Jana Weiß

Jacky

„Komm, wir gehen spazieren, frische Luft wird dir gut tun“, meine Mutter lächelt sanft. Sie weiß, welche Reaktion dieser Satz bei mir auslöst. Von „Nein, ich habe keine Lust“ bis „Muss das sein?“ ist alles möglich, je nach Tagesform und Laune. Heute bin ich weder in Form noch hab ich irgendeine Laune, ich bin einfach nur müde und kaputt, habe es mir auf dem Sofa meiner Eltern gerade erst gemütlich gemacht und der Winterblues hält mich fest im Griff. Ihm will ich frönen und der lieben Langeweile, die sich seit Wochen in meinem Leben eingenistet hat. Meine Mutter tritt näher heran und streichelt mir zart über die Wange. Sie lächelt noch immer und es fällt mir zusehends schwerer, ein „Nein - ich habe keine Lust“ herauszubringen. Also stehe ich auf und folge ihr. Mein Blick geht zum Fenster, nimmt jede einzelne Schneeflocke dort draußen wahr, das wilde Auf und Ab ihres Tanzes, bevor sie leicht wie eine Feder zu Boden fällt. Mütze, Schal und Wollhandschuhe sind schnell angezogen und gut gerüstet geht es hinaus in eisige Winterkälte, mit tanzenden Schneeflocken vor den Augen, die – sobald sie auf meinem Gesicht auftreffen – dahinschmelzen, als hätten sie nur auf mich gewartet. Jetzt muss auch ich lächeln.

Arm in Arm stapfen wir beide mutig durch tiefen Schnee. Meine Eltern leben auf dem Dorf und nur der Hauptweg ist spärlich beräumt. „Wohin?“, frage ich zögerlich, denn jeder Weg hat ein Ende, dieser hier auch. Noch immer bereitet mir jeder Spaziergang Unbehagen. Die Wege sind mir alle vertraut und erinnern an längst vergangene Zeiten. „Wie wäre es, wenn wir Vögel füttern im Garten? Wir haben dieses Jahr einen langen Winter“. Meine Mutter reißt mich aus trüben Gedanken und erst jetzt bemerke ich, dass sie eine Plastiktüte in der Hand hält, denn diese raschelt bei jedem Schritt. Sie ist in der Tat erstaunlich gut vorbereitet und ich weiß, dass ihr Vorschlag mindestens einen Kilometer Fußmarsch bedeutet. Wandern war noch nie mein Ding und wurde mir bereits in frühester Kindheit vergällt. Jedes Jahr Urlaub im Elbsandsteingebirge, und jedes Jahr Gewaltmärsche für kleine Kinderfüße. Da half auch kein Versprechen der Eltern, gleich da zu sein und das Ziel wäre „um die nächste Ecke“. Dem war regelmäßig nie so und die Enttäuschung darüber grenzenlos. Die nächste Wegbiegung offenbarte nur einen weiteren Marsch, mehr nicht. Für die Schönheit der Natur hatte ich damals kein Auge, allenfalls ein wilder Bach und der Flug einer fetten Hummel konnte meine Begeisterung entfachen. Zunächst jedenfalls, denn die fette Hummel stach mich in den Arm, der dann so anschwoll, es hätte selbst Mister Poppey zur Ehre gereicht. Auch der wilde Bach entpuppte sich zeitnah als tröge dahin fließendes Kleinstgewässer, gerade gut genug, um meine Schmerzen zu lindern und den Arm auf erträglichen Umfang herunterzukühlen. Mit dieser und einigen anderen Erinnerungen im Gepäck fiel es mir später leicht, jede Frage nach einem Spaziergang noch im Keim zu ersticken. „Nein – ich habe keine Lust“ wurde sozusagen mein ständiger „Wegbegleiter“. Erst als stolze Hundebesitzerin viele Jahre später konnte ich Spaziergängen wieder etwas abgewinnen. Man hat schließlich Verantwortung und die beiden Hundis scherten sich nicht darum, ob es nun Sommer oder eisiger Winter war, Regen oder Hitze. Sie müssen sich erleichtern und es ist egal, wie sich der Besitzer hinter der Leine gerade fühlt. Da zählt „keine Lust zu haben“ nichts, rein gar nichts! Und heute? Ich bin längst erwachsen und bei meinen Eltern gibt es momentan keine Hummeln, keine Hunde an der Leine, auch keinen wilden Bach, nur jede Menge Schnee und vermummte Gestalten, die uns hastig entgegenkommen, weil sie nach Hause und damit in die Wärme wollen. Artig sagen wir ihnen guten Tag, denn das gehört sich so.

