Simon Edelbauer

Herbstschatten

„Ein Blitz zuckte grollend über den schwarzen Nachthimmel und durchleuchtet Augenblicklich meinen kleinen Schlafraum, als ich unwillkürlich aus dem Schlaf hochfuhr und angestrengt in die Nacht lauschte. Das Herz hämmerte mir heftig gegen die Rippen und meine Nerven waren wie elektrisiert vor Angst. Panisch versuchte ich mich zu orientierten und irgendetwas in der beklemmenden Dunkelheit auszumachen. Tatsächlich wusste ich im ersten Moment nicht was mich so schlagartig geweckt hatte, doch nach einigen Momenten der Klarheit fand mein Verstand zurück in die Realität. Mein Atem stockte, als ich das Geräusch wieder hörte. Ein unheimliches Knarren, über mir, auf dem Dachboden. Beinahe so, als würde jemand über den alten Holzboden schleichen. Vielleicht war es das Gewitter, das gerade über die rauen Felder Schottlands herzog? Ein Fensterflügel, der ihm brausenden Herbstwind auf und zu schwang? 
Ängstlich lauschte ich in die Stille, die vom Pfeifen des Windes und vom Trommeln des Regen untermalt war. Die Schatten des Unwetters tanzten über die nachtblauen Wände und vollführten ihr unheimliches Ballett. Angestrengt versuchte ich meinen Atem ganz flach zu halten und keinen Mucks zu machen. Der Wind schien draußen stärker geworden zu sein und rüttelte mit tosender Wut an den hölzernen Fensterrahmen, sodass die dünnen Glasscheiben in ihren Fassungen erzitterten. Immer noch horchte ich mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Aber das einzige, das ich hören konnte, war das angstgetriebene Rasseln meines eigenen Atems und das ungemütliche Sturmtreiben über den Dächern Edinburghs.
Für eine kurze Zeit lang blieb ich ruhig in meinem Bett liegen, die warme Daunendecke bis zum Kinn hochgezogen, und versuchte irgendein weiteres Geräusch über mir auf dem Dachboden auszumachen. Nichts, außer dem peitschen der Äste und dem Pfeifen des Windes an den undichten Fensterdichtungen war zu hören.
Augenblicklich wurde mir die Kehle trocken. Da war es schon wieder. Dieses Mal eher wie ein Poltern. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Wer, um Himmelswillen, sollte sich in diesen alten Gemäuern in einer stürmischen Nacht wie dieser auf dem Dachboden herumtreiben? Wieder jagte ein Blitz durch die Finsternis und warf schauderhafte Schatten an meine Zimmerwände. Vielleicht war es wirklich nur das Gewitter. Der Wind, der an Fenster und Türen rüttelte. Zögerlich schälte ich mich aus meiner Bettdecke, schlüpfte in die braunen Pantoffeln, die zu den Füßen meines Bettes standen und stellte mich für kurze Zeit an das klirrende Fenster. Die vereinzelten Bäume neben den Gehsteigen tanzten schauderhaft zur heulenden Musik des Windes und ab und an wirbelten Regentropfen wie geisterhafte Gestalten durch die Straßen der Stadt. Sonst sah ich nichts als einen ewig grauen Regenschleier. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten, wie mir die Kälte und die unheimliche Stimmung der Nacht unter mein weißes Nachthemd krochen. Aber ich zitterte nicht vor Kälte sondern vor Aufregung. Ich nahm die kleine Petroleumlampe von meinem Nachtkästchen und steckte ein Zündholz an. Die Flamme erzitterte in der Kälte der Nacht als ich sie an die Lampe hielt, um den Docht zu entflammen. Leise schlich ich mich aus meiner kleinen Wohnung, vorbei an den farblosen Bildern meiner Verwandten, die mich jedes Mal wieder wie geisterhafte Kreaturen von der Wand anstarrten, wenn wieder ein Blitz in seinen lichtblauen Farben über den wolkenbeladenen