Manfred Bieschke-Behm

Der schwarze Schwan

 

Schwäne
lassen glauben
das Märchen lebbar,
und Geschichten Wahrheit werden.
Sehnsuchtsgefühl.
 
Immer wenn sich Sterne am Himmel zeigen, aber besonders bei Vollmond ergeben sich auf dem flachen Wasser des Sees unbeschreiblich schöne Spiegelungen, die Mensch und Tier erfreuen. Schafft ein leichter Wind das Schilf, und die sonst spiegelblanke Wasseroberfläche in Schwingungen zu versetzen, glaubt der Betrachter einem Konzert beizuwohnen, bei dem sich die Melodien nur im Kopf abspielen. Manchmal schieben sich Wolken vor Mond und Sterne. Dann ist es für Sekunden, Minuten oder länger absolut dunkel und alles was passiert, bleibt dem Auge verborgen. Was in den späten Abendstunden nicht zu beobachten ist, sind die weißen Schwäne, die sich diesen See zu ihrer Heimat auserkoren haben. Aber auch die längste Nacht vergeht. Ein neuer Tag bricht an und alles Leben kehrt zurück.
Auch heute ziehen die weißen Schwäne gemächlich nebeneinander, gelegentlich auch hintereinander schwimmend ihre Bahnen. Aufmerksam beobachten sie alles, was um sie herum passiert. Damit den Schwänen nichts entgeht, werden sie nicht müde, ihre langen Schwanenhälse in die Höhe zu strecken und ihre Köpfe hin und her zu bewegen. Vom Schwimmen und Beobachten erschöpft lassen sich die Schwäne treiben und nehmen dabei auch gerne ihre Schlafstellung ein. Dafür legen sie ihre Hälse zur Seite uns stecken ihre Köpfe unter einem ihre majestätischen Flügel. Die Schwäne fühlen sich in dieser Haltung sicher. Der See ist ihr Revier und es besteht kein Zweifel, dass dieser Zustand anhält.
Der Beobachter gewinnt den Eindruck, dass die Schwäne in Eintracht leben. Doch dem ist nicht immer so. Gelegentlich brechen Eitelkeiten und ein übersteigerter Stolz einzelner Schwäne durch.  Ein jeder Schwan möchte der Schönste unter ihresgleichen sein. Und weil sich die Schwäne nur unwesentlich voneinander unterscheiden, ist es schwer, sich von der Konkurrenz abzuheben.
 Wie an jedem Tag schwimmen die Schwäne auch heute längst des Schilfgürtels. Dabei versuchen sie junge Wasserpflanzen vom Wassergrund herauszuholen, oder Wasserinsekten und kleine Fische aufzuspüren, die sie anschließend als wohltuende Nahrung verzehren. Der Letzte der Schwanenkolone war gerade dabei seinen Hals in das Schilf hinein zu stecken, als es verdutzt innehält.
Der weiße Schwan glaubt, seinen Augen nicht zu trauen. Was er entdeckt, ist ein Schwan, der anders aussieht als er, und all die andern Schwäne, die er kennt. Der entdeckte schwarz gefiederter Schwan, versucht erschrocken rückwärts zu fliehen. Der weiße Schwan ist gleichfalls erschrocken und paddelt zunächst rückwärts, anschließend so schnell es geht vorwärts, um in die Nähe seiner Mitbewohner zu kommen, die sich bereits dem gegenüberliegenden Ufer nähern. In seiner Aufgeregtheit haben sich seine Flügel aufgestellt. Fast jede einzelne Feder ist erkennbar. Die anderen Schwäne sind bei seinem Anblick verunsichert und wollten wissen, was der Grund für seine Erregung ist. Überhastet berichtet er über seine Begegnung mit dem schwarzen Schwan. Das nicht zu überhörende Geschnatter seiner Zuhörer ist ein deutliches Signal für Aufgeregtheit und Besorgnis nunmehr unter allen Schwänen. Noch nie, darüber sind sich die Schwäne einig, wurde auf diesem See ein schwarzer Schwan gesichtet. Eigentlich wusste keiner der Schwäne, dass es überhaupt schwarze Schwäne gibt. Was hat das zu bedeuten?, fragen sich die Schwäne. Geht etwa eine Gefahr von dem schwarzen Schwan aus? Müssen wir uns schützen? Müssen wir Angst um unsere Jungen haben? Mit all diesen und noch anderen Fragen beschäftigen sich die Schwäne und finden keine Antworten. Allgemeine Angst machte sich breit. Mit der sonst herrschenden Ruhe ist es vorbei. Einerseits beratschlagen die Schwäne, was zu tun sei, und andererseits ist die Neugierde groß. Deshalb beschließen sie gemeinsam zu der Stelle zu schwimmen, wo der schwarze Schwan gesichtet wurde.