In der Gartenanlage sind wir schneller angekommen, als gedacht. Dort empfängt uns wohltuende Ruhe. Keine Autos, die an einem vorbeizischen, keine Menschen, die man grüßen müsste. Einsam und verlassen liegen die Grundstücke und auf ein paar Tannen türmen sich riesige Schneehauben. Dazwischen das staksige Geäst der Obstbäume mit schwarzen Krähen darauf, die unser Kommen misstrauisch beäugen. Das Knirschen unserer Stiefel ist das einzige Geräusch in dieser Stille. Ich muss den Arm meiner Mutter aufgeben, denn der Weg ist nicht breit genug, um ihn gemeinsam gehen zu können. So laufe ich hinter ihr und betrachte sie liebevoll. Wie schlank sie ist, und wie kraftvoll ihre Schritte. Meine Mutter ist schön, auch noch in ihrem Alter oder gerade deswegen. Und wieder muss ich lächeln. Unweit bellt ein Hund. Es reißt mich aus meinen Gedanken und verwirrt frage ich danach. „Ein Hund um diese Jahreszeit? Hier?“. Ich bin überrascht. „Das wundert mich auch.“, antwortet meine Mutter und blickt irritiert in die Richtung, aus der das Bellen kommt. „Eigenartig. Dieser Garten wurde längst aufgegeben.“. Aus dem Bellen ist inzwischen ein klägliches Winseln geworden. Jetzt hält mich nichts mehr. „Ich muss nachgucken“, sage ich noch, während ich mich an meiner Mutter vorbei drängele, die soeben ihren eigenen Garten aufschließen will. „Warte, ich komme mit“, ruft sie mir nach. Das höre ich kaum noch, denn ich renne, als ginge es um ein Leben. Hastig suche ich das Gelände ab, mal links, mal rechts und dann sehe ich ihn. Der Hund steht am Tor und erwartet mich bereits, ohne Bellen und ohne Winseln. Er steht einfach dort und fletscht eindrucksvoll die Zähne. „Sei vorsichtig“, warnt meine Mutter und kommt nur zögerlich näher. „Ach was, der verteidigt sein Revier“, will ich beschwichtigen, gehe in die Hocke und verharre minutenlang in dieser Stellung ohne direkten Blickkontakt zu ihm. Die Angst meiner Mutter ist unbegründet. Schon längst habe ich registriert, dass er trotz Zähnefletschen eifrig mit der Rute wedelt und sein Nackenfell keineswegs steil aufgerichtet ist. Für mich eindeutige Zeichen. Er wird mir nichts tun, im Gegenteil! „Hallo mein Guter“, begrüße ich ihn, meine Stimme klingt hoch und vibriert etwas. Er steckt vorsichtig seine Schnauze durch das Tor, welches aus 5 Metallstreben besteht, verrostet und alt. Ich bewege mich nicht und warte ab. Er stupst mich mit der Schnauze an. Und wieder spreche ich mit ihm, immer bemüht, meine Stimme besonders hoch und freundlich klingen zu lassen. Seine Aufregung ist ihm deutlich anzumerken. Erst jetzt blicke ich ihm geradewegs in die Augen. Sie sind trüb und verschleiert. Ich bemerke seine schlohweiße Schnauze und das abgemagerte Hinterteil, erfasse in Sekundenschnelle den Zustand auch des Gartens. Verfallen, verlassen, vermüllt. „Der arme Hund“, entfährt es meiner Mutter, die mit einigem Abstand das Geschehen betrachtet. Langsam ziehe ich einen Handschuh aus, lege meine Hand auf das Knie und warte. Er beschnuppert sie zögerlich, beleckt diese schließlich und legt seine Schnauze darauf. Das Eis ist gebrochen. Vorsichtig kraule ich ihm die Unterseite seiner Schnauze und hinter den Ohren. Er hält ganz still und scheint es zu genießen. „Das könnte ein Jack Russell Mischling sein“, flüstere ich zu meiner Mutter, die nun dicht hinter mir steht. Noch traut sie sich nicht, ihn zu streicheln, aber das Mitleid ist ihr deutlich anzusehen. Der Hund beschnüffelt intensiv meine Jacke, soweit ihm das wegen der Gitterstäbe überhaupt möglich ist. Ich wundere mich ein wenig, denn insbesondere die rechte Seite hat es ihm angetan. Ich greife in meine Tasche und siehe da, zwei vergessene Leckerlis aus längst vergangenen Hunde-Besitzer-Zeiten befördere ich soeben zu Tage. Sie stammen von meinen beiden Lieblingen, Freddy und Charlie, die ich vor einigen Wochen besuchte. Die Erinnerung daran tut weh, denn es bleibt bei Besuchen und ein immer wieder Abschied nehmen müssen. Insbesondere Freddy fehlt mir enorm. Wir waren – wenn es das überhaupt zwischen Mensch und Tier gibt – ein perfektes Team, haben uns blind verstanden und eine ganz enge Bindung. Auch heute noch schicke ich ihm meine Gedanken, spreche heimlich und leise mit ihm. Es bleibt unser Geheimnis und wenn es einer wüsste, sie würden mich für verrückt erklären. Wer spricht schon mit einem Hund? Bekloppt ist das.

