Klaus-Peter Behrens

Der Riss zwischen den Welten, Teil 2

 

- 2 -

 

Während sich die Freunde die Geschehnisse durch den Kopf gingen ließen, war der Stadtstreicher Jo ein paar Blocks von Deans Studentenwohnung entfernt damit beschäftigt, es sich im Central Park für die Nacht gemütlich zu machen. Es war zwar noch früh am Abend, aber Jo war müde und wollte nur noch schlafen. Gähnend machte er es sich auf seiner Lieblingsbank bequem. Doch plötzlich vernahm er etwas Seltsames. Ein merkwürdiger Summton erklang. Erstaunt lauschte er. Im Hintergrund erkannte er den entfernten Straßenverkehr, der für eine monotone, aber vertraute Geräuschkulisse sorgte. Doch dieses Geräusch hier war anders. Es erinnerte Jo vage an das Brummen eines Bären. Neugierig und leicht beunruhigt sah er sich um, konnte die Quelle des Geräusches jedoch nicht ausmachen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Vermutlich die Nachwirkungen von dem Fusel, den ich heute gesoffen habe, dachte er mürrisch, legte sich hin und schloß wieder die Augen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Ein plötzlicher, heftiger Windstoß riß ihm seine schmuddelige Decke weg. "Nicht auch noch ein Unwetter", stöhnte er, doch dann fiel ihm ein, daß der Himmel eben noch sternklar gewesen war. Überrascht setzte er sich auf und sah sich nach seiner Decke um. Die lag ein Stück entfernt auf dem Rasen. Wie sie dahin gekommen war, konnte er sich nicht erklären. Kein Windhauch regte sich. Argwöhnisch suchte Jo den Nachthimmel ab, konnte aber nicht den Ansatz einer Wolke entdecken. Irgend etwas stimmte hier nicht. Mit einem unangenehmen Prickeln im Magen stellte er fest, daß der Summton jetzt derart an Intensität zugenommen hatte, daß sogar die Bank zu vibrieren begann. Jo lief es kalt den Rücken hinunter. Dann entdeckte er etwas, was ihn für den Rest seines Lebens zum Antialkoholiker machen sollte. Keine zehn Meter entfernt bildete sich mitten auf dem Kiesweg ein pechschwarzer Wirbel mit einem Durchmesser von gut fünf Metern, der selbst das spärliche Mondlicht zu verschlucken schien. Bevor Jo Gelegenheit hatte, die Flucht zu ergreifen, leuchteten die Ränder des Wirbels in einem blendenden Grün auf, und in der Mitte der undurchdringlichen Schwärze erschien ein Tunnel, der sich unendlich hin zu strecken schien. Jo war wie gelähmt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Doch das erstaunlichste waren die Lebewesen, die plötzlich aus der unheimlichen Öffnung förmlich hinaus katapultiert wurden und nur wenige Meter von den Füßen des verblüfften Jos entfernt auf dem feuchten Rasen landeten.

"Oh Mann, das Zeug hat es wirklich in sich", stöhnte er und betastete entsetzt die halbvolle Flasche billigen Brandy, die sich in seiner linken Manteltasche befand. Im gleichen Moment verschwand der Wirbel mit einem saugenden Geräusch und alles war wieder beim alten, mit Ausnahme der seltsamen Gestalten, die auf dem Rasen lagen.

