Diethelm Reiner Kaminski

Fair Trade

 
Es klingelt an der Haustür. Nanu? So spät? Der Postbote ist schon vorbei, und ein Paket erwarte ich nicht, auch keinen Besuch, und die Nachbarn sind verreist. Meine Neugier siegt. Ich gehe die Treppe hinunter, um zu öffnen. Den automatischen Türöffner betätige ich schon lange nicht mehr, wo man so viel von Betrügern in der Zeitung liest. Man kann ja nie wissen.
Hoffentlich nicht wieder einer von diesen aufdringlichen Spendensammlern.
Weihnachten wirft ja mittlerweile schon im Oktober seinen Schatten voraus.
Ich öffne die Tür einen Spaltbreit. Ein alter zerknitterter Mann steht draußen. Ungepflegt und unrasiert. Klamotten wie aus dem Kleidercontainer gefischt. Eine Spendenbüchse hält er mir nicht vor die Nase, dafür zwei schäbige Aldi-Tüten.
Ich blicke ihn fragend an.
„Bio-Äpfel aus dem eigenen Garten“, sagt er schüchtern. „Sehr billig. Im Laden müssten sie doppelt so viel für Bio zahlen.“
„Und was sollen die kosten?“
„Nur ein Euro das Kilo. Nehmen Sie alle vier Kilo, dann hab ich für heute alle verkauft.“
Ich überlege kurz. Dann sage ich, um den Kerl loszuwerden. „Nee, vier Kilo sind mir zu viel. Wann soll ich die alle essen. Geben Sie mir zwei.“ Der Mann hält mir eine der beiden Tüten entgegen. Kann sein, dass mal ein Wurm drin ist, das macht aber nichts, daran erkennt man schließlich Bio.“
Ich drücke ihm zwei Euro in die Hand, und der Mann schlurft davon.
Drinnen schaue ich mir die Äpfel genauer an.
Eindeutig Bio: Die Äpfel sind nicht nur wurmstichig und schmutzig, sie haben auch jede Menge Druckstellen und Flecke. Ein klarer Fall von Fallobst. Das hat der Gauner wohl gerade aus dem Rinnstein aufgelesen. So schäbige Äpfel sind mir schon lange nicht mehr unter die Augen gekommen. Immerhin muss ich anerkennen, dass der alte Mann Fair Trade dem Betteln vorgezogen hat.
Ich wasche die Äpfel gründlich, schäle einen, probiere ihn und … bin angenehm überrascht.
In einen so aromatischen, knackigen, saftigen, wunderbar süßsauren Apfel habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gebissen.
Nicht so ein geschmacksneutraler, wachsglänzender Einheitsapfel zu überhöhten Preisen
vom Discounter. Die ideale Apfelsorte für Apfelkuchen. Den werde ich gleich nächsten Sonntag backen, mit Zimt und Vanilleeis, und meine Familie damit überraschen, die mir einen so gelungenen Kuchen nicht zutraut.
Insgeheim leiste ich dem Opa, dieser armen Socke, schon vorab Abbitte.
Da habe ich plötzlich eine Vision.
Alle Garten- und Apfelbaumbesitzer in unserer Stadt laden, statt ihre Äpfel an den Bäumen oder auf dem Rasen verkommen zu lassen, Bedürftige und Obdachlose ein, sie zu ernten und zu verkaufen.
Doch schnell ist die Vision der Ernüchterung gewichen. Weihnachten ist noch zu fern,
als dass es die Herzen erweichen könnte, und im Dezember ist das Fallobst schon verfault.
Ich würde ja gerne den Anfang machen, aber wir haben keine Apfelbäume in unserem Garten.
 

20.10.2013

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