Himmel zuckte. Knarrend fiel die schwere Eichentür in ihren rostigen Scharnieren hinter mir ins Schloss, als ich den Schlüssel umdrehte und ihn abzog. Mit vorsichtigen Schritten ging ich die langen dunklen Flure entlang, bis ich an der Treppe ankam, die in den Dachboden führt. Die kleine Flamme warf orangenfarbenes Licht an die schlechtverputzten Wände, das jedes Mal zu zittern begann, wenn dieses markerschütternde Donnergrollen durch die dicken Gemäuer hallte. Direkt vor mir wendelte sich die hölzerne Stiege mit ihrem schwarzen schmiedeeisernen Geländer in den Dachboden hinauf. Die alten staubigen Stufen knarrten unter meinem Gewicht, als ich mich zögerlich nach oben bewegte. Einerseits war meine Neugierde kaum zu bändigen, aber andererseits hielt mich die Angst zurück. Eine mörderische Angst, die mir bis in die Knochen kroch. Die Tür in den Dachboden stand sperrangelweit offen. Also musste tatsächlich jemand hier gewesen sein. Ich konnte es genau sehen. An einigen Stellen war der Staub auf den knorrigen Bodendielen von den nackten Füßen eines Menschen verwischt worden. Mit ängstlich starren Augen ließ ich meinen Blick über den Dachboden wandern. Tatsächlich war ich in all den Jahren in denen ich hier schon wohnte, nie hier oben gewesen. Der penetrante Geruch nach Staub und modrigem Holz stieg mir in die Nase. An der unverputzten Giebelwand hinter mir konnte ich im schwachen Licht der Lampe ein paar alte Kleiderschränke ausmachen, deren Türen mit schönen Schnitzereien verziert waren. Irgendwie unheimlich, dachte ich als der frostige Wind der durch das alte Gebälk zog eine der Schranktüren wie von Geisterhand quietschend öffnete und ein paar mit Spitzen bestickte Kleider zum Vorschein kamen. An den schrägen Dachbalken lehnte altes Gerümpel. Kinderspielzeug aus längst vergangenen Tagen lag über den ganzen Boden verstreut und direkt neben mir wippte ein buntbemaltes hölzernes Schaukelpferd im kalten Hauch des Windes. Unbehagen machte sich in mir breit und ich spürte wie sich meine Glieder dagegen sträubten weiter zu gehen. Einen Moment lang versuchte ich die Dunkelheit zu lauschen, ob noch immer dieses seltsame Poltern zu hören war. Nichts. Ich schwenkte die Petroleumlampe und sah mich auf der anderen Seite des Dachbodens um. Völlig verstaubte Bücherregale, die seit hunderten von Jahren hier oben zu stehen schienen, waren entlang des Daches platziert. Alte Bücher, die schon seit Ewigkeiten keiner mehr aufgeschlagen hatte, standen neben unheimlich lächelnden Porzelanpuppen in Reih und Glied in den Fächern. Die Glasaugen der Puppen musterten mich neugierig, beinahe so als wollten sie mich vor irgendetwas warnen. Direkt vor mir konnte ich ein kleines Fenster in der zweiten Giebelwand ausmachen, in dem sich die Flamme der Kerze wie flüssiger Bernstein spiegelte. In unmittelbarer Nähe von dem Fenster hing etwas Schwarzes von den Dachbalken herab, das im heulenden Wind langsam baumelte. Plötzlich schlug genau vor dem Fenster ein Blitz ein, und die Szenerie, die er erhellte, sollte sich für immer in mein Hirn einbrennen. Eine Erinnerung, die niemals verblassen, niemals ihre Bedeutung, ihr Grauen verlieren würde: die Leiche Ihres Mannes, die  von den Dachbalken hing und mich mit toten  Augen anstarrte.“