"Ob Halluzinationen so lange andauern", fragte er sich irritiert. Für seinen Geschmack wirkte das Ganze beängstigend real. Noch hatten die Besucher den verschreckten Jo zu dessen Beruhigung nicht entdeckt, was zum Teil daran lag, daß der Baum, unter der die Bank stand, einen so dunklen Schatten warf, daß diese in der Nacht kaum zu erkennen war. Zum anderen war dies aber sicher auch dadurch begründet, daß das Interesse der seltsamen Besucher für ihre Umgebung sich momentan darauf reduzierte, stöhnende Geräusche von sich zu geben. Jo hoffte inständig, daß das noch eine Weile so bleiben würde und er unauffällig verschwinden könnte, doch dann erhob sich plötzlich eines der Wesen ächzend und was Jo im blassen Licht des Mondes erkennen konnte, veranlaßte ihn dazu, lieber zur Salzsäule zu erstarren. Die Gestalt trug eine furchteinflößende Axt auf dem Rücken und eine weitere, kleinere Axt am Gürtel. Die Kleidung, die überwiegend aus Leder und derben Tuch bestand, war von etwas bedeckt, das Jo entfernt an ein Kettenhemd aus dem Mittelalter erinnerte. Auch ansonsten sah das Wesen nicht gerade vertrauenerweckend aus. Das lange Haar, das von einer kleinen ledernen Kappe bedeckt war, ging nahtlos in einen wilden Vollbart über. Beide waren von einem grau, das an Alteisen erinnerte. Groß war das Wesen nicht. Mit seinen ca. 1.50 Metern erinnerte es eher an ein verkleidetes Kind – immerhin war Halloween – doch irgend etwas sagte Jo, daß er mit dieser Einschätzung völlig daneben lag und es gesünder wäre, sie für sich zu behalten.

"Das war ja schlimmer als ein Flug auf diesem stümperhaften Drachen Falamazar", stöhnte Gart und rückte seine Axt auf dem Rücken zurecht, die dort in einer speziellen Lederhalterung steckte. Ächzend reckte der Zwerg seine Glieder und sah sich um. Anscheinend waren sie in einer unbewohnten Gegend gelandet und das, obwohl Meister Reno vi´Eren ihnen vor dem Dimensionssprung versichert hatte, daß sie keine zwei Kilometern entfernt von Dean und Tom landen würden. Als Peilung hatten die Zauberer der Zitadelle das Einzige verwandt, was es aus ihrer Heimat in dieser Dimension gab – die Kette, die Myrana Dean zur Erinnerung geschenkt hatte, bevor die Freunde überstürzt durch das Tor der Welten ihre Rückreise angetreten hatten. Doch irgend etwas schien schiefgelaufen zu sein. Entweder hatten die Zauberer Mist gebaut und sie waren sonstwo gelandet, oder Dean hatte maßlos übertrieben im Hinblick auf die großen Städte seiner Heimat. Vielleicht machte er ja auch gerade eine Wanderung in der abgelegensten Ecke seiner Welt. Dann hätten sie wirklich ein Problem, ihn zu finden und sie mußten ihn finden. Garts ruheloser Blick fiel auf Myrana, der die Reise durch die Dimension anscheinend schlechter als ihm zu bekommen sein schien. Die Elfin lag auf dem Rücken und war offenkundig bewußtlos. Ihr grünes Haar lag wie ein Heiligenschein um ihren Kopf auf dem Rasen ausgebreitet, wenngleich die restliche Aufmachung diesen Eindruck relativierte. Der Langbogen auf ihrem Rücken und das kurze Schwert an ihrer Seite erweckten eher den Eindruck, als könnte sie etwaige Widersacher schneller heilig sprechen, als das denen lieb wäre. Gart wußte nur zu gut, daß die wenig zart besaitete Waldelfin wenig Skrupel hatte, ihren Worten mit Hilfe ihrer Waffen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Neben ihr lag Baumbatz, der Troll, im Gras, mit dem Gesicht im Dreck und der obligatorischen Keule in der Hand. "Vielleicht besser so", dachte Gart grinsend. "Wenn einer unsere Ankunft mitbekommen und als erstes dieses Gesicht gesehen hätte, wären sie wahrscheinlich sofort zu Freiwild erklärt worden."

In der Tat bot Baumbatz einen Anblick, mit dem man problemlos Eier abschrecken könnte. Mit seinen 2,10 Metern und Gesichtszügen, die wie aus Stein gemeißelt erschienen, erweckte er nicht unbedingt den Eindruck eines sanftmütigen Gesellen. Die wulstigen Lippen unter der breiten Nase, die kleinen stechenden Augen, die buschigen Augenbrauen und das wirre Haar- und Bartgestrüpp taten ihr übriges und bewirkten, daß man geneigt war, die Straßenseite zu wechseln, wenn man Baumbatz begegnete. Doch jetzt vermittelte der sonst so furchteinflößende Troll in seinem Fellumhang, so wie er auf der Wiese lag, eher den Eindruck eines behaarten Baumstammes. Ein Zucken der riesigen Füße, die in Sandalen steckten, verriet Gart, daß der Troll wieder zu sich kam.

