schade, bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass sie voller Maden sitzen. Solche Exemplare lasse ich natürlich stehen. Steinpilze finde ich heute leider keine mehr, aber auf dem Nachhauseweg stolpere ich noch über einen Birkenstamm, der mit Stockschwämmchen übersät ist. Ich freue mich, denn ich liebe den Geschmack dieser kleinen Holzbewohner. Es sind sehr gute Speisepilze und besonders geeignet für Suppen und Saucen. Die Stiele kann man leider nicht verwerten, denn sie sind zäh und faserig. Ich schneide einen großen Teil der Hüte ab, lege sie in meinen Korb und beende hiermit eine erfolgreiche Pilzsuche. 
Die Sonne hat nun bald ihren höchsten Punkt erreicht und es wird Zeit, sich in Dankbarkeit von einem wundervollen Morgen zu verabschieden. 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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