Ich stoppte in meiner Erzählung, als Mrs. Hawkins zu weinen begann. Dicke Tränen rannen an ihren faltigen Wangen hinab. In ihren Augen konnte ich den Zustand tiefster Trauer erkennen, als ich meine Hand vorsichtig auf die ihre legte. Es war nun genau eine Woche her, dass ich ihren Mann auf dem Dachboden gefunden habe, und so hatte ich beschlossen Alison Hawkins aus Höflichkeit einen Besuch abzustatten. Vielleicht war es auch ein kleines Stück Neugierde, die mich heute, zwei Wohnungen unter mir an die Tür klopfen ließ. Die Wohnung war schön eingerichtet, vielleicht ein bisschen altertümlich mit hübsch verzierten dunklen Kommoden und Regalen, auf denen zahlreiche Bilder in protzig vergoldeten Rahmen standen. Die verschiedenen Sepiafarben der Portraitaufnahmen harmonierten beinahe perfekt mit den blumengemusterten Tapeten, die an den bröckelnden Wänden klebten. Der flüchtige Ausdruck der unzähligen Gesichter ließ Schwermut und doch unglaubliche Schönheit erkennen. Ich musterte einen nach dem Anderen und bewunderte die unglaubliche Eleganz dieser Menschen, wie sie mit starrem Blick und einen kaum merklichen Lächeln in die Kamera blickten. Genau wie ich besaß auch Alison Hawkins einen kleinen netten Kamin in ihrer Wohnstube, in dem das knisternde Feuer fröhlich vor sich hin brannte. Mrs. Hawkins hatte mir Weizengrießkuchen und heißen Kräutertee den ich danken angenommen habe. Der Plattenspieler stand auf dem geräumigen Schreibtisch neben dem Kamin und spielte die sanften melancholischen Klänge aus Gustav Mahlers Quartett in A-Moll, während der Rest des Schreibtisches unter einem Haufen gestapelter Papiere unterging.
„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich heute für mich Zeit genommen und vorbeigeschaut haben“, sagte sie schließlich. „Ich habe Alistair bis zuletzt geliebt, müssen Sie wissen.“ Sie stützte ihr schön gealtertes Gesicht in ihre Handflächen und schluchzte, als sie sich schließlich mit einem Taschentuch die Tränen aus ihren Augen wischte. Ihr silbernes Haar hatte sie am Hinterhaupt zu einem perfekten Knoten zusammengebunden und an den Ohren trug sie in Silber gefasste Perlen. „Ich habe keine Ahnung, weshalb er das getan haben könnte.“
„Das Leben geht weiter, Mrs. Hawkins, das versichere ich Ihnen“, versuchte ich die alte Dame zu trösten.
„Denken Sie?“ Alison Hawkins sah mich einen Augenblick fragend an. „Ich sehe keinen Sinn darin sein eigenes Leben frühzeitig abzuschließen“, meinte sie schließlich und schenkte mir Tee nach.
„Es gibt immer einen Grund für das, was in unserem Leben geschieht.“
Mrs. Hawkins stieß einen amüsierten Lacher aus. „Das hört sich nach weisen Worten an.“
Ich versuchte daraufhin zu lächeln und kramte ein zusammengefaltetes Stück Zeitungspapier aus meiner Hosentasche. „Sie müssen wissen, dass ich nicht ganz ohne Grund hier bin“, sagte ich schließlich und faltete den Zeitungsartikel auseinander. „Ich habe diesen Artikel vor einer Woche in der Nähe der Leiche ihres Mannes gefunden. Man sollte diese Beweise, wie sie die Polizei nennt, nicht einstecken, aber ich dachte vielleicht können Sie etwas damit anfangen.“
Alison Hawkins nahm das Stück Papier in ihre Hand, schob sich ihre Brille auf die Nasenspitze und begann laut zu lesen: „Bei Abrissarbeiten an einer Grundschule in einem Randbezirk Edinburghs wurde gestern die Leiche eines Mannes gefunden. Der Leichnam steckte im Schacht eines zu der Schule gehörenden Brunnens. Bisher ist noch unklar ob es sich bei dem Toten um den 1911 verschwundenen Lehrer Gordon Carter handelt. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Die Polizei tappt jedoch noch im Dunklen.“ Alison Hawkins hielt einen Moment inne, nachdem sie den Artikel gelesen hatte. Irgendetwas schien sie daran zu irritieren.