In solchen Momenten wie heute wünsche ich mir Freddy sehnsüchtig herbei. Wenn er jetzt hier wäre, würde er meine Aufgabe übernehmen und mit dem Hund dort hinterm Metallzaun kommunizieren, ihn trösten und ganz sicher genauso fühlen wie ich. Mir wird ganz eng in der Brust, der Schmerz frisst mich auf. „Gib ihm endlich die Leckerlis, Jani“, sagt meine Mutter und tippt mir auf die Schulter. Ich zucke zusammen und finde mich in der Realität wieder. Stimmt, sie hat Recht. Die zwei Leckerlis auf meinem Handteller – zögerlich durch das Gitter gestreckt - verschlingt mein Gegenüber gierig. Sein Blick fordert mich auf: Mehr! Doch ich habe nichts weiter bei mir. Dort hinten steht eine halb verfallene Laube, es raucht aus dem Schornstein. „Es scheint jemand da zu sein“, meine Mutter schaut ebenfalls erstaunt in vorgegebene Richtung. Keine Ahnung, warum uns der Rauch da hinten geradezu beruhigte. Das schlechte Gewissen ist vorerst besänftigt. „Lass uns gehen, die Kälte ist kaum auszuhalten“, sagt meine Mutter und wendet sich ab. Ich streichle den Hund noch einmal ausgiebig und verspreche ihm, wiederzukommen. Er hat verstanden und läuft langsam den vereisten Weg zur Laube zurück, ohne sich umzudrehen.

„Du kannst nicht immer die ganze Welt retten“, tröstet mich meine Mutter, und ich weiß, sie hat Recht. Doch mein kämpferischer Geist rumort bereits und ich nehme mir felsenfest vor, wiederzukommen, nach dem Rechten zu schauen, notfalls einzugreifen. Wut ist mein ständiger Begleiter, das ganze Leben lang, auch heute. Sie wärmt mich von innen und der Winter hat seinen Schrecken verloren. Noch immer tanzen wilde Schneeflocken vor unseren Augen, segeln durch die Lüfte und schmelzen auf heißen Gesichtern.
Nein - Ich werde nicht die ganze Welt retten, aber einen kleinen Teil davon!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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