Tilly Boesche-Zacharow

Auf dem Weg nach La Laguna

Im Verlauf einer Gesellschaft, auf der man bereits die verschiedenartigsten Themen angeschnitten hatte, wandte man sich auch an einen älteren Herrn, der in seiner Jugendzeit ein bekannter Playboy gewesen sein sollte. Ihn fragte man, was er nach einem ereignisreichen Leben vom Wesen der so genannten wahrhaftigen Liebe halte, ja, ob er überhaupt von der Existenz einer solchen Empfindung überzeugt sei. Der alte Herr, von dem man Ruhe und Abgeklärtheit zu erwarten schien, engagierte sich sofort zur Verwunderung aller für dieses nur im Übermut aufgegriffene Thema.
   „Natürlich gibt es die wahre Liebe!“ sagte er. „Man kann ihr überall begegnen, auf die seltsamsten Arten, und besonders dann, wenn man überhaupt nicht darauf eingerichtet ist; selbst dann - wenn die Person, die ein solches Gefühl zu erzeugen vermochte, meilenweit von einem entfernt ist.“
   „Sind Sie ihr denn begegnet, Senor?“ fragte man. Der alte Herr nickte. Seine tiefliegenden, grünlich schimmernden Augen sahen wie nach innen, obwohl er den Blicken seiner Zuhörer  nicht auswich.
   „Ich bin ihr begegnet. Es war in meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, weit entfernt vom Gegenstand meiner Passion, inmitten vieler Amouren und Vergnügungen. Ich begegnete ihr auf dem Weg nach La Laguna.“
   Jemandem aus der Zuhörerschaft war der Name ein Begriff. „In La Laguna wurde 1817 die einzige kanarische Universität gegründet.“
   „Richtig, und um mir diese Universitätsstadt anzusehen, beschloss ich während meines Ferienaufenthaltes in Bajamar am vorletzten Tag dort hinzugehen. Ich langweilte mich, denn die hübschen Däninnen, mit denen ich mich zwei Wochen lang großartig amüsierte, waren bereits abgereist. Sie hatten Teneriffa verlassen, und ich fühlte mich einsam. Ich befand mich in meiner Sturm- und Drangperiode. Wahrscheinlich lag es daran, dass mir der Tod  ein geliebtes Mädchen entriss, und ich fürchtete, etwas zu versäumen, wenn ich nicht so viel wie möglich von jedem mir begegnenden weiblichen Wesen mitbekam. Dabei ließen mich – so paradox es klingen mag – alle rein biologischen Exzesse völlig kalt.
   Dennoch, neben diesen profanen Empfindungen gab es noch etwas in mir: die rein platonisch-idealistische Neigung zu einer sehr viel älteren Frau, die mich auf sonderbare Weise faszinierte. Sie erinnerte mich an meine tote Jugendliebe. Ihr Verhalten mir gegenüber jedoch wirkte mütterlich, und sie drang in mich, mein Lotterleben aufzugeben.. Sie  beschwor mich, mir ein nettes, liebenswertes Mädchen zu suchen, um es zu heiraten und eine Familie zu gründen.. Genau diesen Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen. Im Gegenteil, ihre Ruhe und Abgeklärtheit reizten meine Abwehr und Opposition. Es drängte mich vielmehr, sie in ihren Grundfesten zu erschüttern, und ehe ich nach Teneriffa reiste, nahm ich sie in den Arm und bedrängte sie stürmisch. Auf diese Weise hoffte ich, mich von dem Zauber zu befreien, den sie auf mich ausübte. Denn immer, wenn es mir gelungen war, eine Frau zu erobern, interessierte sie mich nicht mehr. Sekundenlang sah es aus, als würde ich auch diesmal siegen.
Aber dann sagte sie: „René, was Sie jetzt vorhaben, ist das – Liebe?“
   Ich war verwirrt. Dann sagte ich ja, natürlich würde ich sie lieben, denn Frauen wollen so etwas hören. Sie lag ganz still in meinen Armen und flüsterte: „Tun Sie, was Sie für richtig halten, René, aber – ich sage Ihnen, Liebe ist etwas anderes!“
   „Liebe ist das Einandersuchen!“ rief ich. Aber nun schob sie mich von sich und sagte sanft: „Sie haben mich nicht gefunden, René. Gehen Sie, fahren Sie nach Teneriffa und – amüsieren Sie sich.“
Selten, eigentlich nie war ich so abgefertigt worden. Nun hatte ich das Gefühl, sie um jeden Preis erringen zu müssen, nicht, um sie zu verlieren, sondern – um sie zu behalten. Mein Stolz war verletzt. Ich, ein junger, gut aussehender Mann, dem die Frauen auf Schritt und Tritt Avancen machten, war abgewiesen worden. Abgewiesen von einer Frau, die um vieles älter war, die eigentlich hätte glücklich sein müssen, dass sie von einem jungen Liebhaber begehrt wurde. Was bildete sie sich ein? Ich fühlte mich hin und her gerissen.
   „Ich glaube, wir werden uns nie wieder sehen, Paola,“ sagte ich.schließlich verbittert, „Wozu auch? Es ist ja sinnlos. Alles ist sinnlos!“ Damit lief ich davon, reiste nach Teneriffa und war sicher,Paola nie mehr zu begegnen. Eigenartigerwesie hatte ich ein ähnliches Gefühl, wie damals, als mein sterbendes Mädchen mir im Arm lag..“
 