„Stimmt etwas nicht“, fragte ich sie, nachdem die alte Dame mehrere Minuten völlig geistesabwesend auf das Stück Zeitungspapier gestarrt hatte.
„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich wundere mich nur ein wenig. Alistair hat mir diesen Ausschnitt nie gezeigt.“
„Hätte er denn Grund dazu gehabt?
Sie schien einen Moment zu überlegen was sie sagen sollte. „Alistair und ich wir waren beide bis 1920 Lehrer an dieser Schule.“ Sie lachte. „Wir sind im gleichen Jahr an diese Schule gekommen und im gleichen Jahr in Pension gegangen. So haben wir uns kennen gelernt.“
„Nur damit ich Sie jetzt richtig verstehe. Sie wussten also bereits von diesem Vorfall, der 1911 an dieser Schule passierte?“
Sie nickte. „Es war damals ein großer Aufruhr, als Gordon verschwand. Lehrer und Schüler wurden von der Polizei befragt, aber niemand wollte etwas von dem Vorfall gesehen oder gewusst haben.“
„Sie kannten Gordon also gut?“, fragte ich und nippte an dem heißen Tee.
„Mehr oder weniger“, sagte Alison Hawkins während sie sich in die Vergangenheit zurückzuerinnern schien. „Man konnte nichts gegen ihn sagen. Aber er war eben ein Eigenbrötler.“
„Als Gordon verschwand, haben Sie da jemals darüber nachgedacht, was ihm passiert sein könnte?“
„Natürlich habe ich darüber nachgedacht“, antwortete sie in dem ruhigen gelassenen Ton einer alten Frau. „Ich habe sogar sehr viel darüber nachgedacht. Es hat mich kaum mehr losgelassen.“ Mrs. Hawkins schüttelte traurig den Kopf. „Sie müssen wissen, an unserer Schule sind schon zu viele merkwürdige Dinge passiert.“
Als sie meinen fragenden Blick sah, sprach sie unwillkürlich weiter.
„Es war damals schrecklich. Zwei Jahre bevor das mit Gordon war, ich erinnere mich, dass es ein schöner Frühlingstag war, sprang eine seiner Schülerinnen grundlos aus dem Fenster. Niemand hat je erfahren, warum sie das getan hat. Sie hat ihr Geheimnis einfach mit ins Grab genommen. Und ein halbes Jahr darauf hat Alistair im Keller der Schule Fotos junger Mädchen entdeckt. Schändliche Bilder.“ Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Er hätte sie mir nie zeigen sollen.“
„Was war mit diesen Bildern?“
„Alistair ist aus Zufall auf sie gestoßen. Eine der Bodendielen, war nicht fest genug angenagelt und als es darauf stieg kippte sie.“
„Und darunter waren die Fotos versteckt?“
„Ganz genau. Ich erinnere mich noch dass auf die Rückseite eines jeden Fotos der Name des jeweiligen Mädchens geschrieben war. Der Name des Mädchens, das ein halbes Jahr zuvor Selbstmord begangen hatte war auch dabei.“ Einen Moment lang saß sie stillschweigend da und blickte in das glühende Feuer des Kamins. „Es war Gordons Schrift, mit denen die Namen geschrieben waren. Die armen Mädchen.“, sagte sie schließlich.
„Dieser Bastard hat sie also gezwungen, sich vor ihm auszuziehen.“
„Wer weiß was er noch alles mit diesen Mädchen angestellt hat. Für diese Kinder muss es schrecklich gewesen sein.“ Die Falten der Abscheu, vor diesem Gedanken, ließen ihr altes Gesicht plötzlich noch älter aussehen. „Eines dieser Mädchen hatte sich deshalb sogar entschlossen seinem Leben ein Ende zu setzten, und aus dem Fenster zu springen. Was war dieser Mensch nur für eine Ausgeburt des Teufels?“
„Sie haben diesen Vorfall nie der Polizei gemeldet?“
„Natürlich haben wir das, sogar einige Male. Aber ohne Erfolg. Die Fotos waren jedes Mal wie vom Erdboden verschwunden.“
„Und zweiundzwanzig Jahre später findet man Gordon Carters Leiche im Schacht eines Brunnens. Finden Sie es nicht auch seltsam, Mrs. Hawkins, dass sich einen Tag später ihr Mann sein Leben nimmt und ich einen Zeitungsartikel über genau diesen Fall bei ihm finde?“ Ich versuchte ruhig zu bleiben, aber die Aufregung, dieser Geschichte wegen, ließ mich kaum mehr ruhig sitzen. „Könnte es eines dieser Mädchen gewesen sein, das ihn den Brunnen hinuntergestoßen hat?
