Iris Klinge

NORI im Pflegeheim

Als ich vor 33 Jahren  unter abenteuerlichen Bedingungen Nori aus dem venezolanischen Dschungel nach Deutschland schmuggelte, konnte ich noch nicht ahnen, wie viele Menschen diese Gelbstirnamazone in ihrem langen Leben  glücklich machen sollte.  – Bis auf den heutigen Tag.

Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er bei uns, zusammen mit 3 Graupapageien, die wir aus Afrika mitgebracht hatten. Er war schon immer der Star, denn er liebte Gesellschaft und konnte so täuschend ähnlich das Lachen einer ganzen Gruppe nachahmen, sodass wir nie wussten, mit wem er sich gerade unterhielt. Mit seinen drei grauen Artgenossen hatte er nichts im Sinn, er war ganz auf uns Menschen fixiert.

Es war bei ihm Liebe auf den ersten Blick gewesen, als er sich damals am großen Fluss spontan auf meine Schulter setzte und nicht mehr von mir weichen wollte. Alle anderen Papageien, die auf einem hohen Baum  nah am Ufer lebten und abends  auf den Dorfplatz flogen, wo sie sich um die Reste der Fischmahlzeiten balgten, die ihnen die Bewohner hingeworfen hatten, lebten in fester Partnerschaft.  Es waren zweiundzwanzig  Paare, nur einer war allein geblieben, vielleicht weil er noch so jung war.    - Die Nummer dreiundzwanzig  erhielt von mir  später den Namen „ Nori vom Orinoco“.

Anders  wir Menschen bleiben die Amazonen ihrem einmal gewählten Partner ein Leben lang treu. Dies erklärt auch die Tatsache, dass Nori nie von uns weg flog und auch keinen Käfig brauchte. Oft durfte er  im Garten frei  herumfliegen. – Die  drei Grauen dagegen büxten aus, wenn wir sie draußen herum laufen ließen. Die Afrikaner hatten ihnen die Federn eines Flügels gestutzt, damit sie nicht mehr weg fliegen konnten   - eine sehr brutale Methode, die leider dort unten gang und gäbe ist  - und so verschwanden sie einfach zu Fuß. Einmal mussten wir sie eine Nacht lang suchen, aber morgens machten sie sich wieder durch Pfeifen bemerkbar, weil sie Hunger hatten.

Die Tatsache, dass er im Orinoco Gebiet von den Einheimischen nur weiches Futter zu fressen bekam, hat Nori das Leben gerettet, denn er weigerte sich,  die viel zu harten Körner zu fressen, mit denen in Deutschland die Papageien gefüttert werden. Diese falsche Ernährung ist mit ein Grund, warum diese empfindlichen Vögel in Europa früher sterben als in ihrer natürlichen Umgebung, wo sie  vorwiegend das weiche Fleisch von den Palmölnüssen abnagen.

Nori stand ein turbulentes Leben bevor. Nachdem sich unsere Familie aufgelöst hatte, wurde er in die Obhut einer älteren Frau aus der Nachbarschaft gegeben. Sie liebte ihn über alle Maßen;  er wurde ihr  Lebenspartner nach dem Tod ihres Mannes, und das ungleiche Paar lebte  lange Jahre glücklich in ihrem kleinen Haus mit Garten, bis sie 94 Jahre alt war.

Papageien haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Wenn ein Mitglied unserer Familie Nori besuchen kam, so kannte er bereits am Geräusch des anfahrenden Autos, dass er jetzt einen von uns  sehen würde, und er fing an, lauthals vor Freude zu kreischen.

Er hatte sich daran gewöhnt, morgens mit am Tisch zu sitzen und mit der alten Dame zu frühstücken. Am liebsten mochte er hartgekochtes Ei oder ein Stück Brot mit Butter und Käse. Die übrige Zeit begnügte er sich mit Obst und Gemüse. Auf diese Weise wurde sein Magen nie mit harten Körnern gequält, und er überlebte alle anderen Papageien, die leider nicht so großes Glück hatten, sich an weiches Futter angepasst zu haben.

Es war mir immer ein riesiges Vergnügen, den großen Vogel wohlgesittet  vor seinem Teller sitzen zu sehen. Ich glaube, er fühlte sich wie ein Mensch und ahmte uns in allem nach.  Manchmal gab es auch einen Hühnerknochen, den er elegant in seiner Kralle hielt und mit Wohlgenuss abnagte.

Auch dem Alkohol war er nicht abgeneigt. Ab und zu bekam er einen Schluck Whisky, der ihn kurz danach torkeln und singen ließ.

So vergingen die Jahre, und die alte Dame erfreute sich bester Gesundheit zusammen mit ihrem Lebensgefährten.

Als ihre Kinder sie an ihrem 94. Geburtstag besuchten, meinten sie, es sei Zeit, die Mutter in einem Pflegeheim unter zu bringen. Sie war einverstanden unter der Bedingung, dass Nori mit kommen durfte. Schließlich wurde ein passendes Heim gefunden, und der Auszug aus dem kleinen Fachwerkhaus fand statt.

Da sie ihren Haushalt nicht mehr selbst versorgen musste, kam bei ihr schnell die Freude am Leben zurück.  Nori  war von Anfang an DIE Attraktion  und  Mittelpunkt für alle im Heim. So konnte sie sofort Kontakte knüpfen und allen von seiner abenteuerliche Entführung aus dem Urwald und seiner Irrfahrt durch Deutschland erzählen.

Mein Sohn, der inzwischen auch eine eigene Familie gegründet hat, wartet nun darauf, dass Nori eines Tages wieder zurück kommt in den Schoß seiner „Ursprungsfamilie“. Er hofft nicht auf den Tod der alten Dame und will Nori ihr auch nicht weg nehmen, doch wenn sie ihn nicht mehr bei sich behalten kann, kehrt er wieder zurück  - so eine Art "Recycling"  - denn sein außerordentliches Gedächtnis sagt ihm, wohin er wirklich gehört. Er hat uns nie vergessen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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"Schmetterlinge im Kopf und Bauch" ist mein holpriger lyrischer Erstversuch. Mit Sicherheit merkt man, dass es keine Lektorin gab, wie übrigens auch bei den anderen beiden Büchern nicht. Ungeordnet sind viele Gedichte, Gedankenansätze, Kurzgeschichten chaotisch vermengt veröffentlicht worden. Ich würde heute selbstkritisch sagen, ein Poet im Aufbruch. Im Selbstverlag gedruckt lagern noch einige Exemplare bei mir. Oft schau in ein wenig schmunzelnd in dieses Buch. Welche Lust am Schreiben von spontanen Gedanken ist zu spüren. Ich würde sagen, ein Chaot lässt grüßen.

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