    Der alte Herr machte eine Pause. Er schien die Gegenwart  vergessen zu haben. Die Jugend lauschte, aber nun wollte sie auch zum Ende kommen.
   „Was geschah denn nun auf dem Weg nach La Laguna?“ wollte einer wissen. „Sie sagten, dort begegneten Sie der Liebe.“
   „Der wahrhaftigen Liebe“, bekräftigte der alte Herr und vertiefte sich erneut in seine Erzählung.
 
 „Ich spazierte also nach La Laguna und wusste, nach zwei Tagen würde ich das Flugzeug besteigen, um wieder  nach Europa  aufs Festland zurückzukehren, zurück zu meiner Arbeit, aber – nicht zurück zu Paola. Sie existierte nicht mehr für mich, ich dachte gar nicht mehr an sie. Jedenfalls suchte ich, es mir einzureden. Belastet von meinen Gedanken, marschierte ich vor mich hin, als ich plötzlich Schritte hinter mir vernahm. Ich fürchtete, es könne der Biologieprofessor aus meiner Pension sein, der sich mir anzuschließen wünschte. Aber das freute mich nicht sonderlich. Auf eine derartige Begleitung legte ich keinen Wert, deshalb beschleunigte ich meinen Gang. Nach einiger Zeit wandte ich vorsichtig den Blick hinter mich, aber da war niemand auf der Straße, weit und breit nicht. In dem Gefühl, mich geirrt zu haben, ging ich weiter. Doch bereits nach wenigen Sekunden vernahm ich erneut den Klang mir folgender Schritte.
   Wieder sah ich mich um, und nun erblickte ich in beträchtlicher Entfernung – so dass ich eigentlich die Schritte noch gar nicht hätte hören können – eine Gestalt. Es war nicht der Biologieprofessor, es war überhaupt niemand von hier. Es handelte sich um eine Frau, die näher eilte und mir winkte. Plötzlich setzte mir fast der Herzschlag aus. Das war doch – Paola. Ganz deutlich erkannte ich sie, auch ihr Gang war es, der leicht schleppend war durch ein zu spät erkanntes Hüftleiden. Das hatte mich übrigens nie gestört, im Gegenteil, es gehörte zu ihr. Anders hätte sie gar nicht gehen dürfen.
   Eine wilde Genugtuung packte mich. Paola war hergekommen. Sie mochte eingesehen haben, was für ein Glück ihr beschert wurde, weil ich sie begehrte. Eigenartigerweise verhärtete das mein Herz. Jetzt nach ihrer Einsicht wollte ich sie strafen und ihr klar machen, dass es zu spät war. Ich wollte sie nicht mehr.
   Ich tat, .als würde ich sie gar nicht einmal mehr erkennen und beschleunigte erneut den Schritt. Sie folgte mir in zunehmender Eile, was mir nicht entging, denn der Klang ihrer Tritte wurde lauter und bewies,  sie würde mich gleich eingeholt haben. Ich spürte schon fast den Griff nach  meinem Arm. Mit einem Ruck drehte ich mich um, aber – unmittelbar hinter mir befand sich niemand. Dafür folgte  Paola mir noch  immer  in der gleichen Entfernung, in der ich sie zuerst gesehen hatte. Die Grausamkeit in mir verging, ein Gefühl von Glückseligkeit  erfasste mich. Jetzt wollte ich ihr entgegenstürmen, wollte sie in die Arme reissen, sie an mich drücken. Ja, ja, ja, ich wollte mich ändern, wollte Schluß machen mit dem bisherigen Leben, wollte heiraten, aber – sie, nur sie, Paola.
   Sonderbar, im gleichen Moment, in dem ich begann zurückzulaufen, schien sie selber auch rückwärts  zu weichen, sodass es aussah, als befänden wir uns auf einer dahingleitenden Rollstraße. welche die Distanz keinesfalls verringerte. Ich versuchte, ihr entgegen zu stürmen, dennoch kam ich ihr nicht näher, im Gegenteil, die Entfernung zwischen uns vergrößerte sich noch, sie entglitt mir - immer mehr.
   Ich begann zu rennen, weil sie meinem Blickfeld zu entschwinden drohte.
   „Paola“, schrie ich wie von Sinnen, „warte auf mich!“  Ich verfiel in Raserei. Schweissgebadet  kam ich in meiner Pension an. Senora Tromm, die Wirtin, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie mich sah.
   „Madre Maria, was ist geschehen, Don René?“
   „Die Frau“, rief ich atemlos, „die Frau, die hier soeben hereingekommen sein muss, -  wo ist sie?“
   „Durch diese Tür ist in den letzten zwei Stunden keine Menschenseele eingetreten. Sie haben sich gewiss zu lange in der prallen Sonne aufgehalten. Nehmen Sie eine Tablette und legen Sie sich hin.“
   Ich wollte keine Tablette, ich wollte mich nicht hinlegen,  ich wollte Paola. Aber – wo war sie? In den Straßen, die ich in Bajamar absuchte, brütete nur die gleißende Mittagssonne. Paola fand ich nicht. Erschöpft kam ich in die Pension zurück. Plötzlich glaubte ich, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Ich hatte Paola in Wahrheit garnicht gesehen, sie war nur ein Trugbild,  eine Vision gewesen. Auch was das bedeutete, schien sich mir  zu offenbaren. Es musste ihr etwas zugestoßen sein. Sie brauchte mich. Vielleicht war sie sogar tot?!
   Mich hielt es nicht eine Sekunde länger auf Teneriffa. Ich warf all meine Sachen in den Koffer und ließ mich mit der Taxe zum Flughafen bringen. Ein Privatflugzeug flog mich nach Barcelona, dort bekam ich die Verkehrsmaschine nach Hause. 36 Stunden vor meiner ursprünglich geplanten Heimkehr war ich wieder da. Ich wählte Paolas Telefonnummer und war glücklich, ihre Stimme zu hören.
   „Paola, Sie leben!? Oh, Gott im Himmel sei Dank, Sie leben! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
   Sie lachte, es klang glücklich. „Warum überzeugen Sie sich nicht selbst, René? Kommen Sie her. Weshalb sind Sie eigentlich schon da?“
   „Ihretwegen, Paola, nur Ihretwegen. Sie sind mein Leben, ich kann nicht mehr ohne Sie sein.“
    „René“, hörte ich sie flüstern, „ ich habe so sehr an Sie gedacht, vielleicht haben Sie mich dadurch gefunden.“
   Die Rosen, die ich ihr brachte, fielen mir aus den Händen, denn ich streckte sie nach der geliebten Frau aus, riss sie an mich. Diesmal schmiegte sie sich mir zärtlich an die Brust.  ich wusste,  wir würden nun für immer zusammenbleiben."
 