Aber Alison Hawkins schien mir gar nicht zuzuhören, als ihre Gedanken in die Vergangenheit flogen, in eine Zeit, in der ihr Mann noch lebte. Sie lächelte, als sie zu erzählen begann: „Es ist merkwürdig, aber ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre es erst gestern gewesen. Alistair kam damals später von der Arbeit nachhause als sonst. Ich habe bereits auf ihn gewartet und mich gewundert, dass er nicht kam. Vielleicht auch zu recht, denn als er schließlich so gegen sieben Uhr abends hier plötzlich in der Wohnung stand, war sein Hemd über und über mit Blut befleckt. Ich selbst hatte es mir mit einem Buch vor dem Kamin gemütlich gemacht und war völlig erschrocken, als ich ihn da so stehen sah. In einem völlig zerschlissenen Anzug und blauen Flecken am ganzen Körper. Natürlich habe ich ihn augenblicklich zur Rede gestellt und gefragt, was denn passiert sei. Alistair war völlig aufgebracht und meinte wir sollten es noch einmal versuchen die Polizei zu informieren. Was denn passiert sei, hatte ich gefragt, und Alistair hat nur gemeint, er hätte Gordon im Keller der Schule erwischt wie er eines dieser armen Mädchen fotografiert hat. Er hätte ihm kräftig eins reingewürgt, hatte er damals gemeint. Naja und einen Tag später war es in aller Munde, dass Gordon verschwunden war.“ Sie stoppte in ihrer Erzählung. Das Lächeln war plötzlich aus ihrem Gesicht gewichen. „Ich war damals so stolz auf meinen Mann, dass er diesem perversen Schwein endlich einmal seine Meinung gesagt hatte.“
Die Nacht darauf wurde ich davon wach, dass ich wieder Schritte über mir auf dem Dachboden hörte. Leiser als beim letzten Mal, aber doch klar erkenntlich. Ein paar Sekunden lang lauschte ich vergewissernd in die Dunkelheit. Etwas Schweres kratzte über mir über die Dielen des Dachbodens, so als würde sich jemand einen Stuhl heranziehen. Ich schlug augenblicklich die Bettdecke zurück, zündete die Petroleumlampe an und lief über den Flur bis zur Treppe, die hinauf in den Dachboden führte. Mein Herz schlug mir vor Angst und Aufregung fast bis zum Hals, aber ich wusste, dass ich da jetzt hinauf musste. Der Boden war kalt und ich hatte in aller Eile vergessen in meine Pantoffeln zu schlüpfen, also tapste ich auf Zehenspitzen leise die Treppe empor. Der Geruch nach modrigen Möbeln kam mir wieder entgegen, als ich oben angelangt war. Flüchtig ließ ich meinen Blick durch die beängstigende Finsternis des Dachbodens gleiten. Aber ich konnte nirgends jemanden ausmachen. Also hielt ich mir die Lampe vor die Brust und folgte dem tanzenden Schein der Flamme. Totenstille herrschte um mich herum. Nicht einmal ein Windhauch war zu hören, geschweige dem zu spüren. Während ich den Dachstuhl entlang ging, wagte es nicht zur Seite zu sehen, obwohl ich aus den Augenwinkeln wahr nahm, wie mich totenstarre Puppenköpfe aus der Dunkelheit anblickten. Plötzlich hielt ich abrupt inne, als ich eine schwarze Gestalt im fahlen Licht meiner Lampe auf einem Stuhl sitzen sah. Ich brauchte keinen Schritt näher zu gehen, um diese Person zu erkennen. Alison Hawkins trug ihr langes Haar heute Nacht offen, so dass es ihr wie ein silberner Schleier über die Schultern fiel. Leise schluchzend starrte sie auf irgendetwas, das sie in den Händen hielt. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie mich nicht zu bemerken schien.