Eine Hand legte sich auf die breite Schulter des Zwerges. Sie gehörte zu Meister Reno vi´Eren, dem Zauberer, der einst Tom und Dean auf ihrem gefahrvollen Weg zur Zitadelle der Nebel begleitet und für sie das Dimensionstor für ihre Rückkehr geöffnet hatte. Mit seinem langen Haar, das ihm fast bis auf die Schulter reichte, so daß er ein wenig wie ein alternder Späthippy aussah sowie seiner grauen Kutte, die dem Zustand von Jos betagten Mantel in nichts nachstand und ihm problemlos den Beitritt in den ehrwürdigen Kreis der Stadtstreicher erlaubt hätte, wirkte er nicht gerade wie der Magier, der im Zweikampf den dämonischen Zauberer Dark besiegt und ihn mitsamt seinen Dämonen in die nächste Dimension verbannt hatte. Vielmehr erweckte er eher den Eindruck, als habe er dringend ein paar Dollar für eine Imageberatung nötig.

"Hast du eine Ahnung, wo Wirdnix hin verschwunden ist?", fragte er den Zwerg besorgt. Gart war zwar sicher, daß es dem Meister mehr um die Frage ging, wo sein Zauberbuch hin war, das der arme Gnom immer schleppen mußte und weniger um dessen Wohlergehen, doch er verbiß sich einen entsprechenden Kommentar.

"Vermutlich in Schwierigkeiten", gab er statt dessen trocken zurück. Meister Reno vi´Eren verzog verärgert das Gesicht, auch wenn er Gart insgeheim Recht gab. Wirdnix, sein mehr oder weniger treuer Gehilfe, der trotz der Inanspruchnahme der Zauberer aus der Nebelzitadelle immer noch wie ein Gnom aussah, wenn auch wie eine langgezogene Version mit dem Hang zum Haarausfall, war in der Tat prädestiniert dafür, in Schwierigkeiten zu geraten. Ein lautes Stöhnen ließ ihn herumfahren und lenkte ihn von seiner momentanen Sorge ab. Baumbatz war erwacht. Ächzend setzte er sich auf.

"Alles klar?", fragte Gart knapp. Der Zwerg war kein Freund vieler Worte. Böse Zungen würden behaupten, daß das an seinem Geiz lag, weswegen er sogar an Worten sparte. Doch keiner würde je wagen, das offen auszusprechen, es sei denn, demjenigen läge nicht mehr viel an seiner Zukunft.

Baumbatz gähnte ausgiebig.

"Bin weich gelandet", verkündete er grinsend.

"Mein Zauberbuch", rief Meister Reno vi´Eren glücklich, als er erkannte, worauf der Troll saß. Eine zuckende Hand, die das Buch noch immer hielt und einige dumpfe Flüche ließen keinen Zweifel daran aufkommen, was dem Troll als Landeplatz gedient hatte. Freudestrahlend eilte Meister Reno vi´Eren hinüber und nahm das Buch an sich.

"Ein Glück, daß ihm nichts passiert ist", murmelte er, während Baumbatz langsam aufstand und den armen Wirdnix freigab. Der sah nicht gerade glücklich aus.

"Wie umsichtig, daß du das Zauberbuch vor Schaden bewahrst hast. Gute Pflichtauffassung", bemerkte Gart. Wirdnix funkelte ihn wütend an.

"Warum bist du nicht unterwegs abgebogen und in einer anderen Dimension verschollen?", giftete er zurück.

"Vielleicht haben wir das ja alle getan. Oder sieht das hier etwa nach einem belebten Ort aus?", gab der Zwerg zurück.

"Jedenfalls sind wir nicht die einzigen hier. Dort drüben sitzt jemand!", ertönte plötzlich Myranas schneidende Stimme, die, nachdem sie erwacht war, mit ihrer guten Nachtsicht sogleich den wie erstarrt dasitzenden Jo entdeckte hatte. Sofort glitten Axt, Keule und Schwert mit einer fließenden Bewegung in die Hände ihrer jeweiligen Besitzer, bevor die Truppe auf die einsame Gestalt auf der Parkbank zu schritt. Jo sah sein letztes Stündlein kommen.

