Peter Biastoch

Plötzliche Erinnerung



Aus nächster Nähe (Flashback)
 
Wir schrieben den 29.09.2005 und ich musste mich einfach, gleich am selbigen Morgen hinsetzen, um  das zu Papier zu bringen, was ich in den vergangenen zwei Stunden erlebt hatte.
 
Es begann eigentlich ganz normal. Ich setzte mich, wie an jeden anderen Morgen in mein Auto, nachdem ich die abbonierten Tageszeitungen für meine Zustelltour eingeladen hatte. Es war kurz nach vier Uhr in der Frühe, stockdunkel und regnerisch. Nach meinem allmorgendlichen, kurzen Gebet legte ich den Gang ein und fuhr los.
Ich merkte nach einiger Zeit, dass es wieder ein Tag werden würde, an dem ich in meinen Gedanken versinken konnte, während das Zustellen der Zeitung rein mechanisch abläuft. Das wurde mir bewusst, weil der bedingte Reflex, das Radio beim Losfahren einzuschalten, ausgeblieben war. Es waren aber keine negativen Gefühle in meinen Gedanken zu spüren, die ich mit Musik unter der Oberfläche halten müsste. So ließ ich das Radio also bewusst aus.
Auf meinen Weg ins Zustellgebiet gingen mit verschiedene, belanglose Dinge durch den Kopf. Später dachte ich an eine Brieffreundin, auf deren Brief ich an diesem Tag antworten wollte. Sie hatte mir die seltsame Frage gestellt: „Hast du im Krieg auch schlimme Erfahrungen gemacht?“
Ich und im Krieg? Für wie alt hält die mich denn? Das war doch lange vor meiner Zeit! Dann sprangen meine Gedanken zu einem alten Glaubensbruder und dessen posttraumatische Kriegserinnerungen. Doch plötzlich stand mir ein Bild, nein eine Filmsequenz, so deutlich vor Augen, dass ich selbst scheinbar umbedeutende Einzelheiten wahrnehmen konnte!
Ich war hellwach und bei klarem Bewusstsein und interessanterweise überhaupt nicht erschreckt. Das lag vielleicht daran, dass ich genau wusste, es handelt sich um etwas aus meiner Vergangenheit. Und es passierte letzten Endes nichts wirklich Schreckliches… Außerdem hatte ich schon seit längerem kurze Momente, in denen ich mich undeutlich an gewisse Einzelheiten erinnerte, ohne aber einen konkreten Sinn, oder Zusammenhang darin zu erkennen. Nun sah ich es also deutlich und klar.
Ich erinnerte mich an eine Episode während meiner Armeezeit. Zwischen Frühjahr 76 und Frühjahr 77 war ich Grenzsoldat an der Berliner Mauer. Im nachhinein versuchte ich die Zeit konkreter einzukreisen. Es war sicherlich der Sommer 1976, dass sich unsere Einheit zum Manöver auf einem Truppenübungsplatz aufhielt. In meiner Erinnerung befanden wir uns gerade in einer Übung, bei der die Aufgabe darin bestand, einen versuchten Grenzdurchbruch zu verhindern.
Ich fühlte mich entsetzlich müde. Ein Unteroffizier stellte den „Grenzverletzer“ dar. Er hatte sich seiner Ausrüstung entledigt und versuchte, auf einer Wiese, die imaginäre, mit Wimpeln und Bändern markierte, „Grenzlinie“ zu überwinden.
Ich sehe nun wieder, wie wir, mein Posten und ich, hinter ihm her rennen. „Halt stehen bleiben!“ Stehen bleiben, oder ich schieße!“ Ich gebe den Warnschuss in die Luft ab. Er bleibt stehen. Wir gehen zur Festnahme über.
Was folgt ist dann wieder nicht mehr so konkret in meiner Erinnerung. Doch dann wird das Bild wieder scharf. Der „Grenzverletzer“ liegt auf dem Rücken vor mir. Ich mit der Kalaschnikow im Hüftanschlag. Mein Posten – ein Schatten rechts neben mir. Keine zwei Schritte entfernt. Der Grenzverletzer bewegt sich. Ich fahre ihn an: „Liegenbleiben!“ Und dann – hat er sich nun wirklich mit Absicht bewegt, oder war es nur eine kleine unwillkürliche Bewegung? Ich weiß es nicht, kann es auch nicht mehr nachvollziehen. Ich hörte nur das papp, papp, papp, papp, papp, meiner MPi. Dauerfeuer.