„Mrs. Hawkins“, sagte ich in die Stille und erschrak selbst, als sie sich schlagartig zu mir umdrehte. Ihr Gesicht war alt und verschrumpelt und kam mehr dem einer Furie gleich, als der Mrs. Hawkins, die ich bisher zu glauben kannte. Mit leblosen Augen starrte sie mir ins Gesicht.
„Was wollen sie hier?“, fragte sie mich mit beschlagener und doch irgendwie bedrohlicher Stimme. „Es ist schon weit nach Mitternacht.“
„Ich habe ihre Schritte über mir knarren hören und so fragte ich mich, wer sich wohl nachts hier auf dem Dachboden herumtreibt.“ Als sie nicht reagierte wagte ich es ein paar Schritte näher zu kommen. Sachte stellte ich die Petroleumlampe auf den Boden und hockte mich neben sie.
„Was haben sie hier?“, fragte ich.
„Fotos. Es sind nur Fotos.“, sagte sie völlig gelassen und blätterte langsam den Stapel Bilder durch, den sie in ihren Händen hielt. „Wollen Sie sie auch sehen?“
Sie streckte mir den Stapel Fotos entgegen und wies mich darauf hin, mir das erste genau anzusehen. Beinahe hätte ich sie fallen lassen, als ich sah, was darauf abgebildet war. Es waren die schwarzweißen Aufnahmen nackter Mädchen, die völlig unschuldig und beschämt in die Kamera blickten. „Wissen Sie wer das ist?“, fragte sie mich und deutete auf das erste Bild. „Das ist Lynn. Sie war damals sechs und völlig neu in Gordon Carters Klasse.“ Alison Hawkins begann plötzlich zu zittern, als sie die Tränen überkamen. „Dieses Schwein hat unsere Tochter fotografiert. Er hat sie einfach mit in den Keller genommen und sie gezwungen sich auszuziehen“ Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen.
„Woher haben Sie diese Bilder?“
Sie sah mich wieder mit diesem völlig geistesabwesenden Blick an. „Ich habe die Fotos an dem Tag nach Gordons verschwinden aus dem Keller geholt. Hätte die Polizei sie gefunden, dann wären sie auf Lynns Bilder gestoßen und hätten Alistair oder mich verdächtigt. Als Alistair  damals mit diesem blutbefleckten Hemd nachhause kam, da ahnte ich schon, dass er es war, der Gordon Carters Leiche in den Brunnen geworfen hat. Also habe ich die Bilder einfach beseitigt.“ Sie sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es die normalste Tatsache auf dieser Welt.
Zwei Tage später, als Alistair Hawkins begraben wurde standen nicht viele Menschen an seinem Grab. Es war ein kalter nebeliger Herbsttag, an dem sich die letzten bunten Blätter dieses Jahres auf die moosbewachsenen Gräber zur letzten Ruhe senkten. Die Leute, die gekommen waren, waren eingehüllt in dicke Mäntel und Schals, um sich vor der Kälte zu schützten. Alison Hawkins stand direkt neben mir. In ihren Händen hielt sie einen kleinen Strauß Blumen, den sie in ihrer Trauer so fest umklammerte, dass ihre Knöchel weiß hervor traten. Als der Pfarrer zu seiner Predigt ansetzte und von der Vergebung der Sünden sprach, fragte ich mich unwillkürlich, ob es die für Alistair Hawkins wirklich gab? Ob er wirklich reinen Herzens von dieser Erde ging, oder ob er ein Geheimnis mit in sein Grab nahm?
„Asche zu Asche, Staub zu Staub“, verkündete der Pfarrer und Schloss seine Bibel. Ich nahm die Rose aus meiner Manteltasche, warf sie in das Grab und ließ den Friedhof hinter mir.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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