"Nie wieder Alkohol", flüsterte er, während ihm das Herz nun endgültig in die Hose rutschte.

 

- 3 -

 

Tom hatte zwischenzeitlich all seine Überredungskunst aufbringen müssen, um Dean dazu zu bewegen, ihn zum Halloweenfest zu begleiten. Rücksichtslos preschte er nun mit seinem altersschwachen Suzuki-Jeep durch den Abendverkehr. "Wir kommen zu spät", knurrte er, während er in einer Weise um die nächste Straßenecke fegte, die jedem aufrechten Stuntman vor Neid hätte erblassen lassen.

"Daß du in so einem Moment an Party denken kannst, erstaunt mich wirklich", bemerkte Dean verblüfft, während er sich krampfhaft an den Autositz klammerte, was auch nötig war; denn Toms Fahrstil war der Begriff "defensives Fahren" völlig fremd. Zugegeben, sie waren spät dran, aber dies rechtfertigte wohl kaum einen neuen Rundenrekord à la Michael Schuhmacher.

"Du kannst doch sowieso nichts unternehmen. Ich verspreche dir, morgen versuche ich die Adresse von diesem Piloten herauszubekommen. Wir können ja mal mit ihm reden. Ich bezweifle aber, daß das viel bringen wird. Was willst du ihm denn erzählen? Daß wir die Welt gut kennen, in der er war und ihn fragen, ob er unsere Freunde getroffen hat? Was glaubst du, wo wir dann landen werden?" Spöttisch sah Tom seinen Freund an und übersah dadurch völlig einen Ford, der gerade aus einer Parklücke ausscherte.

"Vorsicht!" Entsetzt riß Dean die Hände hoch, auch wenn das ihm im Zweifel kaum etwas nützen würde. Doch zum Glück gelang es Tom, wie durch ein Wunder, den Zusammenstoß gerade noch einmal zu vermeiden. Eine Hupfanfare ließ keinen Zweifel daran, was der andere von seinem Fahrstil hielt, doch bei dem Tempo in dem sie unterwegs waren, verklang sie schnell hinter ihnen. "Wenn du so weiter machst, weiß ich genau, wo wir landen werden", stöhnte Dean, der froh war, daß es nur noch zwei Blocks bis zur Universität waren und sich den Angstschweiß von der Stirn wischte.

 

Zur selben Zeit schwitzte auch Jo auf seiner Sitzgelegenheit, allerdings aus anderen Gründen. Die seltsamen Besucher hatten einen engen Halbkreis um seine Bank gebildet und sahen ihn auf eine Weise an, die Jo gar nicht gefallen wollte. Das seltsame Mädchen trat entschlossen vor und sprach ihn an.

"Wer bist du?"

Die Worte klangen hart und machten deutlich, daß die Sprecherin notfalls die passende Antwort auch auf andere Weise herausbekommen konnte. Schräg stehende braune Augen musterten ihn kritisch. Irritiert betrachtete Jo die grünen Haare seines Gegenübers. Wenn ihn sein schwächer werdendes Augenlicht nicht täuschte, hatte er spitze Ohren unter dem dichten Haar aufblitzen sehen.

"Sie hat dich was gefragt!"

Ein kräftiger Stoß des Zwerges brachte Jo wieder in die Gegenwart zurück.

"Jo", flüsterte er, "aber ich glaube, die Frage ist doch wohl eher, wer ihr seid", brachte er stockend hervor, während sein Blick die Klinge von Garts Axt streifte, die im Mondlicht tückisch blitzte.

"Studenten", erklärte Baumbatz trocken, während er seine Keule auf Beschädigungen untersuchte. Zu seiner Freude schien sie die Reise gut überstanden zu haben. Ungläubig sah Jo den Troll an. Er konnte sich ein Vielzahl von Bezeichnungen vorstellen, die auf die furchterregende Erscheinung gepaßt hätten, aber die Einordnung als Student war eindeutig nicht darunter. Allerdings hielt er es für gesünder, dies nicht zu erwähnen.