 
   Der alte Herr verstummte. Jemand aus der Zuhörerschaft sagte leicht enttäuscht: „Und diese Erscheinung auf dem Weg nach La Laguna?  Denn um eine solche scheint es sich ja wirklich gehandelt zu haben, was hatte die nun eigentlich zu bedeuten?“
   Der alte Herr erhob sich und griff nach seinem Gehstock..
   „Ich muss heim,  verzeihen Sie, aber meine Frau erwartet mich. Sie kränkelt, und sie braucht mich jetzt.“
   „Gerade jetzt, Senor? Woher wollen Sie das denn so genau wissen?“
   „Die Liebe“, sagte Don René sinnend, „die Liebe ist es, die uns befähigt, einander Botschaften zu senden, mittels Gedanken, mittels Sehnsucht. Damals, als ich die Erscheinung sah, wurde ich durch sie veranlasst, zwei Tage früher als beabsichtigt, heimzukehren. Ich wurde dadurch davor bewahrt, ein Flugzeug zu benutzen, das…“  er atmete tief aus, durch die Erinnerung zutiefst bewegt, „…das unterwegs abstürzte. Das Triebwerk versagte, kein Passagier blieb am Leben.“
   Er sah die  Runde betroffen Schweigender an.
   „Meinen Sie nicht, meine lieben Freunde, dass ich der Liebe begegnete, auf dem Weg nach La Laguna?“
   Die Antwort war bereits in seiner Frage enthalten.
 
 
 
 
 
 
      
      
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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