Marc Schmidt

Endstation

Vor mir vergilbtes Zeitungspapier und eine eingedrückte Dose im Rinnstein. Direkt neben der Pfütze, aus der mir der gelbliche Mond entgegen grinst. Er wird von einem schweren Reifen überfahren.
Mein müder Blick hebt sich und beobachtet das wütend zischende Ungetüm vor mir. Es dampft und erwartet eine Reaktion, also steige ich ein, werfe der Schirmmütze, die mich teilnahmslos ansieht, ein paar Münzen hin. Sie klimpern ein Sesam-öffne-dich.
Das Ungetüm ist besänftigt. All das Blech und Metall nur brüchige Fassade.
Deprimierende Aussicht: schier endlose Sitzreihen mit schäbigen Kissenbezügen, die aussehen wie der ausrangierte Fußboden einer Hippiekommune. Auf dem grausten aller Grautöne als Unterlage zeichnen sich abstoßende Kombinationen des gesamten Farbspektrums in irritierenden psychodelischen Mustern ab, brechen sich in Wirbeln und Strudeln, geraden und sich kreuzenden Linien, undefinierbaren Formen. Es sieht aus als hätte sich ein Farbeimer wahllos darüber ausgekotzt. Mein Auge weint bei der Geschmacklosigkeit dieses Mischmaschs.
Klebrige Patina, die sich über den Tag, vielleicht die letzten Wochen, auf dem Boden angesammelt hat, wirkt magnetisch auf meine Schuhsohlen, erschwert meinen Beinen einen normalen Gang. Bockige Anfahrt bringt mich ins Wanken; bleibe standhaft; kämpfe mich ganz nach hinten - bessere Aussicht...
ins Nichts.
Nur Schwärze, die gelegentlich von vorbeihuschenden Lichterketten abgelöst wird. Die unsichtbare Welt fliegt an mir vorbei und gibt sich so ihrer Bedeutungslosigkeit preis, zerfließt mit zunehmender Geschwindigkeit zu einem verschmierten Grauschleier, der durch die großen verdreckten Fenster meine Augen streift.
Bin das einzig lebendige Wesen in dieser Höllenmaschine, die über Split, Schotter und Asphalt rollt und sich gleichförmig ihren Weg durch die Nacht gräbt, scheinbar ziellos, doch immer wieder stoppend, mit der Hoffnung, weitere Menschen zu verschlingen und sich einzuverleiben.
Es erwischt einen alten Gossenbruder mit Vollbart, bekleidet mit einem versifften alten Armeemantel. Schwankend kommt er mit einer Flasche Wein in der Hand den Gang herunter, wirft mir, ganz so als teilten wir ein unausgesprochenes Geheimnis, ein zahnloses Lausbubenlächeln zu, das jedoch an meiner Hülle aus Gleichgültigkeit abprallt.
Das – oder das abrupte Anfahren – lässt ihn seitlich auf einen der Sitze fallen. Dort lümmelt er sich hin, macht er es sich geradezu unverschämt bequem und beginnt sogleich damit, sich den Rotwein hinter die Binde zu kippen.
Nach ein paar langen Schlucken stimmt er ein melancholisch klingendes Lied an. Ein Lied in einer unverständlichen Sprache, die nur in seinem verschrobenen Gehirn einen Sinn ergibt. Schiefe Töne, wie Schreie gequälter Katzen. Ein Hauch von Schwermut schwebt zu mir nach hinten und würgt mir den Atem ab.
Er beendet das Lied und sieht tiefbetrübt in seine Flasche, die zu einem Spiegel seiner misslichen Lage wird. Beim nächsten Stopp torkelt er hinaus, wirft die leere Flasche gegen eine Wand und wird von der Nacht verschluckt.
Eine blonde Frau soll ihn ablösen; steht mit verschränkten Armen am Bordstein, viel zu dünn bekleidet für dieses Sauwetter. Sie friert.
Als sie einsteigt hör ich ihr Zähne­klappern bis nach hinten. Es ist ein junges Ding, viel zu jung für diese Uhrzeit. So jung und schon gebrochen vom Leben. Ein weiteres Gesicht aus Pappe mit aufgemaltem Lächeln und zwei hohlen Gucklöchern, einen spaltbreit offen gelassen für die nächste Reizaufnahme.
Der geschminkte Mund sind lediglich zwei mit Wachsmalstift aufgetragene übereinanderliegende Striche, die unmerklich die abgestandene Luft einsaugen. Sprechen können sie schon lange nicht mehr. Sie können zwar Laute entlassen, aber Kommunikation scheitert. Als Konsequenz haben sich Misstrauen und Enttäuschung in tiefen Ringen unter ihre matten Augen gegraben. Kein Ausdruck liegt in ihrem Puppengesicht. Sie sieht mich mit ihren wässrigblauen Glasperlenaugen an, doch sieht durch mich hindurch.