"Studenten", wiederholte er ungläubig. "Muß ein langes Studium sein", bemerkte er mit einem Blick auf Meister Reno vi´Eren, der in seinem Gewand eher den Eindruck erweckte, als sei er aus einem Kloster für senile Mönche entwichen. Doch Jo sollte schnell feststellen, daß sich hinter dem fragwürdigen Äußeren ein messerscharfer Verstand verbarg.

"In der Tat vermag Euch dies vielleicht seltsam vorkommen, aber wir kommen aus einem fernen Land, in dem sich die Sitten und Gebräuche erheblich von den Euren unterscheiden", erläuterte Meister Reno vi´Eren dem sprachlosen Jo die Lage, der bei der Erinnerung an die Ankunft seines Gegenübers lieber nicht wissen wollte, wo dieses Land lag. Möglicherweise war es ja ein ziemlich heißer Ort, der vorwiegend von Lebewesen mit spitzen Hörner, einem gegabelten Schwanz und Hufen bewohnt wurde. Wer konnte das schon wissen?

"Wir sind auf der Suche nach zwei Freunden von uns, Studenten der hiesigen Universität, einer ist Biologe und heißt Dean, der andere heißt Tom. Ihr wißt nicht zufällig, wo wir sie finden könnten?", fragte Meister Reno vi´Eren den verblüfften Jo. Der starrte ihn stumm an. Die Worte hatte er zwar verstanden, gleichwohl fiel es ihm schwer, sie zu verarbeiten, zumal er erst jetzt Wirdnix erblickte, der von der massigen Statur des Trolls bisher verdeckt gewesen war.

"Biologie", wiederholte er tonlos beim Anblick des Gnoms. "Dann ist da wohl eines eurer Versuchskaninchen. Wohl ein gescheitertes Gen-Experiment?", fragte er entsetzt.

"Nein, Austauschstudent", versetzte Gart nüchtern.

"Ich tausch‘ dir gleich mal was aus", murrte Wirdnix ärgerlich, wurde aber mit einer herrischen Handbewegung Myranas zum Schweigen gebracht.

"Ich glaube, ich habe darüber in der Zeitung gelesen", murmelte Jo, dem es schwer fiel, den Blick von dem beleidigten Gnom abzuwenden. Ein freundschaftlicher Stoß von Baumbatz, der ihn fast von der Bank befördert hätte, half ihm, sich wieder auf die anderen Gefährten zu konzentrieren.

"Hast du eine Ahnung, wo sich unsere Freunde aufhalten könnten?", wiederholte Myrana langsam und betonte jedes einzelne Wort, wobei sie die Hände ungeduldig in die Hüften stemmte. Sicher, sie hatte sich gefreut, daß sich ihr die Gelegenheit geboten hatte, die Freunde und insbesondere Dean wiederzusehen. Doch was sich zuerst als einfacher Trip angehört hatte, schien sich nun zu einem echten Problem zu entwickeln. Nüchtern betrachtet, befanden sie sich in einer anderen Dimension, an einem Ort, den sie nicht kannten, unter Bedingungen, die für sie gefährlich werden könnten und mit einem Auftrag, der sich schwieriger erwies, als sie angenommen hatten. Sie hatten erwartet, in einer kleinen Stadt zu landen, in der die Freunde unschwer aufzufinden wären. Doch nun befanden sie sich anscheinend mitten auf dem Land, fernab der nächsten Siedlung. Das war kein guter Anfang. Entsprechend schlecht gelaunt war die Elfin, die ohnehin nicht für ihre Geduld bekannt war. Zumindest letzteres schien Jo zu erahnen, denn er beeilte sich, der ungehaltenen Myrana zu antworten.

"Vielleicht auf dem Halloweenfest", erklärte er in Erinnerung an die Werbeplakate, die er in den letzten Tagen überall gesehen hatte.

"H a l l o w e e n ?"

