Manfred Bieschke-Behm

Fensterblicke Nr.1 - Ein Lächeln, drei Stühle


Seit nunmehr fünf Jahre wohnt Werner Görmers in der Frankfurter Allee, eine stark frequentierte Straße in Berlin. Das kleine Speiselokal, das gleichzeitig auch ein Café ist, entdeckte Werner Görmers vor circa zwei Jahre. Seitdem kehrt er regelmäßig dienstags Nachmittag hier ein.
Sofern ihm nichts dazwischen kommt, betritt er gegen sechszehn Uhr die Gasstätte und freut sich, dass ihm der Kellner, den Werner Görmers mit seinem Vornamen Klaus anspricht, seinen Stammplatz frei gehalten hat.
Seinen Stammplatz hat Werner Görmers an einem Tisch mit zwei Stühlen. Tisch und Stühle stehen am Fenster mit Blick auf die Straße. Eingerahmt wird das Fenster von einem Querschal zwei rot-weiß karierten Seitenschals. Alle Übergardinen sowie die Tischdecke sind aus dem gleichen Material. Auch die Stuhlkissen sind rot-weiß bezogen. Alles wirkt ein bisschen spießig. Aber genau deshalb hält sich Werner Görmers gerne hier auf. Das Fenster ist durch rot lackierte Sprossen achtgeteilt. Trotz der Sprossenunterbrechungen lässt sich das Geschehen auf der Straße gut beobachten.
Klaus der Kellner fragt, wie jeden Dienstag seinen Stammgast ob es ihm gut geht, ob er ein schönes Wochenende gehabt hat und ob sich an seinem Wunsch nach Kaffee, Kuchen und einen Weinbrand etwas geändert hätte. Werner Görmers bestätigt dem Kellner, dass es ihm gut geht, dass er ein angenehmes Wochenende hatte und das sich nichts an seiner wöchentlichen Bestellung geändert hätte.
 
Zufrieden zieht sich der Kellner zurück, um das Bestellte zu organisieren.
 
Die Zeit des Wartens verbringt Werner Görmers mit dem Beobachten der Geschehnisse vor der Fensterscheibe. Bereits seit vielen Wochen passiert immer das, was auch jetzt gerade wieder passiert. Untergehakt nähern sich eine Frau und ein Mann, beide im gesetzten Alter, der Fensterscheibe. Er trägt die Einkaufstüten.
Sie hat ihre blaue Handtasche über die linke Schulter gelegt und hält den Riemen verkrampft mit der rechten Hand fest. Werner Görmers ist über das sich Woche für Woche wiederholende Ritual amüsiert. Er macht sich Gedanken, ob die beiden verheiratet sind oder nur so zusammenleben. Auch wüsste er gerne, ob sie gemeinsame Kinder haben oder sogar Großeltern sind. Vielleicht wohnen beide gar nicht in Berlin sondern im Umland. Auf alle Fälle scheint gemeinsames Einkaufen Spaß zu machen. Und das Woche für Woche.
Werner Görmers beobachtet das beide lächeln. Das heißt, der Mann scheint so gar zu lachen. Was ist so amüsant, das er lachen muss?, fragt sich Werner Görmers , während der Kellern das Gewünschte serviert. Ob sie sich lustige Begebenheiten erzählen oder sich über alberne Erinnerungen auszutauschen, oder etwa über ihn lachen?
Während Herr Görmers mit einem Auge das Bestellte begutachtet, und mit dem anderen Auge das Paar auf der Straße im Visier hat, kommt er auf seinen Gedanken zurück, dass er es sein könnte, über den sich die Zwei von der Straße amüsierten. Was für eine verrückte Idee denkt er und fühlt sich trotzdem irgendwie peinlich berührt.
Wieso sollten die beide über mich lachen? Wir kennen uns doch gar nicht, denkt Werner Görmers weiter und spürt eine gewisse Peinlichkeit in seinen Gedanken.
 
Gegen seine Gepflogenheit fängt Herr Görmers diesmal nicht mit Kaffee und Kuchen an, sondern glaubt zuerst seinen Weinbrand, trinken zu müssen. Gerade als er das Glas zum Munde führt, bemerkt er, wie der Mann auf der Straße seine Hand wie zum Gruße hebt. Dabei wandelt sich das Lachen in ein sympathisches Lächeln.
Werner Görmers ist irritiert. Er schafft es nicht, seinen Weinbrand zu trinken. Wie gebannt schaut er auf das vermeintlich ihn grüßende Paar. Für einen Moment glaubt er sich zu irren, um gleich danach festzustellen, dass das Lächeln und der Gruß, tatsächlich ihm gelten müssen. Wen denn sonst?
Noch bevor er - wie auch immer geartet - reagieren kann, ist das Paar für ihn nicht mehr sichtbar. Werner Görmers setzt erneut zum Trinken an. Diesmal schafft er es, seinen Weinbrand hinunter zu schlucken.
 
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, erkundigt sich Klaus der Kellner, der besorgt ist, weil sich sein Gast heute anders verhält, als sonst. „Es ist alles in Ordnung – ja alles in Ordnung“, antwortet Werner Görmers etwas geistesabwesend. Er stellt das leere Weinbrandglas ab und beginnt seinen Kuchen zu essen. Ab und zu trinkt er ein Schluck Kaffee, ohne dass dies ihm so richtig bewusst wird. „Ach Klaus, bringe mir doch bitte noch einen Weinbrand“, ruft er dem Kellner zu, nachdem er merkt, dass er seine Tasse Kaffee leer getrunken hat.
Werner Görmers nutzt die Trinkpause zum überlegen. Soll ich das mir so freundlich zugelächelte Paar am nächsten Dienstag zu Kaffee und Kuchen einladen?   
Vorsichtshalber bitte er Klaus für Nächsten Dienstag sechszehn Uhr einen weiteren Stuhl dazu zu stellen. „Erwartest du Besuch?“, erkundigt sich der Kellner verwundert neugierig. „Ja schon möglich“, antwortet Werner Görmers und lächelt dabei so sonderbar. Der Kellner kann mit dem Lächeln nichts anfangen. Er kehrt Werner Görmers den Rücken zu, geht zum Tresen und wundert sich über das sonderbare Verhalten seines Stammgastes. Kopfschüttelnd notiert er in sein Reservierungsbuch: Nächsten Dienstag, sechszehn Uhr drei Stühle für Werner Görmers.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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