Schläfrig kramt sie in ihrer Tasche, holt etwas mit ihren schlanken Fingern hervor. Es ist ein Handspiegel, hinter dem sie sogleich verschwindet. Sie betrachtet sich lange, bis sie ihn kraftlos sinken lässt. Ein trauriger Glanz liegt in ihren Augen. Wo auch immer sie hin will, Freude löst der Gedanke an diesen Ort nicht aus. In dieser Welt sind solche Plätze rar geworden.
Dennoch folgt sie seinem Ruf. Ihre Beine setzen sich mechanisch in Bewegung, warten dann stehend, bis sie wieder hinaus in die Welt können. Die Maschine stoppt abrupt, sodass die Frau ins Wanken gerät. Ein kleiner Schritt zur Stabilisierung, der ihr jedoch die Pappe von ihrem Gesicht herunter rutschen lässt. Ich erhasche einen kurzen Blick auf ihr Innerstes und bin nicht überrascht:
Es ist nichts mehr übrig. Leer...
Schnell streift sie sich die Pappmaske wieder über. Sie blickt mich an. Ein kümmerliches Lächeln stirbt grauenvoll auf ihren Strichlippen und fällt blutend in den Bodensatz. Ich tue so, als hätte ich nichts bemerkt. Damit können wir beide leben. Sie huscht in die Nacht davon wie ein verängstigtes Mäuschen.
Nur noch Schirmmütze und ich.
Ich döse weg, werde hypnotisiert vom ewigträgen Dahingleiten.
Fahren wie auf Schienen aus Nebelschwaden, kein Kontakt mehr mit der verdreckten Erde. Der Motor heult auf, schnurrt wie ein kleines Kätzchen. Flügel brechen aus den Metallverstrebungen an den Seiten. Steigen hinauf in den Himmel, durchbrechen die graue Schicht an Wolken, doch die Sonne ist verschwunden. Oben nur Leere und endloses Vakuum. Gehaltslose Fahrt nach Nirgendwo. Fühle nicht das Geringste. Alles entgleitet mir. Atme jetzt ruhiger, bin bereit niemals wieder zurückzukehren. Der Unendlichkeit so nahe, zerrinnt alles vor meinen geöffneten Augen.
Der Lärm junger Leute holt mich zurück. Sie vertreiben die Ruhe, sind noch quicklebendig und lachen dem Leben frech ins Gesicht. Mutige Jugend.
Ich rutschte tiefer in meinen Sitz und mache mir ihre geringe Aufmerksamkeitsspanne zunutze. In einem Kontinuum sich ständig bewegender und antreibender Körper bleibt Stillstand unbeachtet. Ich bin ein Geist, ein träger alter Geist. Durchsichtig.
Eine Flasche fällt um, aber zerbricht nicht. Sie rollt im Gang auf und ab, blutet sich aus, bis sie inhaltsleer ist wie diese Welt.
Die jungen Leute steigen aus, ziehen lärmend durch die Nacht. Die verschreckte Ruhe kehrt zurück, zunächst vorsichtig herantastend, doch dann raumergreifend, drückend, schwer. Flüchtiger Traum, kleine Episode der Variation. Schwebe abermals im Nichts.
Es heißt wieder Schirmmütze und ich.
Bei jedem Stopp wirft er mir einen fragenden Blick zu. Habe keine Antworten für ihn und rühre mich nicht, klebe fest und rutschte immer weiter hinunter, kauere mich hinter der verschlissenen Kopfstütze zusammen und versuche mich im Unsichtbar werden.
Sein fragender Blick nimmt eine Spur Ärger in sich auf.
Wir halten an. Schirmmütze kommt auf mich zu, müde und ein wenig gereizt, doch auch er ist erschlafft, ausgelaugt vom Trott. Ich sehe es an seinem gebeugten Gang. Brüder im Geiste haben sich nicht viel zu sagen, doch er verkündet mir etwas.
Seine Worte hüpfen aus seinem schmalen Mund, klatschen auf dem klebrigen Boden auf, waten durch die daumendicke Patina hindurch, hangeln sich an meinen Klamotten hinauf, um endlich müde und geschwächt in meiner Ohrmuschel zusammenzu­brechen.
Meine Starre löst sich. Ich füge mich seiner Aufforderung, reibe intuitiv mein Ohr, puhle im Inneren herum, weil es nun wohl verdreckt ist.
Das Monster öffnet seinen Schlund und speit mich aus.
Kalter Wind begrüßt mich, belebt die toten Worte in meinem Ohr wieder. Doch nur noch ein flüsterndes Wort ist am Leben:
»Endstation...«
Es stirbt und die Welt wird wieder taub.
Ich setze mich, beobachte den rissigen Asphalt.
Vor mir vergilbtes Zeitungspapier und eine eingedrückte Dose im Rinnstein. Direkt neben der Pfütze, aus der mir der gelbliche Mond entgegen grinst. Höhnisch. Als wäre gar nichts geschehen.
Ich warte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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