Myrana ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Das half ihr aber leider nicht weiter. Etwas hilflos sah sie Meister Reno vi´Eren an. Doch der wußte damit genau so wenig anzufangen. Auf der anderen Seite hielt er es aber nicht für sehr geschickt, ihre Unwissenheit allzu offen kundzutun. Also half nur ein Bluff.

"Stimmt, hatte ich ganz vergessen. Wo findet das Fest noch gleich statt?", fragte er scheinheilig.

"Ein paar Blocks weiter, Roosevelt Drive", kam es zögernd zurück. Als darauf nur verblüfftes Schweigen erfolgte, ergänzte Jo: "Da liegt die Uni!"

"Die Uni?"

Gart sah alles andere als begeistert aus. Irgendwie war er überzeugt davon, daß sie dort auffallen würden, wie ein Golem auf einem Feenball. Aber da mußten sie wohl durch, wenn sie die Freunde wiedersehen wollten. Gart hatte sich das Ganze einfacher vorgestellt. Hätte jemand bei ihm zu Hause in Medara nach ihm gefragt, hätte derjenige eine klare Antwort bekommen. Selbst in Wehrheim wäre das kein allzu großes Problem gewesen aber hier schien die Sache anders auszusehen. Das roch förmlich nach Ärger. Unwillig schüttelte er den Kopf und erinnerte sich an den Grund ihrer Mission. Die Tage, nach dem die Freunde durch das Tor zwischen den Welten verschwunden waren, waren für die Gefährten nicht gerade amüsant gewesen. Die Zauberer der Zitadelle hatten ihnen viele Vorwürfe gemacht und so wie es aussah, schienen sie sogar begründet zu sein. Eine Art mechanischer Drachen war wenige Tage, nach dem sie in dem Kellerraum gewesen waren, plötzlich über der Zitadelle erschienen, und die Nachforschungen der Zauberer hatte ergeben, daß vielerorts vergleichbare Phänomene gesichtet worden waren. Zwei Zauberer waren daher auf dem Rücken Falamazars, des Drachen, gestartet, um sich einen Eindruck von der Lage zu verschaffen, und was sie bei ihrer Rückkehr berichteten, ließ den übrigen Zauberern die restliche gute Laune endgültig abhanden kommen. Offenkundig war es zu einem Durchbruch zwischen den Dimensionen gekommen. Die Zauberer hatten weit entfernt im verbotenen Kontinent etwas ausgemacht, das wie ein gezackter Riß am Firmament aussah. Zu allem Überfluß waren sie auch noch von geflügelten Dämonen angegriffen worden, die die Gefährten aufgrund der Beschreibung als die Dämonen einstuften, die Meister Reno vi´Eren zuvor in ihre Dimension verbannt hatte. Anscheinend hatte die Reise durch das Tor zwischen den Welten oder die zuvor erfolgte Verbannung des dunklen Magiers Dark und seiner Dämonen in seine Dimension so etwas wie eine Lücke oder eine Verbindung zwischen den drei Welten bewirkt und das hatte nach Ansicht der Zauberer katastrophale Auswirkungen. Wenn dieser Riß nicht geheilt werden würde, hätte dies unweigerlich das Ende aller drei Welten zur Folge. Die Risse würden sich mit der Zeit immer weiter ausdehnen, bis die Welten sich gegenseitig den Rang streitig machen und sich vernichten würden. Leider waren die Zauberer absolut ratlos, was sie in dieser Situation unternehmen sollten. Jede Hilfe und jede Idee war daher willkommen. Da die Ursache möglicherweise in der Welt der Freunde angesiedelt war, kam man zu dem Schluß, dort mit den Nachforschungen zu beginnen. So kam es, daß sich die Gefährten, die sich in gewissem Maße für alles verantwortlich fühlten und außerdem die Gelegenheit nutzen wollten, die Freunde wiederzusehen, sich – mit Ausnahme von Wirdnix, den die anderen schlichtweg überstimmt hatten – freiwillig für diese Expedition gemeldet hatten. Doch hier vor Ort kamen Gart nun ernste Bedenken, ob der Entschluß nicht vielleicht etwas voreilig gewesen war.

Meister Reno vi´Eren hatte zwischenzeitlich vorsichtig versucht herauszufinden, wie sie zur Uni gelangen könnten, doch die entgegenkommende Auskunft Joes verwirrte ihn immer mehr.