Mir ist natürlich völlig bewusst, dass es „nur“ Platzpatronen sind, doch ich sah nach jedem „papp“ wie die Druckwelle, aus dem Lauf meiner Waffe, auf der Uniformjacke des vor mir Liegenden einschlug…
Als sei es nicht genug gewesen, schickte ich eine zweite Salve hinterher. Wieder das papp, papp, papp – noch drei- oder viermal und wieder diese wellenförmige Bewegungen des Uniformstoffes…
Dann wurde mir das Geschrei, das um mich herum eingesetzt hatte bewusst. Der Kompaniechef, Bernstein tobte. Und auch andere, die sich in der näheren Umgebung befanden, riefen durcheinander. Irgendwie wurde ich dann vom Ort des Geschehens weggeschickt. Ich glaube, ich sollte meine Waffe reinigen. Damit endet dieses Bild, das mir jetzt wieder, wie eingebrannt, im Kopf sitzt!
Das Seltsame ist. Ich habe dabei überhaupt nichts gefühlt. Damals meine ich. Oder kommen die Gefühle, die ich damals empfand in einem weiteren Schub, nachdem ich diese Bilder verarbeitet habe?
Ich weiß auch nicht, wieso ich überhaupt geschossen habe. Hatte man mir etwas in den Kaffee getan? Dafür würde meine innere Teilnahmslosigkeit sprechen und auch, dass ich mich bisher nicht daran erinnern konnte. Interessant ist auch, dass nach diesem Vorfall alles so weiter ging, als wäre überhaupt nichts gewesen.
Wenn man bedenkt, ich hatte auf einen Vorgesetzten geschossen (zwar nur mit Platzpatronen aber dafür zwei Mal Dauerfeuer!) und keinerlei disziplinarischen Maßnahmen sollten die Folge gewesen sein? Ja, der gesamte Vorfall wurde zu keiner Zeit wieder erwähnt. Nicht von den Vorgesetzten und auch nicht von meinen Zimmerkameraden.
Doch andererseits, vielleicht bewerte ich das Heute auch nur als schwerwiegender, wie alle anderen damals? Auf alle Fälle frage ich mich, wie weit ich mir selbst noch trauen kann? Immerhin hat man mich dazu gebracht, auf einen Menschen zu schießen! Mir war damals natürlich völlig bewusst, dass auch Platzpatronen zu schwerwiegenden Verletzungen führen können.
Und auch wenn da nichts im Kaffee war – umso schlimmer – hätte man mich irgendwie dazu gebracht, zu schießen. Wenn man mich aber so weit bringen kann, schafft man es dann nicht auch, dass ich einen wirklichen Mord begehe? Wenn das so ist, frage ich mich: Was habe ich denn vielleicht noch alles verdrängt? Dieser Gedanke war etwas, was mich wirklich erschreckt hat!
Bis dahin hätte ich die Frage: „Hast du schon auf einen Menschen geschossen?“ mit einem klaren, ehrlich überzeugten „Nein!“ beantwortet. Nun muss ich sagen: „Ja – aus nächster Nähe.“
 
Noch ein kleiner Nachsatz. Als ich an diesem Morgen wieder nach Hause kam, fragte mich meine Frau: Bist du sehr nass geworden? Und ich antwortete: „Darauf sage ich doch immer, nein.“ Dann erst merkte ich, wie nass ich wirklich in den zwei Stunden geworden war und ging mich umziehen…
 
Mein Fazit: Ich bin dankbar, dass ich diese Erinnerung wieder habe. Schließlich gehört sie zu meinem Leben. Allerdings bin ich seither wesentlich vorsichtiger bei meinen Entscheidungen, welchen Einflüssen ich mich aussetze!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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