So sehr sie sich auch mühen, der schwarze Schwan ist nicht ausfindig zu machen. Die ersten misstrauischen Stimmen werden laut. „Wahrscheinlich gibt es gar keinen schwarzen Schwan hier auf dem See.“ „Aller nur Einbildung“. „Wichtigtuerei“. Der weiße Schwan, der den schwarzen Schwan entdeckt hatte, fühlt sich merklich unwohl. Er kann nicht beweisen, dass er den schwarzen Schwan gesehen hat, und doch weiß er, dass er nicht geträumt oder gelogen hat. Beleidigt zieht der sich ungerecht behandelt fühlende weiße Schwan zurück. Er muss erleben, dass alle anderen Schwäne sich über ihn lustig machen.
 Für ihn war klar, dass er den schwarzen Schwan ausfindig machen muss. Er will und muss seinen Artgenossen den Beweis erbringen, dass er eine Begegnung mit einem schwarzen Schwan hatte. Allein schwimmt der weiße Schwan zur anderen Seite des Sees. Und tatsächlich, da ist er, der schwarze Schwan. Er sitzt zusammengekauert im Schilf und bei genauer Betrachtung lässt sich erkennen, dass er weint. Der weiße Schwan überlegt, ob er den so anders aussehenden Schwan ansprechen oder doch lieber in Ruhe lassen soll. Er entscheidet sich für das Ansprechen. Mit „Hallo du da“, versucht der weiße Schwan mit seinem Gegenüber in Kontakt zu kommen. Was er erreicht ist, dass der schwarze Schwan sich zu tiefst erschreckt, und versucht fluchtartig nach hinten weg zu driften. Mit: „Bleib doch hier. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts“, versucht der weiße Schwan besänftigend auf den Verängstigten einzureden. Dem schwarzen Schwan gelingt es nicht, seine starre Haltung aufzubrechen. Nur mit Mühe ist er fähig den weiteren Fragen zu folgen: „Wo kommst du her? Warum hast du nicht wie ich ein weißes Federkleid? Haben deine Eltern auch schwarze Federn oder nur du?“ Der schwarze Schwan hebt seinen Kopf etwas an und schaut dem weißen Schwan ganz tief in dessen Augen. Dabei passiert etwas Wundersames. Der schwarze Schwan sieht in den Augen des weißen Schwanes sein eigenes Spiegelbild. Sogleich glaubt der schwarze Schwan, dass er ein Teil der Schwanenfamilie sein muss und das, obwohl er schwarze Federn besitzt. Die anfängliche Angst ist verschwunden. Nun ist er in der Lage sich mit dem weißen Schwan zu unterhalten. Dabei stellen beide Schwäne fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben. Einzig unterscheiden sie sich in der Farbe ihrer Federn. „Ich würde so gerne auch ein weißes Federkleid besitzen“, klagte der schwarze Schwan und fährt fort, „dann würde ich nicht so auffallen und mich weniger ausgegrenzt fühlen. Ich schäme mich für mein Äußeres, für mein anders sein!“ „Aber, aber“, protestiert der weiße Schwan, „du siehst doch wunderschön aus. Du bist etwas Besonderes. Um mich von meinen Brüdern und Schwestern abzuheben, würde ich gerne anders aussehen. – Komm wir schwimmen hinüber zu den anderen. Ich möchte dich als meinen neuen Freund vorstellen“. Zögernd folgt der Schwarze dem weißen Schwan. Endlich erreichen sie das andere Ufer. Sie sehen in viele verblüffte Schwanenaugen.
 „Seht wen ich euch mitgebracht habe“, tönt der weiße Schwan. „Sieht er nicht wunderschön aus mit seinem glänzenden schwarzen Federkleid? Ich habe ihm meine Freundschaft angeboten und ich hoffe, dass auch ihr freundschaftlich mit ihm umgeht.“ Die angesprochenen Schwäne hören aufmerksam zu. Gleichzeitig betrachten sie argwöhnisch den Fremdling. Anschließend schwimmen sie neugierig um den schwarzen Schwan herum. Sie wollen sich irgendwie vergewissern, ob sein Federkleid wirklich vollständig aus schwarzen Federn besteht und ob er ansonsten genauso ein Schwan ist wie sie. Nach eingehender Prüfung stellen die Schwäne fest das der anders aussehende Schwan ihrer Art entspricht. Sie beschließen einstimmig, den schwarzen Schwan in ihre Mitte als ihresgleichen aufzunehmen. Der schwarze Schwan bedankt sich, indem er mit jedem der weißen Schwäne Blickkontakt aufnimmt. 
Und wieder passiert das, was ihm bei der ersten Begegnung mit dem weißen Schwan passiert ist. Er erkennt sein Spiegelbild in den Augen der weißen Schwäne. Nun hat er den Beweis, dass er dazugehört und gleichzeitig eine neue Heimat gefunden hat.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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