"Ein Taxi nehmen", wiederholte der Zauberer gerade hilflos.

Jo nickte treuherzig.

"Genau, oder die Underground, das geht auch", versicherte er in der Hoffnung, die seltsame Gesellschaft endlich loszuwerden. Aber ein leises Stimmchen schien ihm zuzuflüstern, daß das sobald nicht der Fall sein würde. In der Tat machten die nächsten Worte des Mädchens etwaige Hoffnungen zunichte.

"Führe uns hin!"

Die Worte klangen nicht gerade nach einer Bitte, und Jo hatte, mit einem Seitenblick auf das Schwert, das inzwischen wieder an der Seite des Mädchens hing, ziemlich konkrete Vorstellungen davon, wie eine Weigerung aufgenommen werden würde. Auf der anderen Seite sahen die Gestalten vor ihm gewaltig nach Ärger mit der Polizei aus, und den wollte Jo auch nicht unbedingt haben. Vorsichtig wandte er ein:

"Mein Terminkalender ist leider voll....", und brach erschrocken ab, als der übrig gebliebene Rest eines Mammutbaums, an dem jemand mit viel Liebe zum Detail bösartig aussehende Eisenspitzen befestigt hatte, plötzlich vor seiner Nase erschien.

"...auf der anderen Seite wollte ich schon immer mal zum Halloween gehen", beeilte sich Jo zu versichern. Baumbatz grinste.

"Geht doch", lobte er fröhlich und entfernte seine Keule wieder aus Joes Gesichtsfeld. Der war verständlicherweise ein wenig blaß geworden und zuckte erschrocken zusammen, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte.

"Schön, daß du uns so bereitwillig helfen willst", sagte Meister Reno vi´Eren und drückte bekräftigend Joes Schulter. Der nickte unglücklich und sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Hätte sich in diesem Moment der merkwürdige Tunnel aufgetan, wäre Jo wahrscheinlich sogar dort hinein gesprungen, nur um dieser bedrohlichen Gesellschaft zu entkommen. Aber der dachte gar nicht daran, wieder aufzutauchen.

"Ja, in dieser einsamen Gegend kann man wirklich Hilfe gebrauchen", seufzte Wirdnix, der sich in dem dunklen Park nicht sehr wohl fühlte. Wer wußte schon, was hier für Ungeheuer zwischen den Bäumen nur darauf warteten, daß sie einen falschen Schritt taten. Da war ein Führer, der mit den Gefahren der Umgebung vertraut war, eine nicht zu unterschätzende Hilfe. Doch der unfreiwillige "Führer" erweckte im Augenblick eher den Eindruck, als ob er selbst dringend Hilfe nötig hätte.

"Einsame Gegend?", krächzte Jo und dachte an die nur wenige hundert Meter entfernten Straßen, die vor Autos geradezu überquollen. Immerhin war heute Halloween, da war jeder unterwegs. Wo waren diese Gestalten bloß entlaufen? Myrana sah ihn schräg an.

"Wie weit ist es bis zur nächsten Siedlung?", wollte sie wissen. Jo brach in schallendes Gelächter aus, worauf er einen Stups von Baumbatz erhielt, der ihn wieder auf den Boden der Tatsachen brachte. Er hatte keinen Zweifel, daß ein stärker Schubs dieses Urviechs ihn schnell ganz wo anders hin befördern könnte.

"Ihr seid hier in New York!", versuchte er ihnen zu erklären, doch als die Gefährten ihn nur ratlos ansahen, fuhr sich Jo verzweifelt durch seine verfilzten Haare.

"Oh man, wo kommt ihr bloß her?", seufzte er schwer.

Wird fortgesetzt......

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Untergang der Allianz: Zukunft und Vergangenheit von Thalia Naran



Science Fiction Roman. Drei Freunde die einen Blick in die Zukunft werfen um dann in der Gegenwart, beschließen die Zukunft zu ändern.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Nebelwald 5 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Halloween von Rüdiger Nazar (Fantasy)
Casandra von Silke Schück (Fantasy)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen